Presseschau vom 10. September 2015 – Peter Kümmel schreibt in der Zeit über das Zombie-Theater unserer Tage

Der Zombie ist eine todsichere Denkfigur

Der Zombie ist eine todsichere Denkfigur

10. September 2015. Peter Kümmel schreibt in der Zeit einen langen Essay über die Verzombiesierung des Theaters und beobachtet, wie es diesem offenbar immer schwerer falle, "eine Figur der Vergangenheit (oder der Fantasie) mit einem realen Darsteller zu verschmelzen." Wir sähen den Schauspieler, "aber wir glauben nicht mehr, was er spielt." Heute werde immer öfter, "wenn Stücke toter Autoren gespielt werden, augenzwinkernd signalisiert, dass die Figuren dieses Autors Geschöpfe eines Toten und also selbst Tote seien. Beziehungsweise Untote."

Der "typische Darsteller klassischer Rollen" glaube nicht mehr "an die Figur, die er darstellt (...). Kurz: Die Figur selbst spricht nicht zu ihm, wie sollte er sie dann zu uns sprechen lassen können?" Als Zuschauer gewinne man "den Eindruck, dass wir keinen Zugang mehr zu vergangenen Zeiten und Ideenwelten haben, sondern mit uns allein sind. Und dass, umgekehrt, die 'klassischen' Figuren, (...) im Spiel nicht zurückzuholen, sondern nur zu denunzieren sind." Sie taugten oft nur noch "als Handlanger des Regisseurs bei dessen Eingriff am Text". Für den "Botendienst", die "Überlieferung" fühlten sich die Regisseure nicht mehr zuständig. Während man früher deshalb Schauspieler geworden sei, "um sich in andere hineinzuversetzen", habe der "Bühnenkünstler von heute – im neuen Bühnendeutsch: der Performer" das Ziel, sein Publikum dazu zu bringen, "sich in ihn hineinzuversetzen".

Zeit Titel1Was Kümmel "meistens fehlt: Szenen, in denen einer etwas Uraltes frisch verkörpert, ohne dass es bombastisch entgleist oder zu einem letztgültigen Vorgang wird. Dass sich einer beiläufig 'einschreibt' in eine Tradition, statt sie gleich für beendet zu erklären. Das Alltägliche ist aber auf der Bühne offenbar ungeheuer schwer herstellbar." Der oberste Gemeinplatz des heutigen Theaters laute: "Wir sind entweder schon alle Zombies" (Frank Castorf, Sebastian Hartmann, Armin Petras, Martin Kusej, Michael Thalheimer) "oder wir werden von ihnen verfolgt" (von Bankern, Managern, Computerleuten, Kriegern, den Medien, der sozialen Kälte, dem Markt ...) "und kämpfen hoffnungslose Rückzugsgefechte." Doch der Zombie sei "eine billige und todsichere Denkfigur: Da wir das Leid der Welt nicht abwenden, da wir nicht retten und handeln, da wir sogar, ziemlich unbehelligt von fremdem Unglück, unseren Komfort genießen, sind wir selbst Unrührbare, also Untote."

Der Regisseur stelle die "Untoten auf der Bühne" den "potenziellen Untoten im Saal" gegenüber, mit der Geste: "Seht, euer Leben ist ohne Leben. Ihr seid gar nicht wach. Ihr vegetiert!" Diesen Befund stelle die Kunst nicht erst neuerdings aus, aber er werde heutzutage besonders "vorhersehbar" und mit "bestechender technischer Brillanz" illustriert: mit Videofilmen (Castorf, Katie Mitchell), durch vom Band gesprochene Texte (Susanne Kennedy), mit Mikrofonen. Aus all dem entstünden "Konventionen der Blasiertheit und Ermüdung, die kaum noch aus dem deutschen Theater wegzudenken sind" (z.B. indem Dialogpartner sich nicht anschauen, sondern an der Rampe über die Köpfe der Zuschauer hinwegsprechen). Kümmel vermutet, dass hinter diesem "Zombie-Theater" letztlich Angst stecke. Denn die Verheißung der "Zombie-Kultur" liege ja darin, dass man durch den Biss eines Untoten nicht stirbt, sondern selbst einer wird. "Aber sollte das wirklich die letzte Utopie sein, der wir noch folgen können?"

(ape)

 

Das Zombie-Theater, das Vegard Vinge und Ida Müller mit John Gabriel Borkman oder dem 12-Spartenhaus im Prater der Volksbühne veranstaltet haben, bleibt bei Peter Kümmel unerwähnt.

 

Kommentare  
Presseschau Peter Kümmel: Verdacht
Wenn ich am Ende dieser Zusammenfassung den Einwand der Redaktion lese, dass Herr Kümmel Vinge vergessen habe, fange ich an zu stutzen. Klar, hätte man den erwähnen können. Ist aber schon ein paar Jahre her. Ebenso gut hätte aber auch Henkels Borkman in die Liste gepasst. Mir kommt dann der Verdacht, dass die Redaktion bestimmte Personalien pushen will. Dann zweifle ich an der Unabhängigkeit dieser Seite. Der Gedanke beschleicht mich in letzter Zeit immer häufiger. Das schwächt die Seite ungemein.
Presseschau Peter Kümmel: unlautere Propaganda :-)
Lieber Stutzer,

willkommen im Kreis der Verschwörungstheoretiker.
In der Tat, Sie haben völlig Recht, es gibt in der Redaktion eine unheilige Fraktion der Vegard-Vinge-Aficionados. Die kämpft allerdings einen jahrhundertealten Kamopf - in der Redaktion - mit der OskarWerner-HansAlbers-PeterALexander-Fraktion, also einer Gruppe innerhalb der Redaktion, die die Vorgenannten für große Künstler hält.
Weiters existiert eine kleine Brecht-Fraktion, natürlich eine Castorf-Pollesch-Fraktion und tatsächlich auch eine ClausPeymann-Fraktion. Alle diese Gruppen kämpfen PERMANENT um die richtige Linie auf der Seite nachtkritik.de.
Manchmal gelingt es einer Fraktion an unauffälliger Stelle unlautere Propaganda für ihre Helden einzuschmuggeln, wie hier oben geschehen. Dann sinnen die gegnerischen Verbände auf Rache und schaffen sich innert kürzester Zeit Genugtuung. Sie werden es erleben, beobachten sie die Seite nur weiterhin scharf.
Mit herzlichem Gruß
nikolaus merck
Presseschau Peter Kümmel: die wirklichen Zombies
… und ich versuche seit Jahren mit allen Mitteln – lauteren und unlauteren – die Personalie Schleef zu pushen, aber auf die wirklichen Zombies lässt sich ja leider keiner ein …
Presseschau Peter Kümmel: Empfehlung
Man lese auch im texturen#2 Buch der UdK, Fachrichtung Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation zum Thema spielen. Unter anderem mit einer Glosse des Regisseurs Maik Priebe
Presseschau Peter Kümmel: Für eine Theater-Soul-Bewegung
Nebenaspekt des Zombie- und Untoten-Trends ist, dass er vielerorts mit einer beklagenswerten Entmündigung des Schauspielers als denkendes, (mit-) gestaltendes und handelndes Subjekt einhergeht. Das vermeintlich Dargestellte (blutleere, untote Wesen) greift auf die Kunst selber über, auch sie wird blutleer. Man hat es spätestens nach zwei Produktionen gesehen. Das Interesse schwindet. Solche Veranstaltungen werden zu Ritualen eines Insider-Kreises von Theater-Grufties und findet kein Publikum und keine Resonanz mehr. Durch die Abschaffung von Kategorien wie Figur, Konflikt, Haltung, Handlung, Inhalt, Spiel etc. subtrahiert sich das Schauspiel nach meinem Dafürhalten von sich selber. - Wir leben doch in einer komplett dekonstruierten Gegenwart. Das hat sich inzwischen bis in die hintersten Pegida-Winkel herumgesprochen. Wozu das noch abbilden? Ich bin für Aufbau. Für Lösungen. Für neue Konstruktionen, selbst wenn sie eskapistisch sein sollten. Ich bin dafür, die Seele wieder ins Schauspiel zu lassen. Wir brauchen eine Theater-Soul-Bewegung!
Presseschau Peter Kümmel: den Gewinn gönnen
Nee. Soul-Bewegung. Das Theater zieht dann schon mit. Aber gönnen wir dem Herrn Kümmel und seinen Lesern den Gewinn an seinem Text!
Presseschau Peter Kümmel: denkfauler Irrtum
Und alle genannten Regiesseure sehen sich selbstverständlich die jeweils geilsten amerikanischen Serien, voller Konflikte, Figuren, nachvollziehbarer Handlung, Emotion, Witz und manchmal auch wirklich außergewöhnlichen Sichtweisen an.
Nur um dann selber eine Dramaturie des "Alles ist von vornherein verloren" auf die Bühne zu bringen.
Je hoffnungsloser die Weltsicht desto intelligenter ihr Verfechter.
Was ein denkfauler Irrtum, dem die Zauberregielehrlinge der achziger da aufsitzen.
Seht wie furchtbar Grauenhaft alles ist.
Das ist aber blöderweise der gleiche Ansatz den die rechten neoliberalen Kräfte weltweit verfolgen. Alles geht den Bach runter!
Emphatie, Katharsis, Identifikation; bullshit, naiv, Gutmenschentum.
Presseschau Peter Kümmel: automatische Dramaturgie
#7: Ach, das erstaunt mich jetzt total. Besonders bei den Namen, die da genannt und als Personen von Ihnen offenbar gemeint sind - Ich hätte mir immer vorgestellt, dass die gar keine Zeit zum Serien-Schauen haben. Zumal diese Serien ja mit Sicherheit bereits sehr rechnergestützt produziert sind. ich meine da die Dramaturgie sogar besonders. Das hat man, erfuhr ich erst in diesem Jahr, bereits bei Dallas schon gemacht: Das kann ja der Rechner ausspucken, wann wer jetzt besser stirbt in einer Serie oder sich halt irgendeine andere Figur, an die man Empathien gebunden hat, sensationell hervortut, damit eine Karthasis eben knapp, immer nur knapp, das ist sehr wichtig, das wichtigste Gesetz der Serie, verhindert werden kann. Das kann ja unterhaltsam sein, wenn man sich lieber berechnete Konflikte anschauen will und warten, bis der eigene dabei irgendwie mal von der Berechnung getroffen wird. Mich langweilt das tödlich nach spätestens einer vierten Folge und wenn da einer Serie noch viel Shakespeare-Ersatzqualität nachgesagt wird. Irgendwann gibts halt den passenden Regenschirm und die Seriensocke - Und DAS ist nun wieder eine witzige Vorstellung für mich - können Sie vielleicht das ganz genau recherchieren ob diese Regisseure da alle diese Serien schauen? - Ich täte von dieser leidenschaftlich getrieben gerne einmal "Castorf" in Game of Thrones-Socken in "Bayreuth" beim Beifall und Buhen zeigen... Ob der mir das erlaubte? Wo ich doch von Theater eigentlich gar keine Ahnung habe, da wäre der doch vielleicht beleidigt? Wenn ich dann da die falsche Größe wählte?? Sonst habe ich ja viel Hoffnung. Ich wiege sie einfach in Papier. Und da kommt ganz schön was Böses zusammen. Da kann man von Identifikation mit ihr nur abraten!
Presseschau Peter Kümmel: unauffällige Stelle
Herr Merck, ich bin entsetzt! - Wie kann es für Sie eine unauffällige Stelle in Ihrer Erfindung unter Ihrer Führung geben? Die Fraktionen (Taschentuchnässer, Bühnen-Epiker, Gebrauchsanweisungsillustratoren und Stachel-Historiker) und ihre Kampfeslust unbenommen, aber die können Ihnen so auf der Nase rumtanzen??! Da werde ich mir ja überlegen müssen, ob ich Ihnen noch einmal etwas in Textform anvertraue.
Presseschau Peter Kümmel: eine gute Portion Leben
Hat sich eigentlich am Theater jemals etwas Entscheidendes geändert? Die einen machen Theater - weil sie sich dazu berufen fühlen - und die anderen sehen zu - weil sie dazu gerufen werden. Die beruflichen Theatermacher sind unzufrieden mit dem, was sie machen und wünschen sich ständig Veränderungen. Sie könnten den Bettel auch hinschmeissen und etwas völlig anderes anfangen, aber das tun sie nicht. Sie machen weiter Theater und die anderen sehen zu. Und es wird diskutiert. Manchmal die Theatermacher mit den Zuschauern, dann mal ohne die Zuschauer, dann die Zuschauer untereinander - meistens in der Pause - und man wird sich nie einig. Darin steckt doch schon eine gute Portion Leben. Der Zuschauer muss ja nicht wissen, dass der ständige Begleiter zu Theatermacher die Angst ist. Vor allen Dingen die, dass niemand mehr kommt und ihnen bei der Arbeit zuschaut. Und eins bleibt immer, egal wie sich das Theater nennt: Die einen machen Theater und die anderen sehen zu. Eine ewige Interaktion. Das klappt weder mit Zombies auf der Bühne noch im Zuschauerraum. Aber man kann ja mal darüber diskutieren, dafür ist das Theater schließlich da.
Presseschau Peter Kümmel: Oskar Werner ist etwas anderes
Oskar Werner in derselben Fraktion wie Peter Alexander zu sehen, ist wie Visconti und Adriano Celentano in einem Atemzug zu nennen.
Nichts gegen Alexander und Celentano, aber Oskar Werner ist etwas anderes.
Empfehlung " Das Narrenschiff".
Presseschau Peter Kümmel: Profis
ad 11:
Die Trennung zwischen beschwingt machender – aber durchaus hochprofessioneller – Unterhaltungsarbeit (P. Alexander) und nachdenklich machender – hochprofessioneller – Textarbeit (Oskar Werner) ist im Zusammenhang unsinnig. "Seht, euer Leben ist ohne Leben. Ihr seid gar nicht wach. Ihr vegetiert!" Diesen Befund stellt die Kunst laut dem Artikel dem Publikum aus. Und das wollte weder Peter Alexander noch Oskar Werner. Dazu waren beide viel zu sehr Profis! Publikum als vegetierende unwache Masse zu sehen, schafft wohl die immer leerer werdenden Zuschauerräume.
Presseschau Peter Kümmel: wie ist ein Kampf möglich?
Ich habe da einmal eine Frage, mit der mein eigener Kommentar beschämend geschwätzig hinfällig wird: Wie kann, nicht nur in dieser von Nikolaus Merck geleiteten Redaktion, ein jahrhundertealter Kampf ausgefochten werden um Peter Alexander, bb, Castorf und Pollesch oder Claus Peymann? Und dann erst recht mit diesen rechnergestützten Arbeitsmethoden???
Aah, jaah, "Das Narrenschiff", x-fach weiterempfohlen an die junge und jüngste Generation... Die auf dem Weg sind und nirgends ankommen dürfen-

(Anm. Liebe Kommentator*innen, nur kurz zur Klärung der Verhältnisse. nachtkritik.de hat vier Gesellschafter*innen (Merck, Slevogt, Pilz, von Homeyer), von denen Esther Slevogt aktuell die Geschäftsführung innehat. Die Redaktion wird seit 2013 von Anne Peter geleitet. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
Presseschau Peter Kümmel: Aufklärung
Danke für die redaktionelle Aufklärung der nk-Verhältnisse. Für die Arbeit ohnehin.
Presseschau Kümmel: Resignation von Realitätsmüden
Die "Zombie"-Variante von postdramatischem Theater soll die resignierte Antwort der Regisseure auf die Postmoderne sein?
Aber nein! Jeder Theatermacher, der sich an der Gegenwart abarbeitet, findet mehr Legitimation für seine Kunst denn je. Die Digitalisierung macht die Präsenz zum höchsten Gut der Gesellschaft, denn es mangelt überall an Anwesenheit und ungeteilter Aufmerksamkeit. Daher kommt mir der Abgesang auf das Theater auch immer wie die Resignation von Realitätsmüden vor.
Zudem ist das Theater dank des Films seit langem vom reinen Geschichtenerzählen erlöst - gut so, es hat ganz andere, ihm eigentümliche Qualitäten!
Eine Performance, die man auch solche nennen darf, die nämlich als solche etwas schafft, im Moment kreiert, löst Verborgenes und Unerwartetes im Zuschauer aus. Dieser ist dabei nicht mit der müßigen Realitätsabbildung konfrontiert, wie dank der Medialisierung mittlerweile ständig - nein, er ist mit etwas Realem beschäftigt, das auch realistisch einsieht, dass es in einem Experimentierraum, auf einer Bühne, und eben nicht am Grab von Hamlets Vater (apropos Untote) stattfindet.
Presseschau Kümmel: Hamlet exhumieren
Am Grab von Hamlets Vater darf man es bitte sagen dürfen: "Eine Performance, die man solche nennen darf, ..."ist eine Performace. Und eine eben genau solche, die z u s ä t z l i c h einen Hang zur Muße beim Zuschauer respektiert, im Sinne von vorurteilsfrei achtet - und ihn deshalb mit experimentieller Realitätsabbildung, und zwar einer, die auf der Anwesenheit des Konjunktivs besteht, konfrontiert, ist Theater. Die - mittlerweile digitalisierte - Medialisierung unseres Lebens IST eine Realität. Sie wird performt aber nicht theatralisch dargestellt bisher. Da lohnt es sich eventuell, den ALTEN Hamlet zu exhumieren und mit dem was übrig von ihm ist, zu experimentieren-
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