Die Sorgen von früher

von Willibald Spatz

München, 15. März 2008. Wenn die Zeit vergeht, ohne dass etwas passiert, was einen berührt, dann stumpft man ab, dann reagiert man auch nicht mehr, wenn etwas passiert, was einen sonst schwer erschüttert hätte. Das Bayerische Staatsschauspiel setzt auf Kontinuität, es ist loyal zu denen, die dort wirken. Franz Xaver Kroetz hat vor ein paar Jahren seinen schlimmsten Menschenhass, der es ihm unmöglich machte, unter den Leuten zu sein, überwunden. Seitdem inszeniert er im Residenztheater gelegentlich, was dann im Wesentlichen recht gefällig gerät.

Ganz am Anfang seiner Theaterkarriere, 1969, da war das anders. Da wollte er das Publikum reißen, ihm was zeigen, was es bisher noch nicht erlebt hatte auf der Bühne. Damals entstand "Heimarbeit", das 1971 ebenfalls in München, an den Kammerspielen, uraufgeführt wurde. Darin sieht man unter anderem, wie eine Frau versucht, sich ein Kind abzutreiben mit einer Stricknadel, oder wie ein Mann im Scheinwerferlicht ein Baby im Badewasser ertränkt.

Kleinfamiliendrama aus den 70ern

Tatsächlich sind das genau die Momente, die einen auch heute noch berühren – heute in der Inszenierung des Stücks von Veit Güssow, die gerade im Marstall, der kleinen Spielstätte des Bayerischen Staatsschauspiels, Premiere hatte. Es geht um einen Willy, der besoffen Moped gefahren ist, einen Unfall gebaut hat und seitdem daheim Samen eintütet. Die Tüten muss er aufblasen und jeweils mit einem Löffel Samen füllen, die Geräusche, die Peter Albers dabei erzeugt, geben den monotonen Rhythmus des Abends vor. Seine Frau Martha muss jetzt putzen, damit genug Geld da ist. Dabei wird sie geschwängert. Sie sagt: "Bin da ausgenutzt worden, weil ich ein Vertrauen gehabt habe."

Der Witz an Kroetz' Text ist nun, dass seine Figuren die über sie hereinbrechenden Katastrophen mit einer für den Zuschauer aufregenden Gleichgültigkeit hinnehmen, das läuft an ihnen vorbei, ohne auch nur die Spur eines Gefühls zu verursachen. Sie benutzen für das wenige, das sie sich dabei noch zu sagen haben, ein verhochdeutschtes Kunst-Bayerisch, das eine Art Verfremdungseffekt erzeugen soll, stellenweise auch tut. Veit Güssow lässt sich nun, 37 Jahre später, voll darauf ein. Er lässt die Pausen, die der Text vorgibt, in ihrer ganzen Länge stehen, er lässt jede der zahlreichen Szenen durch einen Black von der vorher gehenden abtrennen. Dadurch wird die Angelegenheit zäh. 

Kindstötung als Versuch, die Beziehung zu retten

Freilich ist man nicht zur Gaudi ins Theater gegangen, man soll gequält werden, aber man fragt sich zunehmend, wieso das mit einem Stoff sein muss, der über die Jahrzehnte ziemlich an Brisanz eingebüßt hat. Damals konnten ein unnatürlicher Schwangerschaftsabbruch oder ein uneheliches Kind noch einen Skandal bedeuten. Man versucht jetzt in der Menge Zeit, die einem hier zum Nachdenken geschenkt ist, einen heutigen Menschen zu finden und entdeckt ihn schließlich in dem Willy von Peter Albers. Der steckt in einem grauen T-Shirt und einer nutzlosen Motorradhose und schaut unendlich traurig und verloren.

Einmal sitzt die Familie mit ihrer eigenen Tochter im Garten und schaut dem Sonnenuntergang zu, während es oben in der Wohnung dem Säugling, den man ans Fenster gestellt hat, gefährlich zu kalt wird. Man riskiert das junge Leben, wenn man jetzt nicht aufsteht und das Kind ins Warme holt. Doch Willy will sein Bier austrinken, mehr nicht, nur noch so lange sitzen, bis das Bier weg ist. Nicht weil er eine böse Absicht hat – Absichten hat er schon lange keine mehr – er will einfach nur sitzen und warten, bis wieder ein Stückchen seines nutzlosen Daseins verstrichen ist, ohne dass sich alles noch ein bisschen verschlimmert hat.

Beatrix Doderer, seine Frau Martha, wird wütend, nimmt das Bier, schüttet es ins Gras und läutet damit eine weitere Runde des Elends ein. Das ist einer der seltenen Augenblicke, in denen man den Jetzt-Menschen porträtiert sieht, der große Rest ist vielleicht theaterhistorisch einigermaßen interessant, aber im Wesentlichen völlig belanglos. Es passiert doch ständig so viel, es gibt mindestens sechs Milliarden Schicksale zurzeit auf der Welt, da werden doch ein paar darunter sein, die es mehr verdient hätten, auf einer Theaterbühne ausgestellt zu werden.

 

Heimarbeit
von Franz Xaver Kroetz
Regie: Veit Güssow, Bühne: Ann Poppel, Kostüme: Ann Poppel, Musik: Rudolf Gregor Knabl.
Mit: Beatrix Doderer, Peter Albers und Grit Paulussen.

www.bayerischesstaatsschauspiel.de

 

Zuletzt waren wir am Bayerischen Staatsschauspiel bei Das Leben ein Traum in der Regie von Alexander Nerlich.  

 

Kritikenrundschau

Für die Süddeutsche Zeitung (18.3.2008) war Kaspar Renner im Marstall. Und seiner Ansicht nach hat der Regisseur Veit Güssow dort alles falsch gemacht. Das sperrige, Schweigen fordernde Stück plappere er inszenatorisch einfach weg und emotionalisiere hingegen völlig verkehrt beim Kindsmord: "Kroetz´ Stück ist ja gerade deshalb so verstörend, weil da ein Kind getötet wird, als ob es eine Puppe wäre." Während Güssow eine Puppe zeige, aber die "Illusion" zulasse, dass sie "ein echtes Kind sein könnte". "So stattet er 'Heimarbeit' wieder mit all den Kommoden bürgerlicher Empfindsamkeit aus, mit denen Franz Xaver Kroetz schon vor dreißig Jahren gründlich aufräumen wollte."

Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.3.2008) hingegen ist das Stück fragwürdig geworden, während sie die Inszenierung durchaus "in sich stimmungsvoll" findet. Heutzutage stünden Kindsmorde, den Nachrichten zufolge, doch "auf der Tagesordnung". "Hier hat das Theater kein Exempel mehr zu statuieren, und als spannendes Einzelschicksal taugt das stilisierte Stolperstück von damals nicht mehr viel." Güssows "ästhetisch ansprechende Künstlichkeit" tue da wohl und wirke, auch aufgrund der "Varietémusik", "natürlich schön charismatisch, melancholisch auch", könne die Sache aber nicht wirklich retten.

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