Der Revisor - Am Burgtheater Wien kleidet Alvis Hermanis Gogols Komödie in surreale Verfalls-Szenen
Im Reich der Riesenhühner
von Kai Krösche
Wien, 4. September 2015. Rumms, zack, klickklick: Die Köchinnen rühren, schlagen, klopfen im Takt hinter der Theke, die den Blick auf die Küche freigibt. Ein Mann nach dem anderen, einer aufgedunsener und ungelenker als der andere, betreten das Gasthaus, um sich in stummer Routine ihr Mittagessen zu holen, lassen sich nieder, stimmen in das Klopfen ein. Zwischen all dem künstlichen Dekor und den Schauspielern: drei echte Riesenhühner, die über die Bühne staksen. Sich mal setzen. Wieder aufstehen. Aus ihren unbeteiligten Vogelaugen von der Rampe ins Publikum glotzen. Minutenlang geht das, bis der glatzköpfige und fettplauzige Bürgermeister dem eingespielten Ritual mit lautem Tablettscheppern ein Ende setzt: Alle herhören! Ein Revisor kommt inkognito in die Stadt! Schluss mit der Niedertracht in den Ämtern – ab sofort wird sich von der besten Seite gezeigt!
Wie Geister durch verlassene Häuser
"Der Revisor" von Nikolaj Gogol, erschienen 1836 und trotz seines subversiven Potentials noch im selben Jahr uraufgeführt, erzählt die Geschichte einer Verwechslung: Eine Kleinstadt gerät in Aufruhr, weil sie befürchtet, ein Staatsdiener aus St. Petersburg könnte die krummen Geschäfte in den Ämtern entdecken und melden. Gericht, Schule, Post- und Bürgermeisteramt: allesamt korrupt oder anderweitig mit Lastern belegt. Der Revisor wird schnell ausfindig gemacht in Gestalt des jungen Herumstreuners Iwan aus St. Petersburg. Der haust gerade zufällig im Städtchen, benimmt sich nicht, zahlt auch keine Rechnungen, nimmt aber nur allzu gern die unverhofften Gefälligkeiten der hysterischen Stadtbevölkerung entgegen. Das Verwechslungsspiel steigert sich ins zunehmend Absurde: Die Amtsträger überhäufen Iwan mit Geld und Gaben, Frau und Tochter des Bürgermeisters geben sogar ihre Körper hin – bis schließlich durch einen Zufall am Ende doch die große Enttäuschung und mit ihr die noch größere Scham stehen.
Regisseur Alvis Hermanis hat das Stück weitgehend ungekürzt in fast fünf Stunden (zwei Pausen inklusive) auf die Burgtheaterbühne gebracht und in eine marthalereske, zeitlos-heruntergekommene Gegenwart versetzt. Hermanis' Bühnenbild, hohe, heruntergekommene Räume aus vergangenen Zeiten, atmen den Verfall der Jahre. Der Zahn der Zeit nagt sichtbar an den fleckigen und vergilbten Mauern und Kacheln, die Toiletten sind ungeputzt, die Spiegel verschmiert. Durch die Gänge hallen gedämpfte Klavierklänge. Aus Belüftungsrohren klappert das Wuseln großer Tiere. Die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Stadt wandeln in mit Kissen ausgestopften, altgewordenen Anzügen und Kleidern umher wie Geister durch verlassene Häuser.
Vom Tunichtgut zum Opportunist
In einer Mischung aus Nervosität und übertriebener Untertänigkeit gibt Michael Maertens den Bürgermeister Anton Antonowitsch Skwosnik-Dmuchanowskij, der bei jeder Gelegenheit seine Nächsten mahnt. Er grinst und buckelt und bewundert diesen so gar nicht staatsmännisch wirkenden Revisor allein für dessen Stand, vergisst dabei Würde und Selbstachtung. Maertens verleiht seiner Figur die aufgekratzte Euphorie eines zwischen Angst und Glück Zerrissenen; in seinem selbstkasteienden Schlussmonolog wird er sich mit der gleichen Zerstörungskraft zum großen Verlierer erklären.
Fabian Krueger legt seinen "Revisor" mit einer geradezu enervierenden Schein-Naivität an. Dieser Iwan schwärmt und haucht seine Sätze mit sanfter Stimme, begreift erst spät sein Glück und versteckt seine Forderungen hinter säuselnden Blicken und Sätzen. Kruegers Iwan ist zeitgleich unbedarfter Tunichtgut wie skrupelloser Opportunist; obwohl ihm die Zuneigung der Stadtbewohner ganz von allein zuteil wird, mag man sie ihm nie wirklich gönnen.
Die spannende Grundkonstellation im stimmungsvollen Setting gerät jedoch unter der ausufernden Regie Hermanis' zur Geduldsprobe. Szenen werden bis zur Unendlichkeit gedehnt, als wären Textkürzungen ein Frevel. Ohnehin nur selten stimmig getimte Witze werden so oft wiederholt, bis sie jedwede Wirkung eingebüßt haben. Genüsslich zelebriert die Regie einen gesamten Akt lang halbgehangenen Toilettenhumor (so lustig ist's dann doch nicht, wenn sich der dritte Beamte auf die zugeschissene Toilette hocken muss, weil ihn der Revisor ebendort zum Platznehmen auffordert). Auf der Bildebene schwankt die Inszenierung zwischen Realismus und Surrealismus, im Spiel zwischen überzogener Groteske und Tragödie. Während Hermanis den männlichen Nebenrollen teils noch die ein oder andere Schattierung zugesteht, müssen Dörte Lyssewski als starrend-jammerndes Tochterblödchen und Maria Happel als neidig-ruhmgeile Bürgermeisterfrau mit allen Kräften gegen unverzeihlich simple Klischees anspielen.
So gehören ausgerechnet jene textlose Stellen zwischen den Akten, in denen sich Klavierklänge mit traumartigen Bildern von überlebensgroßen Ratten- oder Hühnerpuppen inmitten der geisterhaft Verlorenen mischen, zu den starken, weil sie Assoziationen zulassen. Dabei machen sie zeitlich nicht einmal ein Zehntel der Inszenierung aus – und geraten im Wechselspiel mit der unentschiedenen Inszenierung der Geschichte zur bedeutungsschweren Pose.
Der Revisor
von Nikolaj Gogol
Regie und Bühne: Alvis Hermanis, Kostüme: Kristīne Jurjāne, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Michael Maertens, Maria Happel, Dörte Lyssewski, Fabian Krüger, Oliver Stokowski, Hermann Scheidleder, Dirk Nocker, Johann Adam Oest, Brigitta Furgler, Falk Rockstroh, Martin Reinke, Franz J. Csencsits, Dietmar König, Maria Lisa Huber, Liliane Zillner, Thomas Bäuml, Alban Knoll, Josef Manske, Valentin Reischer.
Dauer: 4 Stunden 45 Minuten, zwei Pausen
www.burgtheater.at
"Hermanis verlegt Nikolai Gogols Komödie der Sehnsüchte in den ostalgischen Grind einer abgewickelten Kolchosenkantine", schreibt Uwe Mattheiss in der taz (10.9.2015), lasse sie aber dort als ihr eigenes Ausstellungsstück zurück. "Schickes Ambiente für ein Theater, das die Auseinandersetzung seines Stoffes mit der Gesellschaft, für die es arbeitet, gar nicht erst sucht." Eine erstrangige Besetzung mit Michael Maertens, Maria Happel, Dörte Lyssewski und vielen anderen sei dazu verdammt, auf den Silikonglatzen ihrer Masken viereinhalb Stunden Locken zu drehen, Theater zelebriere hier die Sehnsucht nach der eigenen, verflossenen Bedeutung.
Anspielungen auf die jüngste Krise des Wiener Burgtheaters wie auf die aktuellen russischen Verhältnisse habe sich Alvis Hermanis versagt, berichtet Hubert Spiegel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.9.2015). "Hermanis siedelt das Stück in einer unbestimmten Gegenwartstristesse an." Die Inszenierung stehe in der Tradition einer früheren "Revisor"-Interpretation, "mit der Hermanis 2003 bei den Salzburger Festspielen vom Westen entdeckt und als eine Art osteuropäischer Marthaler gefeiert wurde." Die aktuelle Umsetzung überzeugt den Kritiker. "Das Ensemble ist durchweg glänzend aufgelegt."
"Der Reverenzrahmen für seine Inszenierung ist nicht das System Burgtheater, sondern der real existierende Sozialismus sowjetischer Prägung", so Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (7.9.2015). Eine Tragödie sei aber auch dieser fünfstündige 'Revisor' nicht. "Es gibt jede Menge derbe, witzige Körperkomik, und dass (...) Chlestakow eher nervig als komisch wirkt, war wohl keine Absicht." Und dass die Schlusspointe gestrichen sei, mache Sinn: Ihr Gesicht haben diese Menschen auch ohne Revisor schon verloren.
Einen fantastischen "Revisor" sah (Presse, 6.9.2015). "Alvis Hermanis führt einen Jahrmarkt der Eitelkeiten vor. Das Ensemble besticht mit Witz und Charakter." Die Inszenierung sei bildintensiv, stimmig, stets bestechend gespielt. So lasse sich sogar verschmerzen, dass an diesem ausgedehnten Abend zu viele Pointen bis zum Exzess zelebriert wurden. Dem Ensemble gelinge das Kunststück, die kleineren Laster und Todsünden einer mit Gefälligkeiten geschmierten Gesellschaft in allen Facetten auszustellen, "es ist sich im rechten Augenblick für keine Übertreibung zu schade, um dann blitzartig, im Existenziellen, eine Traurigkeit zu vermitteln, die ans Herz geht".
Dagegen sah Ronald Pohl vom Standard (5.9.2015) ein "erstaunlich langweiliges Unterfangen, aus dem vereinzelte Komödienspitzen herausragen". Eine "postsozialistische Volksausgabe des Gogol-Klassikers", die man als nicht weiter erinnerungswürdig bezeichnen will. Fazit: "Eitles Kunstgewerbe, das den Schneidern und Hühnerdompteuren viel Arbeit abverlangt hat. Und die Erkenntnis, dass es keine Revision gibt, außer derjenigen, der man sich selbst unterzieht.
"Leider aber überdehnt Hermanis nahezu jede Szene und nimmt mancher damit ihre Wirkung", findet Hartmut Krug im Deutschlandfunk (6.9.2015). Bis zur traurigen, träumerischen Schlussszene, in der alle mit dem Bürgermeister vergeblich darauf warten, dass der falsche Revisor zur Hochzeit mit der Bürgermeistertochter kommt, gebe es doch allzu viele Spannungslöcher. "So kann man nicht wirklich begeistert sein von Hermanis Revisor-Inszenierung, die wohl viele Anregungen seiner 2002 erst in Riga herausgekommenen und dann 2003 in Salzburg preisgekrönten ersten Revisor-Inszenierung verdankt."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 13. September 2024 Salzburg: Nuran David Calis wird Schauspieldirektor
- 12. September 2024 Heidelberg: Intendant Holger Schultze hört 2026 auf
- 12. September 2024 Auswahl des "Augenblick mal"-Festivals 2025 in Berlin
- 12. September 2024 Freie Szene Hamburg: Protest-Aktion zur Spielzeiteröffnung
- 12. September 2024 Baden-Baden: Nicola May beendet Intendanz 2026
- 12. September 2024 Berlin: Aufruf der Komischen Oper zu Musikschulen-Problem
- 12. September 2024 Literaturpreis Ruhr für Necati Öziri
- 12. September 2024 Eggenfelden: Dreierteam leitet Theater an der Rott
neueste kommentare >
-
Tod eines Handlungsreisenden, Berlin Realistisch inszeniert
-
Augenblick Mal Kriterienantwort
-
Frau Yamamoto, Zürich Glück
-
Augenblick mal Kriterienfrage
-
Buch Ideologiemaschinen Klarsichtigkeit
-
Tabori-Preis Danke für die Aufklärung
-
Buch Ideologiemaschinen Eine Bitte
-
Tabori-Preis Preisgeld ist Projektgeld
-
Tabori-Preis Produktionsgebundenes Geld?
-
Tabori Preis Mehr Abstand
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
(Anm. der Red.: Die 2003, nicht 2011 in Salzburg gezeigte Arbeit stammt aus dem Jahr 2002. Die Neuinszenierung scheint allerdings tatsächlich Ähnlichkeiten zu dieser älteren Produktion aufzuweisen. Herzlich wb)
Hermanis hats leider vergeigt.
Dieser Betrieb bringt nun das Stück "Der Revisor", ein Stück über eine Kleinstadt voller Mauschelei, schwarzer Kassen, Korruption u.s.w. zur Aufführung, und zeigt dabei mit einem putzig lustigen Speckfinger auf eine 15 Jahre alte Aufführung voller Dixfiguren.
Na ist das nicht eine absolute Bankrotterklärung!!!
Die eigene Wirklichkeit wird aus dem Burgtheater ausgesperrt und man feiert sich als Theater des Jahres.
In aller Ruhe.
Weder Mut noch Verstand, nur Augenwischerei und Museum.
Was hätte Michael Maertens als Hartmann für ein Ereigniss in der Theaterkunst sein können!!
So gesehen, versteht Hermanis sein Handwerk nur allzugut; umgesetzt von grandiosen Schauspielerin, die selbst in der Länge sich bis zum Abgang steigern konnten. Bin froh dies erlebt zu haben.