Im Rausch der Flammen

von Elisabeth Maier

Heidelberg, 10. Oktober 2015. Die letzte Bibliothek der Welt geht in Ray Bradburys Zukunftsroman "Fahrenheit 451" in Flammen auf. Und mit ihr die Hüterin der Literatur, die schrullige Mrs. Hudson. Der ungarische Regisseur Viktor Bodó zeigt den Klassiker der dystopischen Literatur, mit dem der amerikanische Autor und Journalist 1953 den Durchbruch schaffte, als pessimistisches Science-Fiction-Spektakel. Mit dem Videokünstler András Juhász und einem deutsch-ungarischen Ensemble nimmt er die Zuschauer im Theater Heidelberg auf eine atemberaubende Bilderreise mit.

Wo die Bücher brennen

Die Ästhetik des international gefragten Ungarn Bodó verblüfft. Schnelle Kamerafahrten bestimmen das Tempo. Auf die Wand projizierte Bücherregale drehen sich um den Protagonisten Guy Montag. Sein Job ist es, Literatur zu verbrennen. Denn die Feuerwehrleute, die einst Brände löschten, sind im neuen System selbst die Brandstifter. Doch Montag, der die Welt von literarischen Größen wie Thomas Mann und Rudyard Kipling säubern soll, zweifelt an seinem Tun. Fragend schaut Steffen Gangloff als Guy Montag in eine Welt, die er nicht mehr begreift. Dann verschwimmt die Projektion. Antiquierte braune Buchrücken lösen sich in weißes Nichts auf. Ein Bändchen rettet der Abtrünnige noch vor dem Feuer. Im totalen Überwachungsstaat, den Bradbury als Zukunftsvision entwirft, stempelt ihn das zum Aussätzigen.

fahrenheit 29 560 Annemone Taake uDie Fascho-Feuerwehr: Károly Hajduk, Steffen Gangloff, Nóra Rainer-Micsinyei, Hans Fleischmann, Pál Kárpáti, Dominik Lindhorst-Apfelthaler © Annemone Taake

"Fahrenheit 451" verfilmte der französische Regisseur Francois Truffaut 1966 mit den Stars Julie Christie und Oskar Werner. Der Titel bezieht sich auf die Temperatur, bei der Buchpapier Feuer fängt. Das Thema des Überwachungsstaats ist selbstredend brandaktuell, um im Bild zu bleiben. Auch die moderne Mediengesellschaft beeinflusst das Denken. Nachrichtenschwemme und Bilderflut dämpfen die kritische Reflexion. Genau da hakt die kluge Inszenierung ein. Wenn Olaf Weißenberg als Intellektueller Faber die Geistlosigkeit der Zeit anprangert, klingt das beklemmend gegenwärtig.

Klaus von Heydenabers Kompositionen, zum Teil von den Musikern des Philharmonischen Orchesters Heidelberg interpretiert, passen in sein monumentales Werk. Sinfonische Schwere beherrscht er ebenso wie leicht plätschernde Kaufhausmusik. Unerwartete Wechsel der Perspektive prägen die Dramaturgie. Plötzlich sind die Scheinwerfer auf die Zuschauer gerichtet, die ihre Lesegewohnheiten verraten sollen. Dann flirren Ornamente über die leere Bühne, und das minutenlang. Theatermagier Bodó, der gern Sehgewohnheiten auf den Kopf stellt, setzt auf sinnliche Bilder. Doch mit dieser verspielten Bilderflut schießt der innovative Künstler, 2014 mit seinem Heidelberger "König Ubu" für den Faust-Theaterpreis nominiert, gelegentlich übers Ziel hinaus.

Der entflammte Feuerwehrmann

Dennoch bleibt die Handlung packend. Das Leben des braven Feuerwehrmanns Guy Montag und seiner Barbie-Gattin Mildred gerät aus den Fugen. In Juli Balázs betongraue Bühne fressen sich Bilder, die Angst einflößen. Da operieren vier Ärzte in gelben Overalls der frustrierten Hausfrau Mildred die Verdauungsorgane heraus. Die verschreckten Gesichtszüge Zita Tébys sind überlebensgroß auf die Leinwand gebannt. Wenig später entsorgt Guy ihre alte Leber im Feuer. Sex hat Montag nicht mit seiner Frau. Er lässt sich von einem Loch in der Wand befriedigen. Das Ehepaar kommuniziert nur beim gemeinsamen Frühstück aus der Konserve. Feuerwehrhauptmann Beatty, bei Hans Fleischmann ein großer Grantler, stört immer wieder das fragwürdige Familienidyll.

Was die Theaterkunst Bodós so besonders macht, ist sein Gespür für die Schauspieler. Sein technisch perfekt inszeniertes Medienspektakel lässt auch für Gefühle Platz. Als das Mädchen Clarissa dem obrigkeitshörigen Guy Montag begegnet, ist nichts mehr so, wie es war. Klug hinterfragt Lisa Förster seine Systemtreue. Augenblicke der Liebe, die Steffen Gangloffs Montag mit ihr erlebt, unterbrechen am Ende sogar die schale TV-Kost der vom Staat diktierten Dauerwerbesendung. Dem ehemaligen Feuerwehrmann gelingt die Flucht in ein Reich geistiger Spielwiesen. Doch die gibt es in Bodós futuristischem Planspiel eben nur im Film.

 

Fahrenheit 451
nach Ray Bradbury
Aus dem Englischen von Ulrich Fischer
Regie: Viktor Bodó, Bühne: Juli Balázs, Kostüme: Fruzsina Nagy, Video: András Juhász, Musik: Klaus von Heydenaber, Sounddesign: Gábor Keresztes, Dramaturgie: Anna Veress und Sonja Winkel, Dramaturgische Beratung: Peter Kárpáti, Beratung Fassung: Sandra Rétháti, Übersetzung: Anna Veress, Einspielung der Komposition: Philharmonisches Orchester Heidelberg. Musikalische Leitung: Robert Farkas.
Mit: Steffen Gangloff, Hans Fleischmann, Dominik Lindhorst-Apfelthaler, Pál Kárpáti, Károly Hajduk, Nóra Rainer-Micsinyei, Olaf Weißenberg, Lisa Förster, Christina Rubruck, Zita Téby.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theaterheidelberg.de

 

Kritikenrundschau

"Überwältigende Bilder, rauschhafter Sound, das muss man gesehen haben", Volker Oesterreich hat in der Rhein-Neckar-Zeitung (12.10.2015) nur lobende Worte für Bodós Fahrenheit 451. Ein Glücksfall des Theaters, weil einfach alles stimmt: "die Wahl eines packenden Stoffs; das preisverdächtig gut gelungene Bunker-Bühnenbild von Juli Balázs; der Bilderrausch, den die überwältigenden Projektionen mit atemberaubenden Perspektiven und flotten Schnitten ergeben (Video: András Juhász); das Spiel des deutsch-ungarischen Ensembles; und der symphonische Soundteppich, der Ängste genauso klangmächtig heraufbeschwört wie die stellenweise aufkeimend Hoffnung auf ein kleines bisschen Glück." Ein Gesamtkunstwerk, bühnenwirksam von der ersten bis zur 120 Minute, "Bodó glückt etwas Ureigenes. Und das mit einer Detailverliebtheit, die fasziniert".

Bodó mache "Fahrenheit 451" zu einem "unterhaltsamen Stück mit viel Klamauk und maximal bedrückenden Einsprengseln", bleibe aber leider in vielen Bereichen an der Oberfläche, findet Sandra König im Mannheimer Morgen (13.10.2015). "Obschon kurzweilig", kranke das Stück an "einigen Inkonsequenzen". Immerhin: Als "beeindruckend und extrem pfiffig" erweise sich die Bühne von Juli Balász.

 

 

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