Schlaglichter auf die Jetztzeit

von Kai Bremer

Osnabrück, 11. September 2015. Zehn Jahre ist das Osnabrücker Neue-Dramatik-Festival Spieltriebe inzwischen alt. Das wäre durchaus ein Grund gewesen, sich selbst ein wenig zu feiern und ein, zwei Honoratioren für ein paar warme Begrüßungsworte zu gewinnen. Doch auf dem Theatervorplatz wurde gestern Nachmittag zwar eine Rede gehalten, aber nicht vom Bürgermeister, nicht vom Intendanten. Stattdessen sprach ein Vertreter der Globexx Art Foundation darüber, wie gerne sein Unternehmen derartige kulturelle Veranstaltungen unterstütze – Kulturförderungspathos, eine Nuance zu überzogen. So zog man gemächlich weiter, zum Shoppen oder ins Theater, und zuckte kaum zusammen, als es am Ende der Rede noch knallte und ein wenig Lametta in die Luft sauste.

Geflutetes Paradies oder paradiesische Fluten?

Im Theater eröffnete das Festival wie auch beim letzten Mal vor zwei Jahren im Großen Haus mit einer Produktion, die alle Besucher zu sehen bekamen, bevor sie auf fünf unterschiedliche Routen geschickt wurden – ohne weiteren Knall, ohne Begrüßung, ohne Erinnerung an das Jubiläum. Stattdessen mit "paradies fluten" schlicht Theater. Auf der Bühne zwei Männer mit Sauerstoffmasken, die vom Schnürboden gefallen zu sein scheinen. Zwei Überlebende nach einer Katastrophe?

Allmählich bewegen sich von hinten noch mehr Körper nach vorn an den Bühnenrand, wo die beiden Männer ihren Text sprechen. Der stammt von Thomas Köck, dem ersten Gewinner des Osnabrücker Dramatikerpreises. "paradies fluten" ist der erste Teil einer Trilogie und lässt (durch die Kleinschreibung) anspielungsreich offen, ob hier nun das Paradies geflutet wird oder sich paradiesische Fluten ergießen. Das Stück erinnert an die apokalyptischen Textflächen Heiner Müllers und hat wohltuend oft etwas vom Witz Elfriede Jelineks. Inszeniert wird die "verirrte Sinfonie" (so der Untertitel) von Mauro de Candia, dem Leiter des Osnabrücker Tanzensembles, das von vier Mitgliedern des Schauspielensembles unterstützt wird. Das kommt nicht von ungefähr, bekennt Köck im Programmheft doch, von Tanz-Theater-Changeur Laurent Chétouane entscheidend beeinflusst zu sein.

paradies fluten 560 Joerg Landsberg uAlles fließt – der Choreograph Mauro de Candia inszeniert Thomas Köcks neuen Text "paradies fluten" © Jörg Landsberg

Was dann auf der Bühne zu sehen ist, fasziniert erst einmal. De Candia kommt ganz ohne Musik oder akustische Unterstützung aus. Auf der Bühne liegen weiße, überdimensionale Winkel, die mal als abfallende Tische, mal als Trennwände genutzt werden können. Die Schauspieler fügen sich beeindruckend gut in die Bewegungen der Tänzer ein, und diese wiederum übernehmen immer wieder Redepartien – eine wirkliche Ensembleleistung, die den Vergleich mit anderen spartenübergreifenden Arbeiten wie etwa denen von Falk Richter nicht zu scheuen braucht.

Schlingensief lässt grüßen

Wesentlich ist Köcks Text, dass er – eben einer Sinfonie gleich – verschiedene Partien hat, die unterbrochen, wiederaufgenommen und weiterentwickelt werden. Erzählt werden vor allem die Geschichte eines Deutschen in Manaus, der dort eine Oper bauen will und seine Sympathie für die einheimische Bevölkerung findet (Schlingensief lässt grüßen), und einer Familie der Gegenwart, die an den Versprechen des freien Marktes zerbricht. Konfrontiert wird das alles mit Endzeit-Szenarien, einer gehörigen Portion Globalisierungskritik, ein wenig Bibel, Ovid, Agamben und Markttheorie.

Ein solches Text-Monster hat de Candia aber offenbar überfordert. Chétouanes Inszenierung von Müllers "Bildbeschreibung" zum Beispiel hat nicht zuletzt deswegen so überzeugt, weil er ganz auf die Ausdruckskraft der Körper ohne Sprache gesetzt hat. Während im Programmheft von einer "Choreographie nach dem Stück" die Rede ist, setzt De Candia ganz auf die Sprache. Der Text wird präzise und nuancenreich gesprochen. Nur kommt dabei der Tanz zu kurz. Die Körper drehen und winden sich um die Sprecher, aber sie finden keine eigene Sprache. Nie wird ihnen die Zeit und der Raum gegeben, sich zum Text zu verhalten.

Das wird am Ende des Spieltriebe-Auftaktabends noch einmal deutlich: Nachdem die Routen absolviert sind, kehren alle vor das Theater zurück. Erst hier wird das Finale des Köck-Stücks von zwei Männern in einer Art Raumanzügen gesprochen. Im Inneren des Theaters bewegen sich die Tänzer – aber mehr als ein hübsches Hintergrundbild geben sie nicht ab.

Die brutale Frau des Fischers

Die meisten Produktionen, die auf den Routen zu sehen sind, werden wie üblich in den Spielplan übernommen. Alle fünf Routen haben ein Motto, das aus Köcks Stück stammt, wir haben uns für "Der Fußabdruck des Fortschritts" entschieden. Um dem auf die Spur zu kommen, geht es mit dem Bus in die Hinterhofhalle einer Firma, die Planen und Zelte herstellt und verleiht.

Gegeben wird dort "Vom Fischer und seiner Frau". Wie selbstverständlich ist diese Produktion für Zuschauer ab acht in die Spieltriebe integriert – ganz ohne Lametta, auch wenn es hier angesagt gewesen wäre: vor zehn Jahren hatte Osnabrück noch kein Kinder- und Jugendtheater. Der Fischer (Thomas Hofer) und seine Frau (Anja S. Gläser) überzeugen zunächst durch ihr marionettenhaftes Spiel. Doch je häufiger der Fischer zum Meer zurückkehrt und je häufiger der Butt ihm die gierigen Wünsche seiner Frau erfüllt, um so selbständiger wird ihr Spiel. Regisseurin Judith Kuhnert inszeniert das alles mit viel Phantasie und Freude am Detail. Da die Frau, als sie zuletzt gar Gott sein will, dem Mann droht, ihn zu töten, wenn er ihr nicht den Wunsch erfüllen sollte, diskutiert das Publikum im Anschluss heftig, ob die Inszenierung tatsächlich schon für Achtjährige geeignet ist.

Hochaktuelles Theater jenseits aufgesetzter Betroffenheit

Nach dem Umbau gibt's das Kurzdrama "The Trip" von Anis Hamdoun, der vor drei Jahren aus dem syrischen Homs nach Osnabrück geflüchtet ist. Das Stück erzählt die Geschichte von Ramie, der zusammen mit seinen Freunden eben in Homs demonstriert und als einziger überlebt hat. Hamdoun inszeniert selbst und findet eine Bildsprache, die nie Einfühlung in die Figuren verspricht und gleichwohl alles andere als emotionslos ist. Das liegt zum einen an Patrick Berg, der als Ramie unzählige Male die Zuschauerreihen umkreist, zwischen denen die Spielfläche angeordnet ist. Wenn er kurz stehenbleibt, um seine Geschichten und die seiner Freunde zu schildern, werden seine Gedanken und Sorgen präzise artikuliert, mal geschrien, mal langsam gesprochen, aber nie rührselig gestammelt. Zum anderen ahmt Hamdoun die Gewalt, die die Freunde erfahren, wohltuender Weise nie nach, sondern lässt sie in den wesentlichen Momenten durch seine Figuren erzählen.

trip 560 Uwe Lewandowski uPatrick Berg als Ramie in "The Trip": präzise, nie rührselig © Uwe Lewandowski

Oft behauptet Theater, am Puls der Zeit zu sein, und hechelt dieser doch meistens hinterher. Bei "The Trip" ist das anders: Das Thema ist an Aktualität nicht zu überbieten und gleichzeitig führt das nicht zu aufgesetzter Betroffenheit, sondern zu einer facettenreichen Auseinandersetzung. Mehr kann man nicht verlangen.

Exakt 14 Jahre nach 9/11

Der zweite Spielort der Route ist die Melanchthonkirche, die seit einiger Zeit entwidmet ist und derzeit vom Theater Osnabrück genutzt wird. Dort hat Annette Pullen, bis zum Ende der letzten Spielzeit leitende Schauspielregisseurin und mit Roman-Inszenierungen bestens vertaut, Jonathan Safran Foers "Extrem laut und unglaublich nah" inszeniert. Auch damit hat sich das Theater einen Text mit Tagesaktualität vorgenommen, wenn auch auf andere Weise: Exakt 14 Jahre nach 9/11 den vielleicht besten Roman zu diesem Thema auf die Bühne zu bringen, zeugt von Selbstbewusstsein.

Pullen präsentiert dabei Foers Hauptfigur Oskar Schell (Niklas Bruhn) als einen, der oft störrisch seine Arme vor der Brust verschränkt und dann wieder ein kleiner Strahlemann ist, wenn er den Erwachsenen seine Klugheit unter Beweis stellen kann. Derart entwickelt Pullen nicht nur Oskar, sondern alle Figuren des Romans weiter und gibt ihnen eigene Nuancen, was zumal im Vergleich mit der Hollywood-Verfilmung mit Tom Hanks als idealem Vater auffällt: In Pullens Adaption gibt Thomas Kienast einen Dad mit Ecken und Kanten, der auch mal schreien darf.

Eingehegt ist das alles in eine Art riesige Puppenkiste, deren Front immer wieder auf- und zugestoßen wird (Bühne: Gregor Sturm) – Bild für jenen Wunsch, mit der Vergangenheit abzuschließen, ohne dies zu können. Besonders überzeugend an Pullens Inszenierung sind jedoch nicht derartige Symbolisierungen, sondern ist die Tatsache, dass alle wesentlichen Erzählebenen des Romans auf die Bühne gebracht werden und die Erzählung eben nicht auf die von Oskar reduziert wird, wie das der Blockbuster getan hat. So wird etwa auch die Geschichte von Oskars Oma (Caroline Schreiber), die aus dem weltkriegszerstörten Dresden flüchtete, anrührend geschildet – für Foers Roman wichtig, um 9/11 nicht als solitäres Ereignis darzustellen.

extrem 560 Uwe Lewandowski uVater und Sohn: Niklas Bruhn als mal störrischer, mal strahlender Oskar und Thomas Kienast als sein Dad mit Ecken und Kanten © Uwe Lewandowski

Die Zuschauer waren von Pullens Roman-Inszenierung ähnlich angetan wie von "The Trip"; die letzten Sätze von Köcks-Stück draußen vorm Theater hingegen nahmen manche von ihnen zugunsten des Biers dann schon nicht mehr wahr – nach einem vollgepackten Abend mit thematisch wie ästhetisch überzeugenden Einzelproduktionen. Zeitgenössisches Theater auf bestem Niveau.

 

paradies fluten. verirrte sinfonie
Choreografie nach dem gleichnamigen Stück von Thomas Köck
Tanz-Uraufführung
Choreographie / Regie: Mauro de Candia, Bühne und Kostüme: Mauro de Candia, Margrit Flagner, Dramaturgie: Maria Schneider, Patricia Stöckemann.
Mit: Marie Bauer, Keith Chin, Stefan Haschke, David Lukas Hemm, Anne Hoffmann, Lennart Huysentruyt, Orlando Klaus, Hsiao-Ting Liao, Noemi Emanuela Martone, Beatrice Panero, Amadeus Marek Pawlica, Robert Phillips, Marine Sanchez Egasse, Sasha Samion.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

Vom Fischer und seiner Frau
nach den Gebrüdern Grimm
Uraufführung
Regie: Judith Kuhnert, Bühne: Mona Müller, Kostüme: Anna Grabow, Dramaturgie: Elisabeth Zimmermann.
Mit: Anja S. Gläser, Thomas Hofer, Marius Lamprecht.
Dauer: 50 Minuten, keine Pause

The Trip
von Anis Hamdoun
Uraufführung
Regie: Anis Hamdoun, Bühne: Mona Müller, Kostüme: Anna Grabow, Miriam Schliehe, Dramaturgie: Elisabeth Zimmermann.
Mit: Zainab Alsawah, Patrick Berg, Nawar Bulbul (im Video), Anja S. Gläser, Marius Lamprecht.
Dauer: 40 Minuten, keine Pause

Extrem laut und unglaublich nah
von Jonathan Safran Foer, Deutsch von Henning Ahrens, Bühnenfassung von Peter Helling und Annette Pullen
Uraufführung
Regie: Annette Pullen, Bühne: Gregor Sturm, Kostüme: Miriam Schliehe, Dramaturgie: Peter Helling, Marie Senf.
Mit: Niklas Bruhn, Johannes Bussler, Thomas Kienast, Stephanie Schadeweg, Caroline Schreiber.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-osnabrueck.de

 

Kritikenrundschau

Eine "hervorragende Uraufführung" von "paradies fluten" von Thomas Köck hat Dorothea Marcus erlebt und erwähnt in ihrem "Spieltriebe"-Gesamtbericht für den Deutschlandfunk (15.9.2015) auch "The Trip" von Anis Hamdoun: "Jedes Pathos wird vermieden und dennoch melancholisch dem Verlust gedacht." Und die Lecture Performance "Dschihad Express" von Pascal Wieandt, die auf der vom Nachtkritiker beschrittenen Route nicht dabei war: "Hautnah und klug wird hier vorgeführt, wie sinnentleert einem das Leben der auf Geld und Status fixierten Gesellschaft vorkommen kann – und wie straff und sinnvoll geführt die vermeintlich göttliche Alternative IS erscheinen mag", so Marcus. Insgesamt habe das Theater bei dem Festival "eindrücklich (...) seine zivilisatorische Kraft" gezeigt, "die in der Belebung von Leerstand genauso liegen kann wie in der Nutzung syrischer Theaterpotenziale".

 

mehr nachtkritiken