Presseschau vom 10. Oktober 2015 – Eine Kritik der deutschen Theaterkritik auf SWR2

Tummelplatz für Insider?

Tummelplatz für Insider?

10. Oktober 2015. Der Radiosender SWR2 strahlte am 9. Oktober 2015 eine Sendung aus mit dem Titel "Hart und sehr selbstbewußt!". Eine Kritik der deutschen Theaterkritik. Unter der Gesprächsleitung von Reinhard Hübsch diskutierten Kathrin Röggla, Schriftstellerin und Vize-Präsidentin der Akademie der Künste Berlin; Gerhard Jörder, langjähriger Juror des Berliner Theatertreffens, ehemaliger Feuilletonchef der Badischen Zeitung in Freiburg und Autor der Wochenzeitung Die Zeit, Berlin; sowie Dr. Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele.

Selbstredend drehte sich das Gespräch, da es um Theaterkritik ging, wesentlich auch um nachtkritik.de. Im Folgenden geben wir den Anfang der Diskussion in zum Teil zusammenfassender Transkription wieder. Natürlich ist die direkte Transkription, die hier vorliegt, kein grammatikalisches Leuchtstück. Wir bitten dies in Kauf zu nehmen, weil uns der Originalton wertvoll schien.

Unangemessene Kritik

Reinhard Hübsch: "... In der Theaterkritik brodelt es vernehmlich. Im vergangenen Jahr wagte sich der Schauspieler Ulrich Matthes aus der Deckung, als er Berliner Theaterrezensenten attestierte, sie seien 'hart, sehr selbstbewusst und ein bisschen zu kulturpolitisch'.  Und wer sich hinter den deutschsprachigen Bühnenkulissen weiter umhört, vernimmt ein deutliches Unbehagen auch bei Regisseuren und Intendanten wie Ulrich Khuon und Thomas Ostermeier, Letzterer etwa sieht 'stillschweigende Übereinkünfte in der deutschen Feuilleton-Kritik'. Selbst Kritiker gehen mit der eigenen Zunft hart ins Gericht. Gerhard Jörder, lange Jahre Jury-Mitglied des Berliner Theatertreffens, bescheinigte seinen Kolleginnen und Kollegen jüngst, vielfach 'undifferenziert auf das aktuelle Schauspielgeschehen zu reagieren'. Gerhard Jörder, können Sie zum Start unserer Debatte kurz skizzieren, was Sie Ihren Kollegen und Kolleginnen Rezensenten vorwerfen?"   

Gerhard Jörder: "Da müsste ich vorweg sagen, dass ich auf jeden Fall kein Kollegen-Bashing machen will und keine Nest-Beschmutzung, wie mir das auch schon einmal vorgeworfen worden ist. Ich bin aber wirklich der Meinung, dass Kritik auch Selbstkritik erfordert. Das Theater hat, das müsste man aber vorausschicken und darüber sind wir uns wohl sehr einig, in den letzten Jahrzehnten einen enormen Bedeutungs-, Ansehens-, Reputations- und Legitimationsverlust erlitten – und wie hat das Theater darauf reagiert? Um es mal ganz allgemein zu sagen: erstaunlicherweise nicht mit Konzentration, mit Nachdenklichkeit, sondern mit Hektik, mit Speed. Und in diese Hektik, in diese enorme Geschwindigkeit hinein, die manchmal auch reiner Leerlauf ist, nach meiner Ansicht, stellt sich die Frage: Wie reagiert jetzt die Theaterkritik darauf?"

Hübsch: "Angemessen? Nicht angemessen?" 

Jörder: "Ich meine: nicht angemessen. Das heißt: nicht kontrazyklisch, sondern eigentlich im gleichen Tempo. Sie macht auch Speed, sie macht auch Tempo und sie reagiert eigentlich heftig, schnell und eben mit einigen Dingen, die ich jetzt mal als permanentes Ausrufen von Hype, Sensation, Spektakel bezeichnen würde. Also: Sie hechelt hinterher, statt Konzentration zu schaffen, nachdenklich zu werden."   

Neue Form der Kritik

Hübsch: "Wenn Sie, Herr Dr. Oberender, die letzten 15 Jahre überblicken, hat sich aus Ihrer Sicht die Theaterkritik verändert in dieser Zeit?"

Thomas Oberender: "Ja. Es ist eine neue Form von Kritik entstanden. Man muss dazu sagen, dass sich auch die Theater selber sehr stark in ihrer Arbeitsweise verändert haben. Zur Arbeitsgeschichte der Leiterin des Theatertreffens Yvonne Büdenhölzer gehört auch die sehr erfolgreiche Entwicklung eines Theatertreffen-Blogs. Manchmal wird dem vorgeworfen, es ist die Kritik, die institutionell von den Produzenten eingebaut, in die eigene Veranstaltungskreation mitläuft, also ein Forum, in dem wir unsere eigenen Hervorbringungen quasi kritisch reflektieren und kommentieren lassen  das deutet an, in welche Richtung es geht. Ich glaube, Theaterkritik im alten Sinne, dass einer zu vielen spricht und eine hegemoniale Position der besonderen Einsichtstiefe und Beschreibungshoheit hat, das ist in der Entwicklung der Massenmedien, wie wir sie heute verstehen, obsolet geworden. Kritik ist tatsächlich auch ein Medienphänomen, das durch die Massen betrieben wird, das heißt: Es gibt eine Dezentralisierung der Positionen, es gibt ein Feedback-Verhältnis, das andere Autoritäts-Situationen herstellt."

Hübsch: "Sie haben eben gesprochen von dezentralisiert, dereguliert. Man könnte auch positiv formulieren: demokratisiert, oder negativ: banalisiert?"

Oberender: "Also das Banalisieren würde ich einmal schlicht zurückweisen. Die Debatte wird breiter  geführt, vielleicht anonymer, vielleicht mit unbekannteren Teilnehmern, aber in einer Lebendigkeit, wie man sie sich nur wünschen kann."

Euphorie vorüber, Partizipation versendet sich

Jörder: "Die große Euphorie gegenüber dem Netz, der neuen Partizipation, auch gegenüber der Amateurkritik, der Laienkritik, die dort stattfindet, ist ein bisschen weg. Man hat doch begriffen, dass sich das in der zerstreuten Öffentlichkeit des Netzes auch unglaublich versendet. Man hat nicht den Eindruck, dass diese Blogs irgendeinen Einfluss ausüben, dass sie Multiplikatoren sind für irgendetwas."

Kathrin Röggla: "Das Problem ist, dass ich keine Expertin mehr bin für Theaterkritik und das ist auch schon symptomatisch... Ich brauche Kritik nicht mehr für mein Schreiben. Die Dinge versenden sich, das ist genau der richtige Satz zur Situation."

Reinhard Hübsch: "Ist das nicht die Nichtigkeitserklärung der deutschen Theaterkritik?"

Röggla: "Es hängt auch mit der Situation der Theater selbst zusammen. Ich würde mich selbst schwer tun, einen Satz zur Situation der Dramatik von mir zu geben, wo ich irgendeinen Überblick darbiete, weil sehr viel produziert, sehr viel uraufgeführt wird, das ich gar nicht in die Hände bekomme."

Theoriegläubigkeit in Berlin

Jörder: "Die Kritik hat den einen Ort nicht mehr, von dem man weiß: Hier findet etwas statt. Die Dezentralisierung, die ja im Prinzip etwas sehr Demokratisches hatte, hat viele Orte geschaffen. Die Regionalzeitungen haben überhaupt keinen Überblick mehr, die machen praktisch nur noch Kirchturm und Heuhaufen, die überregionalen Zeitungen haben die Theaterberichterstattung ganz stark schrumpfen lassen. Der Theaterkritiker ist in diesen Blättern längst nicht mehr das, was er einmal war: meistens die Nummer eins, der Feuilleton-Chef. In der Sparten-Konkurrenz der Blätter hat das Theater ganz schwer verloren. Und jetzt kommt das Netz: Wir haben in Deutschland mit nachtkritik.de ein Portal, das, kann man sagen, eine Erfolgsgeschichte ist. nachtkritik de ist ein Portal, das gut arbeitet und viele Verdienste hat, dennoch muss ich sagen, die Diskursecke nachtkritik.de und diese bestimmte Theoriegläubigkeit, die sich dort akkumuliert hat, eine Art neuer Schwarm-Intelligenz, halte ich für ziemlich problematisch. Berlin wird dort noch partizipatorisch wahrgenommen vom Publikum, aber gehen Sie mal in Münchner Aufführungen, in Wiener Aufführungen, da nimmt niemand teil, diese Art von Theorie- und Diskursgläubigkeit, wie sie bei nachtkritik.de vorhanden ist, wird von anderen Landschaften, in denen ganz anderes Theater gemacht wird, überhaupt nicht so geteilt. Berlin ist da eine ganz eigene Theoriehochburg."

Röggla: "Aber nachtkritik bringt ja ganz viele regionale ... für mich ist das ein Portal, auf das ich gehe, wenn ich mich über Osnabrück informieren möchte ..."

Jörder: "Haben Sie mal gesehen, wieviel Post [gemeint sind Kommentare auf nachtkritik.de] von da kommt?"

Gedächtnis ins Netz gewandert

Oberender: "nachtkritik.de ist das Einzige, das uns zur Verfügung steht. Das muss man nämlich auch sagen, wenn Sie sagen 'es versendet sich'. Das Interessante am Netz ist ja, dass dort nichts vergessen wird. Und diese Funktion, die früher regionale Theaterkritik in kleinen Blättern, aber auch die großen Blätter, die mal aus den Regionen berichtet haben – das ist ja fast völlig verschwunden –, hat jetzt die Online-Kritik übernommen. Unser Gedächtnis ist längst von den Zeitungen ins Netz gewandert. Nicht nur in Portale wie nachtkritik.de, sondern auch in die Häuser selbst. Fast jedes große Haus hat heute sein eigenes Archiv, das online zugänglich ist, sein Blog, das das öffentliche Tagebuch der eigenen Denkprozesse und Veranstaltungsgeschichte ist."

Hübsch: "Warum? Hat das Theater an Stellenwert verloren?"

Jörder: "Das Theater hat an Stellenwert verloren, da bin ich vollkommen überzeugt. Das Theater war vor 20, 30 Jahren im Zentrum der städtischen Kulturgesellschaft, das ist heute nicht mehr der Fall. Die Theaterleute selber merken das nicht. Ich habe mehrere hundert Publikumsdiskussionen gemacht, ich bin ja nicht der klassische Kritiker, und habe schon dabei oft gemerkt, wie weit der Abstand ist, zwischen dem, was Kritiker umtreibt, und dem, was ein Publikum wissen, erfahren und erleben will. Das ist das eine.
Aber ich muss unbedingt noch einmal etwas zum Thema Internet sagen: Sie haben ja vollkommen recht, da ist ein Archiv entstanden, großartig, und das ist zum Beispiel auch bei nachtkritik.de wirklich sehr gut. Ich wollte nur auf bestimmte Diskurs-Gewohnheiten und bestimmte Diskurs-Gläubigkeiten der Kritik aufmerksam machen. Da kann ich nur sagen, da sind größte Teile eines Publikums, aber auch übrigens der jungen Leute, die tendenziell an Theater interessiert wären und da mal reingucken – an diesen Diskursen sind sie überhaupt nicht interessiert."

Insiderei

Oberender: "Sie entwickeln so ein abschreckendes Bild von dem Diskursgeschehen, sagen wir mal auf nachtkritik.de. Ich würde sagen, es gab in der Geschichte noch nie ein so hohes Involviert-Sein der Theaterliebhaber in der Auseinandersetzung über Theater, das Mitreden, das Liken, das Retweeten, das Weiterleiten, das Vernetzen, das hat doch einen so hohen, emotional vorwärts getrieben Kommunikationsprozess erzeugt wie noch nie in der öffentlichen Auseinandersetzung über Theater ..."

Jörder: "Ja, von Insidern!"

Oberender: "Nein, nicht nur von Insidern, das sind eigentlich alles gerade nicht die Insider, es sind die Theaterbesucher, es sind die Liebhaber, aber es sind auch die ..."

Jörder: "... es sind fast alles Theaterleute aus der zweiten oder dritten Reihe, die da posten, ich sag Ihnen, das ist The-ater-in-sid-erei!"

Oberender: "Das glaube ich auf keinen Fall."

Andere Interessen beim Publikum

Jörder: "Nein? Da will ich einen Theatermann wie Wilfried Schulz zitieren ..."

Oberender: "Ist sein Bürgertheater auch Insiderei?"

Jörder: "... der hat gerade kürzlich im Jahrbuch von Theater Heute gesagt: 90 Prozent dessen, was da in den Diskursen – übrigens auch beim Theatertreffen und natürlich auch in den Zeitungen – in den Feuilletons stattfindet, habe mit der Realität unserer Theater vor Ort nichts mehr zu tun. Das sind andere Wirklichkeiten, andere Wirksamkeiten, andere Publikumsinteressen. Da gibt es einen Dissens. Er sagt, das war vor 20 Jahren auch so, dass Kritikermeinung nicht identisch war mit dem, was so ein Publikum, einen Zuschauer umtreibt, aber er sagt, es fällt STARK auseinander."

Hübsch: "Haben Sie das Gefühl, dass die Printmedien da dichter dran sind als die Internetmedien?"

Jörder: "Ich glaube schon. Ich glaube, dass durch die Regionalität der Printmedien – ich komme ja von einer Regionalzeitung, ich hab 25 Jahre in der sogenannten Provinz, in Freiburg gearbeitet – eine große Bindung entsteht zwischen Schreibern, zwischen Diskussion, Leserbriefen und Publikum. Da gibt's ein Hin und Her, eine Fluktuation und einen Austausch, der im überregionalen Bereich so nicht stattfindet."

Fehlende Tiefe

Röggla: "Das finde ich alles gar nicht so interessant. Das Problem scheint mir mehr zu sein, dass der Diskurs über das Theater nur noch selten lange Argumentationsketten kennt und in die Tiefe geht, das ist immer mehr so eine Art Dabeisein. Es gibt kein Nachdenken über unsere Gesellschaft, kein Abgleichen des Theaters mit dem ..., das findet viel zu wenig statt, deshalb interessiert es mich auch nicht."

Jörder: "Genau. Es handelt sich um eine Debattenkultur, die eigentlich der Selbstbeschäftigung von Kritikern und Intellektuellenkreisen dient. Und ich sage Ihnen auch, dass die Kritik natürlich in dem Spiel der drei Kugeln – Publikum, Theater, Kritik – seit vielen, vielen Jahren ganz stark und ausschließlich auf die Theater selber gerichtet ist. Das Gespräch zwischen diesen beiden Gruppen ist viel stärker ausgebildet – das Publikum wird außen vor gelassen."

Oberender: "Ich glaube, das Publikum hat noch nie so viel mitgeredet oder mitreden können wie im Moment."

Es geht dann noch über 20 Minuten weiter um literarische Kritik, die es nicht mehr gibt, um die Rudelbildung der Berliner Kritiker, die es etwa seit der Gefolgschaftsbildung um das Theater von Frank Castorf gebe, es geht um die Repolitisierung des Theaters, um die Diskursivierung des Theaters bei Jelineks / Stemanns "Die Schutzbefohlenen", über das Insidertheater beim diesjährigen Theatertreffen, über den neuen Typus des in allen Bereichen versierten Kulturkritikers, über die größeren essayistischen Versuche, große Linien in der Ästhetik zu besichtigen, über die fehlenden Schauspielerbeschreibungen, über das neue Lettre-Heft nur zum Theater (über das auf nachtkritik.de demnächst gehandelt werden wird) und über die neue Beurteilungs-Impotenz. Unter anderem.

(SWR2 / jnm)

 

Das gesamte Gespräch auf SWR2 können Sie hier nachhören.

Mehr zu der Diskussion über Kritik und nachtkritik.de im Lexikonbeitrag Theaterkritik.

 

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