Träum dich schuldig

von Petra Hallmayer

München, 26. September 2015. Die Vorwürfe der Ermittlerin sind erschütternd: "Anstiftung. Vergewaltigung. Sodomie. Mord." Allein: Nichts davon hat wirklich stattgefunden. So hat der Angeklagte Sims auch keinerlei Schuldbewusstsein. Jennifer Haleys Stück "Die Netzwelt", das unter Regie von Amélie Niermeyer im Cuvilliéstheater seine deutsche Erstaufführung feierte, entführt in eine nicht mehr ferne Zukunft. In einem sinnlich erfahrbaren virtuellen Wunderland kann sich jeder von seinen körperlichen Fesseln befreien und fremde Identitäten annehmen. Der unter dem Decknamen "Papa" agierende Sims hat das "Refugium" eingerichtet, einen Paradiesgarten, in dem Menschen sich ihren finstersten Begierden hingeben dürfen, sexuelle Beziehungen mit Kindern eingehen und diese zerstückeln. Pädophilie, erklärt Papa, sei unheilbar, und durch seine Domain schütze er reale Mädchen und Jungen vor Missbrauch. Mit seinem Geschäftsmodell biete er ein fantastisches Versprechen: "Die Möglichkeit eines Lebens jenseits aller Konsequenzen."

Detective Morris aber, deren Ermittlungsarbeit in Rückblenden vergegenwärtigt wird, ist entschlossen, den Spuk zu beenden. Sie setzt Sims' Stammgast Doyle (Götz Schulte), einen alten Lehrer mit Zauselhaaren und Hang zum Philosophieren, im Verhör unter Druck und schleicht sich in der fiktiven Gestalt des jungen Woodnut (Marcel Heupermann) ins "Refugium" ein. Dort begegnet Woodnut der kleinen Iris (klasse: Valentina Schüler), die ihn bald schon verzaubert. Haleys Sci-Fi-Krimi konfrontiert uns mit einem verstörenden Morgen, in dem die Grenzen zwischen Realität und Fiktionalität durchlässig sind. Doyle träumt davon, die Wirklichkeit endgültig zu verlassen, ganz ins "Refugium" überzutreten. Durch Woodnut beginnt das Phantomkind Iris, seine virtuelle Existenz zu hinterfragen und nach echter Liebe zu verlangen. 

Bilder aus dem englischen Kinderbuch

Die besondere Herausforderung, vor die der Text einen Regisseur stellt, ist natürlich, die Netzwelt im Theater abzubilden. Niermeyers Inszenierung, die auf schrille Sex- und Gewaltschockeffekte verzichtet, lässt Videos und Computergrafiken über einen Curved Screen, der die mit Büroschreibtischen möblierte Bühne überspannt, flimmern und kombiniert diese mit traumartigen Spielszenen. Da geistert ein Alice-im-Wunderland-Hase umher, Papas Geschöpfe drehen sich wie Aufziehpuppen um sich selbst, wiegen sich mal mit Pelzkragenjäckchen und Schlittschuhen, mal in Badeanzügen von anno dazumal in Balletteinlagen, die an alte englische Kinderbücher erinnern. Das hat Charme und lockert die statischen Verhörszenen auf, spiegelt allerdings in seiner stilisierten Künstlichkeit nichts von der verführerischen Realitätsnähe der Erlebnisse im "Refugium" wider.

Netzwelt3 560 Armin Smailovic uParadise now? Mitte Norman Hacker (Sims/Papa), Ensemble, links Götz Schulte (Doyle)
© Armin Smailovic

Juliane Köhler als strenge Ermittlerin Morris und Norman Hacker als der einen lässig-liberalen Geschäftsmann mimende Sims, die sich lange argumentative Gefechte liefern, sind zwei starke Kontrahenten. Im Verlauf des Abends gerät Morris' moralische Selbstgewissheit ins Wanken. In Gestalt von Woodnut entdeckt sie erschreckende Seiten ihres Ichs: Ihr Avatar stürzt sich auf die süße Iris und gräbt seinen Kopf zwischen deren Schenkel. Er lässt sich zu mörderischen Schlägen mit der Axt verleiten und berauscht sich an der "Schönheit" des Blutes.

Müssen Fantasien reglementiert werden?

Haleys Text ist ein interessantes Gedankenspiel, wenngleich er sich einige Unschärfen und Kurzschlüsse leistet. Dass eine Frau, die die Identität eines pädophilen Mannes annimmt, damit auch dessen Neigungen verfällt, erscheint doch ziemlich zweifelhaft. Womöglich gibt es ja tatsächlich ein Monster in jedem von uns, aber seine Begierden sind nicht die nämlichen. So geht denn Pädophilie gemeinhin auch nicht mit sadistischen Gewaltexzessen einher, liegt der Verbindung von Missbrauch und Mord eine spezifische Psychopathologie zugrunde. Trotzdem rührt das Stück an eine Fülle spannender Fragen: Hat eine Gesellschaft das Recht, Traumwelten und Fantasien zu reglementieren? Darf die Freiheit im Reich der Virtualität grenzenlos sein? Können simulierte Sexualstraftaten Verbrechen verhindern? Oder stößt man dadurch gefährliche Türen auf? Sind echte Gefühle zwischen Menschen und Avataren möglich?

Aus dem theoretischen Diskursfutter, das die amerikanische Autorin offeriert, und ihren Netzwelt-Visionen lebendiges Theater zu machen, glückt Niermeyer nicht in allen Passagen, und kluge  Straffungen hätten dem manchmal etwas geschwätzigen Text gut getan. Doch wir sehen eine immer wieder fesselnde Inszenierung, die reich ist an Denkanstößen.

Die Netzwelt
von Jennifer Haley
übersetzt von Michael Duszat
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Amelie Niermeyer, Bühne: Alexander Müller-Elmau, Kostüme: Stefanie Seitz, Musik: Fabian Kalker, Licht: Gerrit Jurda, Video: Jan Speckenbach, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Norman Hacker, Juliane Köhler, Götz Schulte, Marcel Heuperman, Valentina Schüler, Lilly Epply, Fabian Felix Dott, Florenze Schüssler.
Dauer: 1 Stunde und 50 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

"Amélie Niermeyer inszeniert den düsteren Plot zaghaft als Mischung aus reellem Polizeiverhör an vier Tischen und waberndem Gruselschocker in virtueller Alice-im-Albtraumland-Atmosphäre, mit seltsam altbacken anmutenden Videobildern", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (28.9.15). "Ein Abend mit viel technischem Aufwand, der einige interessante Fragen aufwirft, rechtlich wie moralisch." Ästhetisch hat die Kritikerin aber "wenig Wagnis" gesehen.

Amélie Niermeyer habe sich der "durchaus komplexen Konstruktion" von Jennifer Haleys Stück "szenisch sehr geschickt genähert" und ihrerseits eine "durchaus beeindruckende deutschsprachige Erstaufführung mit überzeugenden Schauspielern" zustande gebracht, befindet Sven Ricklefs im Deutschlandfunk (27.9.15). Die Inszenierung greife den Suspense-Charakter der Science-Fiction-Geschichte auf und benutze ihn als Movens, "ohne dabei die ethischen Fragen aus dem Blick zu verlieren".

Als "täuschend schlichtes Kunstmärchen" bezeichnet Patrick Bahners in der FAZ (29.9.2015) das Stück von Jennifer Haley. Aphoristisch resümiere es die Internetdebatte über die Zukunft des Internets.

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