Und dann kam Mirna - Sibylle Berg injiziert Gegengift gegen süßliche Mütterbilder und Sebastian Nübling bittet am Gorki Berlin zum wuchtigen Schlabbertanz
Her mit der Spießermutter!
von Anne Peter
Berlin, 24. September 2015. Bamm! Da sind sie wieder. Die vier angry young women, die vor knapp zwei Jahren mit "Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen" so umwerfend die erste Spielzeit des Gorki-Theaters unter Shermin Langhoff miteröffneten. Sie sind zurück mit ihren übergroßen Schlabberpullis, den aufstampfenden Turnschuhen und ihrem bitterbösen Spott. Mit ihren ungestümen, haarefliegenden Wucht-Choreographien vor dem Eisernen Vorhang. Mit ihrem erstklassig ausdifferenzierten, nuancenreichen Chorsprech, der von wahlweise genervten, gelangweilten oder panischen Blicken durchschossen, von verschränkten Armen, hängenden Schultern oder Lässigkeitsposen begleitet wird.
Die Angry Young Women sind jetzt Anfang, Mitte, Ende Dreizig
Mit "Und dann kam Mirna" hat Sibylle Berg dem Viererteam eine Fortsetzung auf den Leib geschrieben. Wieder inszeniert die Uraufführung Sebastian Nübling, wieder choreographiert Tabea Martin, wieder zeichnet Magda Willi für die leergeräumte Bühne verantwortlich. Aufs Haar ähnelt das Sequel-Setting dem vielgepriesenen Piloten. Neu dabei ist allerdings die zu komischer Mimik hochbegabte Çiğdem Teke, die zum Saisonstart von den Münchner Kammerspielen ins Gorki-Ensemble wechselte. Bei genauerem Hinsehen sind die Damen auch gar nicht mehr so young und angry, sind weniger wütend als verzweifelt, unter anderem deshalb, weil sie jetzt halt schon "Anfang, Mitte, Ende Dreißig" sind – und Mütter.
Als neuen Sparringspartner haben sie die ebenfalls vervierfachte Tochter: Mirna. Gezeugt wurde sie mit einem eher zufällig gevögelten und bald schon verachteten sowie abservierten Typen. Die alleinerziehende Protagonistin – "na ja, erziehen, sag ich mal, geht so" (vier Körper malen Anführungszeichen in die Luft) –, bei der die Mutterschaft "die im viralen Marketing versprochenen Glücksgefühle" (vier Gesichter starren wartend in die Luft) nur äußerst spärlich zur Ausschüttung brachte, plant den Umzug aufs Land. Blöd nur, dass die drei Freundinnen aus alten, wilden Tagen mit ihren gleichaltrigen Kindern alle in heteronormativen Beziehungen oder sexuell befreiten Kommunen leben und es sich im letzten Moment doch noch anders überlegen.
Der Chor biestiger Gören
Mirna wird das Unterfangen am Ende ohnehin auf ihre Art vereiteln. Sie, die sowieso nie Bock hatte, ihren Leistungskurs Mikrobiologie abzubrechen, um "in das vornehmlich von Neonazis besiedelte Umland zu ziehen." Auch die heillos überforderte Protagonistin kann sich nicht entscheiden zu packen, während die Vierfach-Tochter längst ungerührt Bücherstapel oder Riesenplüschtiger über die Rampe in den Zuschauerraum entsorgt.
Der Chor biestiger Gören trägt pinke Sportjacke zu kurzen Jeans und wippendem Pferdeschwanz ("das Outfit des Widerstands gegen unsere unglaublich genderneutralen, unisexuellen Eltern"). Und besticht ganz ohne Niedlichkeitsbonus – durch Härte vielmehr. Die (8- bis 12-jährigen) Mädchen ähneln einer Mischung aus Streberin und kaltem Horrorfilm-Kid, das der Mutter fremd bleibt. Entsprechend geraten die Umarmungsversuche der Mütter ungelenk steif, unfähig zur zärtlichen Geste, sich haltsuchend an das Kind klammernd.
Bergs Anti-Heldin ist weniger scharf umrissenes Individuum als schräg zusammengestoppelter Figuren-Hybrid, eine Versammlung böse pieksender Pointen und Beobachtungen à la Spiegel Online-Kolumne, die sie durch Übertreibung zu grotesker Schrulligkeit verschraubt. Umso förderlicher wirkt die Form, die Nübling / Martin mit ihrem multiperspektivischen Parforce-Quartett dafür gefunden haben. Sie entheben die Figur konsequent des Realistischen, übersetzen ihre Widersprüche und Brüche in ein minutiös getimtes Zusammen- und auch Gegeneinanderspiel. Ab und an erheben sich per SMS oder Skype auch die Stimmen der Freundinnen aus dem Kollektivstrom. Dabei kürzt Nübling beherzt, lässt Nebenkonfliktzonen aus (z.B. internetaverse Tochter vs. smartphonesüchtige Mutter) und fokussiert den schlanken Achtzigminüter auf das sich umkehrende Verantwortungsverhältnis. "Manchmal überfordert mich die Aufgabe, der erwachsene Mensch zu sein", sagt das Kind einmal.
Am kürzeren Ende des Hochleistungsfeminismus
Mit gewohnt flapsiger Scharfzüngigkeit nimmt Sibylle Berg den großstädtisch geprägten, also nur bedingt verallgemeinerbaren Elterntypus aufs Korn, der das Erwachsenwerden aufgrund noch unvollendeter Selbstverwirklichung vor sich herschiebt und sich dabei vormacht, das Leben mit Kind könnte genauso weiterlaufen wie das ohne. Demgegenüber steht die kindliche Sehnsucht nach Regeln und Orientierung, nach Vorbildern und Geborgenheit: "Ich will ordentliche Eltern. Spießereltern, die Alte-Menschen-Sachen machen. Meinetwegen auf Facebook." Kinder als die wahren Konservativen? Man kann diese Backlash-Option natürlich gleichfalls zum Gruseln finden. Weder Berg noch Nübling ergreifen Partei.
Im gesellschaftlichen Echoraum schwingen Debatten wie Gleichberechtigung, Frauenquote und Vereinbarkeit mit. Wichtig ist dieser Abend vor allem als Gegengift gegen süßlich idealisierte Mütterbilder, wie sie immer noch die Frauenzeitschriften- und Werbebranche dominieren sowie gegen den Hochleistungsfeminismus, der uns das You-can-have-it-all vorgaukelt. Scheitern vorprogrammiert. Auf dass die Erwartungen zertanzt und die Messlatten zertrampeln werden!
Und dann kam Mirna
von Sibylle Berg
Regie: Sebastian Nübling, Choreographie: Tabea Martin, Bühne: Moïra Gilliéron, Magda Willi, Kostüme: Ursula Leuenberger, Licht: Jan Langebartels, Dramaturgie: Katja Hagedorn.
Mit: Suna Gürler, Rahel Jankowski, Cynthia Micas, Çiğdem Teke, Aydanur Gürkan / Sarah Böcker, Fée Mühlemann / Nilu Kellner, Zoé Rügen / Amba Peduto, Annika Weitzendorf / Marie Carlota Schmidt.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
http://www.gorki.de
"Es ist ein bisschen so, wie das so ist mit zweiten Aufgüssen. Schmeckte das Original noch stark, eigen, ungewöhnlich, ist der zweite Aufguss eher fade," so Ute Büsing in der Frühkritik beim Inforadio des RBB (25.9.2015). Es handelt sich aus Sicht der Kritikerin um "nicht viel mehr als eine für die Bühne verlängerte Spiegel-Kolumne. Figuren und Handlung sind bei dieser Art von postmodernem performativen Theater abhanden gekommen".
"Sebastian Nüblings angenehm krampffreie Regie verlässt sich auf den schnellen, Haken schlagenden Text, ohne ihn mühsam zu illustrieren", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (26.9.2015). Endlich mal ein Regisseur, der einer Stück-Vorlage vertraue, "statt alles besser wissen zu wollen". Das ist für den Kritiker auch deshalb eine Freude, "weil Sibylle Bergs neues Stück hinter und mit ihrer Hochfrequenz-Pointen-Dramaturgie die Kompliziertheiten und Unerfreulichkeiten, mit denen sich alleinerziehende Mütter abkämpfen, ziemlich genau und für ihre Verhältnisse ungewohnt warmherzig zu fassen bekommt."
"Es ist, wie oft bei Sibylle Berg, ein bisschen so, als würden Depression und Humor einander gegenseitig in die Kniekehlen treten", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (26.9.2015) und gibt großen Spaß an den äquilibristischen Reflexionsslapsticks des Abends (und zwischendurch auch einmal ein spitzes "Kreisch!") zu Protokoll.
"Nicht minder pointensicher und sarkasmusfunkelnd" als das Pilotestückvor zwei Jahren findet Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (26.9.2015) diesen zweiten Teil von Sibylle Bergs Frauenbildsuaden. Insgesamt jedoch ist der Abend aus seiner Sicht aber nicht mehr "ganz so hochtourig hyperventilierend". Auch brettere der Chor gelegentlich über die nachdenklicheren Töne der Kinderstimme hinweg. "Dennoch, dem tollen Ensemble sieht und hört man über 80 Minuten gern zu."
"Berg-typisch spießt die Textcollage Trends der Zeit auf", schreibt Katharina Röben auf welt.de (26.9.2015). Der scharfe Humor treffe, "auch wenn einige Motive altbekannt sind. Sebastian Nübling bleibt der Ästhetik des ersten Teils treu, die leere Bühne füllen die Darstellerinnen mit Leichtigkeit."
In einer Sibylle-Berg-Doppelbesprechung mit "How to sell a Murder House“ (hier zur Kritikenrundschau) schreibt Hubert Spiegel von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.10.2015) über "Und dann kam Mirna": Sibylle Berg habe hier ein "Junge-aber-nicht-mehr-so-jung-wie-sie-glauben-Mütter-Hass-Stück" verfasst, das "von seinen boshaften Beobachtungen und satirischen Zuspitzungen" lebe. Die Spielerinnen "sind grandios, sie tanzen in ihren geblümten Wühltischleggings auf der leeren Bühne gegen die Verhältnisse an, kraftvoll, rhythmisch, rasend komisch und herzzerreißend hilflos."
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Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/09/26/ach-waren-wir-doch-spieser/
Mitte 30 und verzweifelt, aber immer noch im Schlabberpulli und in Trainingsjacken, kehren die wütenden jungen Frauen aus „Es sagt mir nichts das sogenannte Draußen“ ans Gorki zurück.
Unter dem Pulli tragen sie mindestens genauso häßliche, geblümte Umstandskleider: die Träume sind geplatzt, stattdessen schlagen sie sich alleinerziehend mit altklugen, nervigen Gören herum. „Wir können uns neu erfinden“, das Mantra der Ratgeberliteratur, „sagen nur Dummköpfe!“, höhnt der Chor der vier Furien, die sich so viel mehr vom Leben erhofft hatten.
Wie konnte es nur soweit kommen? Auf den Partys standen sie im Abseits, ohne Chance bei den schönen Menschen, die ihre Körper als durchtrainierte Präzisionsinstrumente präsentierten. Da blieb nur Torben, der One-Night-Stand mit ihm war allerdings so prickelnd wie eine mit „Stiefmütterchen bepflanzte Verkehrsinsel“. Und dann kam eben Mirna. Die Teenie-Tochter ist ebenfalls auf vier Schauspielerinnen aufgespalten: vier Mädchen mit Pferdeschwanz und rosa Röckchen, die gleich mal einen Stapel Bücher mit lautem Knall fallen lassen.
Die Mittdreißigerinnen schieben großen Frust: mit dem Idealbild einer warmherzigen, sorgenden, sanften und glücklichen Mutter können sie sich so gar nicht anfreunden, Muttergefühle wollen sich nicht einstellen und das Zusammenleben mit dem Erzeuger ist natürlich überhaupt keine Option. Das Leben sollte eigentlich so weiter gehen wie bisher, nur mit Kind. „Das sogenannte Draußen“ sagte ihnen bekanntlich noch nie etwas, aber nach Mirnas Geburt wurde es noch schlimmer. Einziger Kontakt zur Außenwelt sind die in Mirnas Augen „peinlichen“ Freundinnen, denen es auch nicht besser ergangen ist. Auch für sie wurde die Reproduktion zur „Frauenentsorgungsmaßnahme“. So glasklar und bitterböse kennen wir Sibylle Berg.
Was bleibt dann noch? Den Liebesbrief an David Guetta, den frau, wenn die nervige Tochter nachts im Bett ist, nach einem Gläschen zu viel in den Computer getippt hat, schickt sie dann doch lieber nicht ab. Deshalb scheint die Uckermark die Last exit-Option zu sein: Gemeinsam mit den anderen depressiven Frauen, die „von der Lebensabwicklung genauso erschöpft sind“, und ihren soziopathischen Kindern eine Kommune im leider von Neonazis bevölkerten Umland gründen!
Sibylle Bergs neue Textcollage feuert die bissige Beschreibung der Neurosen einer frustrierten, alleinerziehenden Mittdreißigerin mit der Präsision eines Maschinengewehrs ins Publikum. Die giftig-funkelnden Sätze werden von den Schauspielerinnen manchmal ganz beiläufig dahin gesagt, meist aber mit kollektivem Aufstampfen herausgeschleudert. Regisseur Sebastian Nübling tat gut daran, auf schmückendes Beiwerk zu verzichten. Die Bühne ist leer. Im Mittelpunkt stehen der starke Text und die nicht weniger beeindruckenden Darstellerinnen. Gemeinsam mit Tabea Martin machte Nübling aus einer XXL-Kolumne eine gelungene Choreographie von Gift und Galle spuckenden Frauen.
http://kulturblog.e-politik.de/archives/25965-25965.html