Kriegstreiberei, verkackte

von Falk Schreiber

Hamburg, 20. September 2015. Es herrscht Krieg. Der Boden ist mit Asche bedeckt, auf schwarzen Würfeln liegen Patronenhülsen, und am Himmel streben Leuchtröhren auseinander. Florian Lösche hat ein Pulverfass in die Opera Stabile, die Nebenspielstätte der Hamburgischen Staatsoper, gebaut. Aber es ist ein Pulverfass, das gerade explodiert: Willkommen in der Levante, willkommen an der Ostküste des Mittelmeers.

Handlung

"Weine nicht, singe" von Michael Wertmüller will keine Oper über den Nahostkonflikt sein, sondern ein allgemeingültiges Stück über Freunde, die zu Feinden werden. Librettistin Dea Loher aber ist wie in ihren Theaterstücken eine Verfechterin des Konkreten im Allgemeinen, weswegen sie die Handlung im weltpolitischen Pulverfass Nahost verortet: Einst waren Aki und Oona ein Paar, dann gab es eine politische Verwerfung, Aki stand plötzlich auf der anderen Seite der Grenze, und Oona brachte sich um. Beider Tochter Mira wächst bei Tante Altai und Onkel Ron auf, und als der unbekannte Vater plötzlich vor der Tür steht, eskaliert die Situation ... Halb antike Tragödie ist das, halb Tagespolitik, und wäre da nicht die heterogene, die eigene Position immer wieder hinterfragende Komposition Wertmüllers zwischen Neuer Musik und Jazz, die Handlung liefe Gefahr, in der billigen Kirchentagsmoral des "Wir sind doch alle Brüder!" zu versacken. Dank Wertmüller verlässt der Abend die Levante: "Er ist mit einer anderen Sprache aufgewachsen, und sein Gott heißt anders", singt Ron über Aki. "Aber wir waren Nachbarn." Hallo Pegida-Land.

WeineNicht2 560 Hans Joerg Michel uDer Taktstock wird Waffe: Josef Ostendorf und Titus Engel  © Hans Jörg Michel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Staatsoper neu

Solch eine zeitgenössische Positionierung ist an diesem Ort ungewohnt. Für Simone Young, Hamburger Intendantin und Generalmusikdirektorin von 2005 bis vergangenes Frühjahr, war Neue Musik nur am Rande ein Thema, aktuelle Themen gar nicht, entsprechend ist es eine radikale Setzung, dass Youngs Nachfolger Georges Delnon zum Eröffnungswochenende seiner Intendanz "Weine nicht, singe" uraufführen lässt. Auch weil sich hier eine weitere Abgrenzung zum Programm seiner Vorgängerin zeigt: Starke Regiehandschriften waren während Youngs klarer Unterordnung der Regie unter die Musik unerwünscht. Delnon hingegen betraut Jette Steckel mit der Wertmüller-Uraufführung, und die ist zwar kein absoluter Opernneuling, hat sich ihren Namen aber in erster Linie mit handwerklich sicheren Schauspielinszenierungen gemacht, nicht zuletzt am benachbarten, regietheaterfreundlichen Thalia Theater. Dass Steckel für bloße Illustration nicht zu haben ist, dürfte klar sein.

Inszenierung

Also bricht die Inszenierung die Bühnensituation auf, verteilt das Publikum im Raum und die Musiker an den Seiten, rechts ein Quartett aus dem Umfeld des ortsansässigen Kammerorchesters Ensemble WeinenichtSinge1 280 Hans Joerg Michel uHolger Falk  © Hans Jörg Michel Resonanz, links das Schweizer Jazztrio Steamboat Switzerland: eine szenisch überraschend einleuchtende Lösung, die freilich aus musikalischer Sicht nicht der Weisheit letzter Schluss ist, weil im ersten Teil des Abends die jeweils nähere Klangquelle die entferntere übertönt. Immerhin, nach rund 30 Minuten wechselt das Quartett auf die Seite der Jazzer, dann geht es. Zudem besetzt Steckel nicht alle Rollen mit ausgebildeten Sängern, sondern setzt mit Tina Keserovic als Mira und Josef Ostendorf als Großvater Zeno zwei Schauspieler ein, die gesanglich freilich nicht geschont werden, während die Opernsänger schauspielerisch gleichermaßen gefordert sind und sich außerdem singend durch das Publikum berserkern müssen. Nicht zuletzt befindet sich auch Dirigent Titus Engel mitten unter den Zuschauern, und sein Taktstock mutiert mitunter zur Waffe, die gefährlich nahe an Publikumsohren vorbei saust. Das ist mehr als nur ein Regieeinfall, das ist ein Statement: Was hier passiert, passiert mitten unter uns.

Sänger und Darsteller

Die Sängerdarsteller derweil meistern ihre Anforderungen beeindruckend. Ruth Rosenfeld bringt ihre Erfahrungen als Musikperformerin bei Herbert Fritsch und Douglas Gordon mit, ihre Altai ist eine WeinenichtSinge4 280 Hans Joerg Michel uRuth Rosenfeld  © Hans Jörg Michel großartige Furie zwischen Erkenntnis, Resignation und Wahnsinn. Holger Falk als Aki ist ein sanfter Riese, dessen schmelzender Tenor die harte Handlung wohlklingend irritiert. Einzig Jürgen Sacher als Ron scheint Wertmüllers Komposition manchmal nicht zu trauen, sein Bariton verliert sich, sobald die Musik an Düsternis und Kälte zunimmt und streckenweise die Grenze zum Metal streift. Sei es drum.

Allerdings tritt angesichts dieser Schauspielleistung der Sänger (sowie Engels raumgreifender Dirigentenperformance) eine formale Hierarchie hervor, die so wahrscheinlich nicht bedacht war: Die Sänger haben Musik plus Performance, den Schauspielern aber bleibt trotz ihrer unbestreitbaren Klasse meist nur ihr Schauspiel. Was zur Folge hat, dass ein im Sprechtheater ganz großartiger Unterspieler wie Josef Ostendorf hier nicht so wirklich auf den Punkt kommt: Der für das Stück wichtige Schlussmonolog Zenos "Verdammt nochmal! Das reicht mir jetzt, mit eurer Kriegsscheiße! Kriegstreiberei, verkackte!" gerät ins Hintertreffen, weil Ostendorf noch so eindrucksvoll Text aus seinem massigen Körper herauspressen kann – die Komposition bleibt am Ende immer stärker.

Musik

Und, ja, sie ist stark. Das strenge Formbewusstsein des gelernten Schlagzeugers Wertmüller trifft auf die Sehnsucht nach Befreiung beim Freejazzer Wertmüller, ständig bricht etwas aus, ständig wird etwas wieder eingefangen, immer wieder werden Grenzen gesetzt, die darauf übertreten werden. Im Grunde ist damit Lohers konkret-unkonkretes Libretto perfekt auf den Punkt gebracht. Und Steckel hat mit ihrem beherzten Regiezugriff dafür genau die richtigen Bilder gefunden. Zumindest der Beweis, dass Regietheater nicht zwingend ein Verletzen der Prima-la-Musica-Regel sein muss, wäre damit erbracht – vielleicht hätte das ja mal jemand Altintendantin Simone Young erzählen sollen.

 

Weine nicht, singe (Uraufführung)
Von Michael Wertmüller (Musik) und Dea Loher (Text)
Musikalische Leitung: Titus Engel, Regie: Jette Steckel, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Pauline Hüners, Dramaturgie: Johannes Blum.
Mit: Josef Ostendorf, Holger Falk, Jürgen Sacher, Ruth Rosenfeld, Tina Keserovic, Musiker: Ensemble Resonanz, Steamboat Switzerland.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatsoper-hamburg.de

 

Kritikenrundschau

"Für gute eineinhalb Stunden kauert das Publikum in der pechschwarzen Opera stabile auf hölzernen Quadern im knirschenden schwarzen Granulat und wagt kaum zu atmen, so nervenzerfetzend ist es, was die fünf Protagonisten verhandeln," schreibt Verena Fischer-Zernin im Hamburger Abendblatt (22.9.2015). Das Stück gewähre keinen Moment der Entspannung. "Jette Steckel hat einen wahren Totentanz inszeniert."

 

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