Das Schweigen nach den Schüssen

von Kai Bremer

Münster, 4. September 2015. "An eye for an eye / And a tooth for a tooth / And anyway I told the truth / And I'm not afraid to die." Immer und immer wieder, sanft und gleichwohl entschieden singt der Chor, der inzwischen nicht mehr auf der Bühne steht, sondern in den ersten beiden Zuschauerreihen sitzt, Nick Caves The Mercy Seat. Auge um Auge, Zahn um Zahn – dieses in seinem Ursprung rechtliche Prinzip wird gerne als grausame Rachsucht diffamiert, ohne zu bedenken, wie sehr die alttestamentliche Forderung dem zuerst Versehrten Genugtuung verheißen kann. Caves Song weiß von diesem archaisch anmutenden Gefühl und er weiß um die Ambivalenz dieser Forderung angesichts deren Überbietung durch das christliche Gebot der Feindesliebe.

Rache oder Vergebung? Diese Frage stellt sich Claire, als sie den vergifteten Tee für den Jungen aufgießt, der ihr durch einen Amok-Lauf zwar nicht das Leben, aber jeden Halt genommen hat. "An eye for an eye / And a tooth for a tooth / And anyway I told the truth / And I'm not afraid to die." Sanft und gleichwohl entschieden gibt Claire dem Jungen den Tee. Der erbricht sich und stirbt – um wiederaufzuerstehen. Ein Untoter. Wieder gießt Claire den Tee auf. Immer und immer wieder. Keine Erlösung, nur Horror, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Erst als Claire die Tasse mit dem vergifteten Tee fallen lässt und auf Rache verzichtet, kann der Junge nicht mehr als Untoter zurückkehren und der Chor verstummen.

Deklination einer Versehrtheit

David Greigs "Die Ereignisse", vor knapp zwei Jahren am Wiener Schauspielhaus erstmals auf Deutsch aufgeführt und im letzten Jahr immerhin mit dem Nestroy-Preis für das beste neue Stück ausgezeichnet, hat das Publikum in Münster begeistert. Greigs Wunsch entsprechend, wird der Chor wechselnd besetzt werden, so dass jeder Abend neu akzentuiert sein wird. Der Chor bei der Premiere (im Kern der Hobby-Chor Alien Riders) hatte offensichtlich viele Freunde mitgebracht, so dass die Begeisterung nicht wirklich überraschte. Doch auch Regisseur Frederik Tidén und Claudia Irro (Bühne und Kostüme) erhielten viel Applaus – und vor allem Regine Andratschke als Claire und Bálint Tóth (als Claires jeweiliger Gesprächspartner).DieEreignisser 560 OliverBerg TheaterMuenster u"And anyway I told the truth": Regine Andratschke, Chor, Bálint Tóth © Oliver Berg

Warum das Stück den Nestroy-Preis bekommen hat, erschließt sich freilich nicht recht. Das liegt nicht an den Schauspielern. Andratschke dekliniert die psychische Versehrtheit der durch den Amoklauf verstörten Claire regelrecht durch. Das vermag sie, indem ihr verschiedene Figuren gegenübergestellt werden, was ihr die Möglichkeit gibt, ganz unterschiedliche Facetten von Claires Innerem zu zeigen. Tóth unterstützt sie dabei, indem er durch leichte Veränderungen in der Körperhaltung oder der Sprache von Figur zu Figur wechselt.

Kein Friedhof der Kuscheltiere

Das liegt auch nicht an der Ausstattung. Zwar muss Tóth als zukünftiger Amokläufer, der so gerne Berserker wäre, eine putzig zurecht gestückelte Maske tragen. Die lässt ihn zwar wie ein Komparse aus "Game of Thrones" oder wie der verlauste Neffe des Großen Cthulhu aussehen. Doch wirklich zu stören vermag die Maske nicht, weil nicht nur das Spiel der beiden Schauspieler überzeugt, sondern auch das Bühnenbild. Irro hat zwei silbern gestrichene Wände aufstellen lassen, die nach hinten aufeinander zulaufen und nur noch einen schmalen Ausgang bieten. An den Wänden befestigt sind unzählige Grablichter, Teddybären, Blumensträuße in Folie und leere Bilderrahmen – kein Friedhof der Kuscheltiere, sondern eine Erinnerung an die Vorplätze von Orten, an denen sich Amokläufe ereignet haben und an denen die Angehörigen und Nahestehenden hilflos versuchen, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen.

Nein, das liegt in erster Linie am Text. Greig hat letztlich ein sehr statisches Stück geschrieben, das trotz netter Ideen wie den Chorwechsel von Aufführung zu Aufführung zunächst auf den Dialog setzt, um ein wenig Einfühlung in Claires Trauma zu versprechen. Tidén, der in Münster schon drei Einakter von Tennessee Williams auf die Bühne gebracht hat, folgt dieser Konzentration auf den Dialog zunächst brav. In der zweiten Hälfte der Inszenierung findet er jedoch immer mehr eine eigene Bühnensprache, wenn er etwa Claire schweigend immer und immer wieder den Tee für den Jungen aufbrühen lässt, um die ganze Ambivalenz der Figur zu zeigen und sie nicht mehr nur darüber reden zu lassen.

 

Die Ereignisse
von David Greig
Deutsch von Brigitte Auer
Regie: Frederik Tidén, Bühne und Kostüme: Claudia Irro, Dramaturgie: Michael Letmathe.
Mit: Regine Andratschke, Bálinth Tóth, ein Chor aus Münster.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-muenster.com

 

Kritikenrundschau

Regisseur Frederik Tidén spitze das Verwirrspiel des Autors konsequent zu, schreibt Harald Suerland in den Westfälischen Nachrichten (7.9.2015). Die eigentliche Stärke von Stück und Inszenierung liege darin, dass der Heldin zwar viele Argumente geliefert werden, "mit denen Claire die schwere Kindheit des Täters oder seine sexuelle und politische Desorientierung erforschen kann, aber sie zeigen zugleich, wie begrenzt solche Informationen sind, um die Ereignisse begreifbar zu machen". Die Irritationen, denen Claire begegnet, seien auch für den Zuhörer schmerzhaft: So distanziere sich ein Rechts-Politiker wortreich vom Attentäter, um sich gleich darauf mit schneidenden Argumenten zum Rassismus zu bekennen. Fazit: "Eine starke Aufführung".

 

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