Eine Tanzstundenliebe

von Martin Krumbholz

Wuppertal, 11. September 2015. Die Sehnsucht nach einem "anderen" Theater, frei von den Errungenschaften der offiziellen Szene, frei von Interpretation und Dekonstruktion, frei von boshaftem, ja bösartigem Intellekt, treibt bisweilen bizarre Blüten. Da haben sich in Wuppertal ein paar offenbar Gleichgesinnte zusammengetan, Robert Sturm, ein früherer Mitarbeiter von Pina Bausch, und Tony Cragg, der renommierte, im Tal ansässige Bildhauer, haben eine Halle und Sponsoren gefunden, sich zudem der Unterstützung der Wuppertaler Bühnen versichert, um mit einem zusammengewürfelten Ensemble aus Ehemaligen und Zukünftigen einen Shakespeare auf die Bretter zu zaubern. Und, siehe da, es gibt dafür eine Menge Applaus, Ovationen geradezu.

Eroberung mit unbestelltem Kuss

Es ist wohl kein Zufall, dass die Wahl auf "Romeo und Julia" fiel, das vermutlich populärste Stück des Elisabethaners, das (vielleicht gerade deshalb) bei Kennern nicht die allerhöchste Wertschätzung genießt. Es ist ein Stück über die Liebe, das ist schon mal gut; über die Liebe allerdings nicht in dem Sinn betrachtet, wie diese Aufführung das tut, an der vierzig Jahre Theatergeschichte spurlos vorbeigegangen sind. Also nicht im Sinn einer edel-romantischen Verzückung, die zwei Kinder auf dem falschen Fuß erwischt (Julia ist knapp vierzehn, und auch ihr Romeo dürfte deutlich unter zwanzig sein).

Die Liebe, wie Shakespeare sie versteht, ist vom ersten Moment an sexuell konnotiert; Romeo erobert Julia mit einem unbestellten Kuss. Nur so ist die Plötzlichkeit ihres Ehewunschs, der die elterlichen Pläne durchkreuzt, zu verstehen. Nicht umsonst darf ein Mercutio in diesem Drama seine drastischen Späße treiben, darf von "offenen Ärschen" und "poppenden Birnen" sprechen: Romeos Freund fügt dem Treiben der beiden Helden noch mal eine überdeutliche Durnote hinzu, und nicht zufällig stirbt er auf dem Scheitelpunkt, da die Geschichte ins Tragische kippt.

Romeo und Julia 560 Laszlo Szito uVerzückt und verschlungen: Bernhard Glose und Luise Kinner als Romeo und Julia
© Laszlo Szito

In Wuppertal ist Mercutio ein gutgewachsener junger Mann, der schöne Verse schön deklamiert, und das Liebespaar (Bernhard Glose und Luise Kinner) hat offensichtlich die Tanzstunde besucht. Anfangs sitzt Romeo schmollend am Bühnenrand, auf einem der schmutzig-weißen, zungenförmig in den weiten Raum vorstoßenden Treppenpodeste, die Tony Cragg seitlich mit den Insignien seiner spiralförmigen Skulpturen versehen hat. Julia flirtet ziemlich heuchlerisch mit dem ihr zugedachten Grafen Paris, ihr zweideutiges Mienenspiel wird per Video vergrößert. Die meisten Figuren tragen übrigens den Schlabberlook der Siebzigerjahre, weite Hosen und Blusen in dezenten Pastelltönen zwischen Weiß, Beige und Gelb. Dieses Theater ist, mit einem Wort, vollständig körperlos. Meist stehen die Schauspieler sich in geziemendem Abstand gegenüber und steif im Raum herum, ohne jede Spannung.

Fröhlicher Trauerabmarsch

Und ohne jede Sinnlichkeit. In der Lerche/Nachtigall-Szene (also am Ende der einzigen Liebesnacht, die ihnen vergönnt ist!) steht Julia mit dem Rücken an Romeo geschmiegt, beide bekleidet natürlich, er umfängt sie keusch, ein Tanzstundenpärchen beim ersten schüchternen Händchenhalten. Von Regie im Sinn einer Erforschung, geschweige denn sinnlichen Umsetzung der Situationen ist nichts zu sehen. Allenfalls bemühte Arrangements. Eine achtköpfige Musikantentruppe, rekrutiert aus dem Schönberg-Ensemble Köln, macht brav Musik und steht Spalier für das, was hier szenisch einfach nicht stattfinden will. Der Schlabberlook passt verblüffend gut dazu. Und Craggs Skulpturen (ein paar stehen noch groß am Rand, man kann sie in aller Ruhe betrachten) nehmen sich in diesem erzkonservativen geistigen Umfeld allzu putzig aus.

Auch die Steckel-Übersetzung mit ihren Schnoddrigkeiten ("Reißt euch mal zusammen!") hilft hier nicht weiter. Die Schauspieler sind entweder alleingelassen oder bedienen sich aus überständigen Repertoires. Die Amme ist bei Shakespeare durchaus nicht die treuherzige Seele, die Ingeborg Wolff in ihr sehen will. Hans Richter, ein ehrenwertes Fossil der Wuppertaler Bühnen, gibt den Mönch – die beiden versteht man immerhin trotz mangelhafter Raumakustik. Am Schluss erhalten die Toten des Stücks, weiß geschminkt, einen langen fröhlichen Trauermarschabgang; soll wohl heißen: Denen geht's besser; die Überlebenden bleiben recht bedröppelt zurück.

Letztlich erinnert die Aufführung ungewollt noch einmal daran, was hier in Wuppertal vor sechs Jahren für immer verloren gegangen ist. Mit dem anarchischen Geist der Pina Bausch hat der Abend jedenfalls nichts zu tun.

 

Romeo und Julia
von William Shakespeare
Deutsch von Frank-Patrick Steckel
Regie: Robert Sturm, Raum: Tony Cragg, Bewegung: Jean Laurent Sasportes, Musik: Wolfgang Schmidtke, Matthias Burkert, Musikalische Einstudierung: Werner Dickel, Kostüme: Julia Warndorf, Video: Ralf Silberkuhl, Sven Petersen, Marie Pannen, Dramaturgische Beratung: Susanne Abbrederis.
Mit: Stephan Ullrich, Jost Grix, Julia Wolff, Jörg Reimers, Gunda Gottschalk, Maximilian Strestik, Luise Kinner, Bernhard Glose, Moritz Heidelbach, Andreas Potulski, Konstantin Shklyar, Ingeborg Wolff, Hans Richter, Helena Pikon, Morena Nascimento, Matthias Burkert.
Schönberg-Ensemble der Hochschule für Musik und Tanz Köln, Standort Wuppertal.
Produktion RIEDEL Communications
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.wuppertaler-buehnen.de

 

Lesen Sie zur aktuellen Situation des Wuppertaler Theaters auch den Kommentar von Sascha Westphal Wie die Politik erneut das Wuppertaler Schauspiel demontiert.

 
Kritikenrundschau

"Kühl" sei diese Inszenierung, findet Knut Reiffert vom Solinger Tageblatt (14.9.2015) "Lange, statische Passagen und der völlige Verzicht auf Requisiten machen es den Zuschauern nicht gerade einfach, einen Spannungsbogen nachzuvollziehen." Aber vor allem im Finale gebe es "grandiose Bilder". Unter den Schauspielern werden Bernhard Glose "als temperamentvoller Romeo" und Andreas Potulski als Mercutio hervorgehoben. "Luise Kinner überzeugt als Titelheldin mehr durch Liebreiz als durch verzweifelnde Dramatik."

Ein "ästhetisches Gesamtkunstwerk" besuchte Anne Grages für die Westdeutsche Zeitung (14.9.2015). Sie sah "Tanzeinlagen, die an Pina Bausch erinnern", improvisierte Klang-Passagen, Live-Filmeinspielungen und Musik "im Stil der Shakespeare-Zeit". Das alles sei "geschmackvoll anzusehen, da wird auf nichts öde herumgeritten, das setzt einige schöne Impulse." Kleiner Einwand: Die "Leidenschaft und das wilde Treiben, die Shakespeare in diesem Frühwerk ausbreitet, geraten darüber ins Hintertreffen."

 

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