Die Wahrheit des Chores

von Geneva Moser

Bern, 3. Oktober 2015. Mit unverkennbarer Handschrift wagt sich Ulrich Rasche in Bern an die Kleist-Novelle "Das Erdbeben in Chili". Gemeinsam mit Komponist Ari Benjamin Meyers inszeniert er stilgetreu Chortheater in Höchstpräzision und führt sein Ensemble wie taumelnde Traumtänzer durch Trümmerfeld und Paradies.

Der Katastrophe entwachsen

Nur vordergründig handelt "Das Erdbeben in Chili" von der nicht standeskonformen und geächteten Liebe zwischen der Tochter des Hauses Asteron und ihrem Lehrer. Nur vordergründig sind diese Liebenden, Donna Josephe und Jeronimo Rugera, die Akteure dieser Novelle. Im Zentrum steht vielmehr das philosophische Fragen des getriebenen Heinrich von Kleist und der apokalyptische Ort, den er sprachlich dafür erschafft. Das Erdbeben von Lissabon, welches 1755 Europa erschütterte, verlegt er um 100 Jahre weiter in die Vergangenheit zurück und einige tausend Kilometer westlicher, nach Santiago de Chile. Diese Naturkatastrophe ist es, die Kleist nach der Ursachenkette von Leid und Zerstörung fragen lässt, nach der Möglichkeit von Hoffnung, nach dem Guten oder Bösen im Wesen des Menschen und im Wesen Gottes.

ErdbebeninChili4 560 Philipp Zinniker uÜberlebende einer Katastrophe in "Das Erdbeben in Chili" © Philipp Zinniker

Für Jeronimo, Josephe und ihr uneheliches Kind bedeutet dieses Erdbeben die Rettung: Die Mauern ihrer Gefängnisse werden zerstört und wie durch ein Wunder finden sich die Liebenden in der zerstörten Stadt wieder. Nicht nur für das Paar erwächst aus der Zerstörung eine neue und bessere Ordnung, auch die Bevölkerung der Stadt solidarisiert sich im Leid und erlebt einen Moment der Verbundenheit. Dass jedoch Schuldige für die Katastrophe gefunden werden sollen, wird dem Paar zum Verhängnis: In der verschont gebliebenen Kathedrale stürzt sich der moraleifrige Klerus und der zornige Mob auf Jeronimo und Josephe. Nur ihr Kind überlebt die Grausamkeit. Das überlebende Kind als Zeichen der Hoffnung und des Trostes, der Katastrophe entwachsen: "und so war es ihm fast, als müsst' er sich freuen", endet die 20 Seiten kurze Novelle.

Stimmgewaltiges Ensemble

Frappant zeitlos ist Kleists Novelle, die in der Inszenierung in Bern keinerlei Aktualisierungsversuche benötigt, sondern nicht-situiert, nicht-adaptiert ins Heute hinein zu wirken weiß. Auch die Figuren sind nicht personifiziert: Erneut huldigt Regisseur Ulrich Rasche nicht nur der Apokalypse, sondern auch der Wahrheit des Chores. Das stimmgewaltige Ensemble schreitet mit präziser Spracharbeit durch das dichte Textgefüge der Novelle. Mit enormer Spannung evozieren sie sprechend die Bilder der Novelle. Hier ächzt eine Stimme, hier schreien Menschen, so Kleist. Der Text ist es, der in Kombination mit Marimbaphon und E-Bass hier den Plot vorantreibt, mit einer Komposition (Ari Benjamin Meyers), die zwischen bassgetriebenem Minimaltechno, melancholischen Glockenklängen und ekstatischer Orgelmusik oszilliert.

ErdbebeninChili3 560 Philipp Zinniker uDas Sprachgefüge durchschreiten: Sebastian Schneider, Deleila Piasko, Nico Delphy, Kornelia Lüdorff, Toni Jessen. © Philipp Zinniker

Radikale Reduktion

Das Schreiten des Ensembles ist durchaus wörtlich gemeint: Eine schwarze, runde Drehscheibe ist ihnen Bühnenfläche, durch ihre Schritte bewegt. Die Sprecher*innen sind beinahe unaufhörlich in Bewegung, sie wandeln und wanken durch dieses streng getaktete Gefüge von Wort und Klang – jedes Wort ein Balanceakt. Rasche reduziert die Mittel radikal: schwarze Kleidung, kaum Mimik oder Gestik, gezielt gesetzte Effekte, spärliche Lichtwechsel. All das kommt der Musikalität des Textes zugute. Es sind die Höhepunkte der Novelle, die Rasche zuzuspitzen weiß: Die utopische Gesellschaft nach der Katastrophe wird ohne Pathosscheu kollektiv besungen und die grausamen Lynchmorde zerfallen in zermürbendes Sprech-Stakkato.

Dieses Partiturentheater hat durchaus eine Künstlichkeit, eine Überstilisierung. Und sicherlich: Abwechslungsreich ist diese Inszenierung nicht. Sie ist perfektionistisch formstreng und regelgetreu. Wie Kleist in "Das Erdbeben in Chili" das Widersprüchliche – Trümmer und Paradies – zusammenführte, so lebt auch diese Inszenierung von der gekonnten Kombination vermeintlicher Gegensätze. Reduktion und Pathos, monolithischer Text und konstante Bewegung, schwarze Bühne und weiße Staubwolke, Repetition und Zuspitzung, Regelwerk und Poesie – Apokalypse und Utopie.

 

Das Erdbeben in Chili
von Heinrich von Kleist
Regie & Bühne: Ulrich Rasche, Komposition: Ari Benjamin Meyers, Kostüme: Romy Springsguth, Dramaturgie: Sophie-Thérèse Krempl.
Mit: Deleila Piasko, Kornelia Lüdorff, Toni Jessen, Sebastian Schneider, Nico Delpy.
E-Bass: Thomsen Merkel, Marimbaphon: Katelyn King.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.konzerttheaterbern.ch

 

Kritikenrundschau

Brigitta Niederhauser schreibt in der Berner Zeitung Der Bund (5.10.2015): "Nicht weniger dicht als Kleists Novelle" und "sehr textgetreu" sei die Inszenierung von Ulrich Rasche. Er mache die dissonanzen, die Kleist aushalte, "im grossen schwarzen Loch der Bühne in ihrer ganzen Schmerzlichkeit und Unerträglichkeit sichtbar" Rasche verzichte auf eine Dramatisierung. Er horche "tief in den Text hinein, schürft seinen Rhythmus frei". Wie unbestechliche Zeugen lasse er die Schauspieler auftreten. "Woher kommen sie? Aus dem Unterbewusstsein? Aus dem Jenseits? Man weiss es nicht." So wichtig wie der fünfköpfige Chor sei in der Inszenierung das Musikerpaar. Produziert werde eine Stimmung von "intensiver Drastik", die stellenweise kaum zum Aushalten sei. Die Sätze hämmerten sich "mit den Musikschlägen direkt ins Gehirn des Publikums". Manchmal wirkten die Schauspieler, die den ganzen Abend laufen müssten, wie "Figuren eines Musikautomaten". Das "Rad des Schicksals, es lässt sich durch nichts und niemandem stoppen": faszinierend und ermüdend auf die Dauer.

In der Berner Zeitung (5.10.2015) schreibt Helen Lagger: Die Inszenierung bleibe "blutleer". Auch wenn "das Publikum zwischendurch angeschrien" werde, erschöpfe sich das Schauspiel vor allem "in blassem Rezitieren". Das Stück drehe sich "wortwörtlich im Kreis" und werde Kleists Drama nicht gerecht. Penetrant blickten die "zunehmend im Chor sprechenden Performer", ins Publikum. Damit solle wohl suggeriert werden, dass auch wir gemeint sind "mit dem Mob, der da richtet". Ein Effekt, der rasch verpuffe. Für "Dringlichkeit" sorge einzig "die musikalische Untermalung".

 

 

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