Die Aufstiegs-Monologe

von Katrin Ullmann

Hamburg, 13. September 2015. An diesem Abend wird ein Kinderschokoriegel auftreten, ein Parfümflakon und ein Karriere-Coach. Da wird eine Trauung vollzogen und Bargeld geklaut, ein Arbeitssuchender abgefertigt, Eifersucht geschürt und – statt eines Sommerhauses – Tafelsilber vererbt. Zusammengehalten von der Frage nach dem Wert des Geldes, hat Jonas Hassen Khemiri ein Stück über fünf unterschiedliche Figuren geschrieben. Sie alle bewegen sich am (ökonomischen) Rand der Gesellschaft. Alle haben ungefähr die gleichen schlechten Perspektiven, alle träumen von einem anderen Leben, einem Leben mit mehr Anerkennung, einem Leben mit einer stärkeren Kaufkraft.

Uraufgeführt wurde sein Stück "≈ [ungefähr gleich]" im vergangenen Herbst in Stockholm (Regie: Farnaz Arbabi), die deutschsprachige Erstaufführung übernimmt Anne Lenk nun im Thalia in der Gaußstraße in Hamburg. Sie bestreitet den Abend mit vier Schauspielern und lässt diese – gemäß der Regieanweisung "Schauspieler: Beliebig. 4–22 Personen" – wechselweise die auftretenden Figuren (und Schokoriegel) spielen.

Suche nach der Formel

Da ist etwa Mani (André Szymanski), ein Wirtschaftshistoriker in Samtjackett und Hornbrille (Kostüme: Eva Martin), der vergeblich auf ein Auskommen im Hochschulkontext hofft und sich zwischenzeitlich und vortragsweise auf das "Theorem von van Houten" spezialisiert hat. Manis Monolog zufolge hat der niederländische Schokoladenfabrikant kurz vor seinem Ableben versucht, eine Formel aufzustellen, anhand derer man den Unterhaltungswert eines jeden Ereignisses quantifizieren könne.

ungefaehrgleich1 560 KrafftAngerer hWeg nach oben, Blick nach unten: Steffen Siegmund in "≈ [ungefähr gleich]" © Krafft Angerer

Wann immer es seine Schauspielkollegen zulassen, vor allen aber gleich zu Beginn des Abends, parliert Mani selbstverliebt über sein Spezialgebiet. Dass es die hoch dotierte Festanstellung für ihn nie geben wird, ist schnell klar. Genauso wenig wie Andrejs eher bescheidener Traum wahr werden wird. Er sucht – nach seinem erfolgreich abgeschlossenen Abendkurs in "Grundlagen von Wirtschaft und Marketing" – nach einer halbwegs interessanten Arbeit. Natürlich wird er, etwas eindimensional gespielt von Steffen Siegmund, im Jobcenter schikaniert und ausreichend demoralisiert. Für ihn ist das kleine Glück die Aushilfsstelle im Tabakladen: Rubbellose und Tageszeitungen verkaufen.

Seine Kollegin dort, Martina (Christina Geiße und Catherine Seifert als Doppel-Ich), wiederum träumt von Selbstversorgerlandleben mit Schafen und Bioklo. Ein Traum, den ihr Mann Mani ihr weder zutraut noch sich selbst zumutet. Und der sich, wenn er nicht gerade über die Manie der Reichen für die Armut polemisiert, in wilde Eifersuchtsszenarien hineinfantasiert.

Schicksalsgemeinschaft

In kleinen, immer wieder sich selbst hinterfragenden Szenen verzahnt Khemiri eine Figur mit der anderen, schafft Bezüge, Assoziationen und Geschichten, verzahnt Schicksale und Episoden, lässt Wirtschaftstheorien an der Praxis scheitern. Khemiri bedient Klischees und zeichnet dabei liebevoll Figuren, er beschreibt tragikomisch das kleine Glück und die großen Sehnsüchte und lässt sie – wenig originell – natürlich tragisch enden.

Anne Lenk inszeniert den Abend auf einer riesigen, zur Seite geneigten Wippe (Bühne: Judith Oswald). Ein Haufen unzähliger kupferner Centmünzen bringt die Konstruktion dermaßen ins Ungleichgewicht, dass sie für die Darsteller den ganzen Abend über eine steile, schwer zu erklimmende Rampe bleibt. Ein im Scheinwerferlicht verheißungsvoll kupfer-funkelndes Bühnenbild, das die Darsteller allerdings recht mühsam bespielen. Sie springen auf die Wippe, stellen sich davor und verstecken sich dahinter, rutschen im Münzstrom herab, schleppen ein Sofa hinauf und schippen kiloweise Kupfergeld.

Wechselnde Stimmungen

Trotz – oder vermutlich gerade wegen – zahlreicher hektischer Stimmungswechsel, kommt der Abend nicht recht in Fluss. Die Schauspieler springen in ihre Rollen, mal aus dem Stand, mal mit Anlauf. Sie schreien an gegen Technobeats und lassen sich einlullen in Leonhard-Cohen-Songs, sie tragen Superman-Umhänge, Miss-Piggy-Kostüme und Fat Suits und bleiben bei all dieser Grellheit fürchterlich farblos. Bei Verzweiflung wird gebellt, bei Hysterie geschrien, bei Aussichtslosigkeit geheult – irgendeine Art von Atmosphäre stellt sich so gar nicht ein.

Anne Lenks abendfüllend zelebrierte Distanz gegenüber Khemiris Figuren – vermutlich aus Sorge vor zu viel Klischee – mündet letztlich in desinteressierte Unterspanntheit. Und so verwässert manch tragischer Moment, vor allem aber verschwindet Khemiris ironische Grundschärfe in allzu banalem Unterhaltungsklamauk.

≈ [ungefähr gleich]
von Jonas Hassen Khemiri
Regie: Anne Lenk, Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Eva Martin, Dramaturgie: Natalie Lazar.
Mit: Christina Geiße, Catherine Seifert, Steffen Siegmund, Andre Szymanski.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Das alles ist nicht sonderlich originell und auch ziemlich plakativ; aber hört man offen hin, dringt es trotzdem halbwegs unter die Haut, weil sich diesen armen Würstchen wohl nie eine Chance auf eine bessere Zukunft bieten wird." So beschreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.9.2015) das Khemiri-Stück und seine Figuren. Anne Lenk habe das Werk als "mittelgrellen Comic mit Fernsehshow-Elementen, Filmmusik und allerlei Albernheiten inszeniert, so dass die ohnedies wenig fassbaren (und etwas unübersichtlich hereinschneienden) Personen sich immer stärker in unverbindlichem Klamauk verlieren."

Khemiri liefere mit seinem Stück eine "flotte Vorlage für reichlich rasantes Spiel", schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (15.9.2015). Anne Lenk "fährt eine Menge Klamaukgeschütz auf" und kreiere eine kurzweilige und "lockere Revue der vom Leben immer wieder Geprügelten quer durch alle Bildungsschichten, die mit ihren Sehnsüchten am durchökonomisierten Alltag scheitern." Im Ganzen bleibt das Urteil gemischt: Die "Dichte des Textes und die erstklassigen Schauspieler bewahren den Abend vor dem Absturz von der Wippe in den Sozialkitsch."

"Hinter der komplexen Erzählstruktur" des Khemiri-Textes "verbergen sich oberflächliche Charakterschablonen, die zusammen kein überzeugendes Stück ergeben", urteilt Alexander Kohlmann auf Deutschlandradio Kultur (13.9.2015). Die Schauspieler könnten sich in der "komplizierten Konstruktion nicht wirklich entfalten" und müssten zudem "Gimmicks" der Regie umsetzen. Im Ganzen sehe Anne Lenks Arbeit "ziemlich nach Regieschule aus".

"Die Krise des Ökonomischen stellt sich auf der Ebene persönlicher Erfahrung nur als Krise sozialer Positionierung dar", schreibt Robert Matthies in der taz (16.9.2015). "Antworten auf große Fragen" liefere Khemiri mit seinem Stück nicht, "bastelt stattdessen ein Labyrinth kleiner Szenen." Anne Lenk jage ihre Schauspieler durch dieses Labyrinth, lasse dabei leise Töne und geschickte Ironie aber "im Remmidemmi und rasanten Szenen- und Rollenwechsel" untergehen. Khemiris Impetus – "vorzuführen, dass in einer Welt, die sich auf Kredit gründet, jede Lebensentscheidung zur absurden Farce werden muss" – werde auf diese Weise "so ungreifbar wie der funkelnde Haufen auf der Bühne".

 

Kommentare  
≈ [ungefähr gleich], Hamburg: Preis für Wortwegfall
Kann denn jemand einmal demnächst einen Preis ausschreiben für einen Theaterkritiker, der NICHT das Wort "Klamauk" benutzt? Das fände ich wirklich großartig. Ein LEBENSWERK offenbar...
≈ [ungefähr gleich], Hamburg: Wort und Wirklichkeit
Aber nur weil Kritiker nicht mehr das Wort Klamauk schreiben, sind die lebenden KINDER-Schokoladentafeln und Parfumflaschen ja noch nicht von den Bühnen verschwunden...
≈ [ungefähr gleich], Hamburg: genau bezeichnete Schubladen
Das sehe ich ein, aber ich habe gar nichts gegen solche, wenn sie irgendwie anders bezeichnet werden als: inwelchesschublade?-yes:klamauk. Ich bin für genau bezeichnete Schubladen für den theaterhandwerklichen Werkstattbedarf!
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