Magazinrundschau Oktober 2015 – Die drei Theaterzeitschriften und Lettre International sprechen über Aufgaben von Theater und Kritik und zielen aufs Grundsätzliche

Geil soll es sein, aber stören darf es nicht!

Geil soll es sein, aber stören darf es nicht!

von Wolfgang Behrens

21. Oktober 2015. Die deutsche Bühne widmet sich in diesem Monat der Theaterkritik in der Provinz, Theater der Zeit fragt nach dem Auftrag des Theaters "in dürftiger Zeit", Theater heute gedenkt Bert Neumanns, und Lettre International verdammt Managerintendanten und Kuratoren.

Die deutsche Bühne

Die Kritik ist offenbar gerade mal wieder dabei, sich selbst zum Thema zu werden. Bei Suhrkamp erschien dieser Tag ein Buch von Thomas Edlinger zum "Unbehagen an der Kritik",  wobei hier Gesellschaftskritik im Allgemeinen gemeint ist. Der SWR wiederum sendete kürzlich eine schlagkräftig besetzte Diskussionsrunde, die sich im Besonderen mit der "Kritik der deutschen Theaterkritik" beschäftigte. Das Oktober-Heft der Deutschen Bühne schließlich wird noch spezieller und fragt nach der "Kritik in der Provinz". Liest man den Schwerpunkt, so stößt man immer wieder auf zwei Thesen, deren eine wenig, die andere umso mehr überrascht. These 1: Um die Kritik in der Provinz ist es recht trostlos bestellt. These 2: Theater will kritisiert werden. Unbedingt.

DDB 10 15 180Für These 1 lassen sich viele Belege sammeln. Chefredakteur Detlef Brandenburg zitiert den Satz einer Schauspielerin, die beklagt, dass in Kritiken ihrer lokalen Zeitung oft nur "der Inhalt des Stückes nacherzählt" werde, "wir werden alle brav genannt – und das war's dann. Das bringt uns leider sehr wenig." Der Schauspieler Udo Samel hadert damit, dass die Zeitungen den Kritikern keine Fahrten mehr bezahlen: "so erfahren wir nicht mehr, was in der Provinz passiert." Die Pressesprecherin des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters Andrea Möller stellt fest, dass sich die Zeitung nur für die "Strukturdebatte" interessiere. "Aber das ist eher eine Art Katastrophenjournalismus, man interessiert sich für den politischen Konflikt, für den drohenden Crash. Am eigentlichen Kern unserer Existenz, am Theater als Kunstform, geht das Interesse immer mehr vorbei." Auch die neuen Medien böten keinen Ersatz (wobei nachtkritik.de immerhin für Verdienste in der Provinz beifällig erwähnt wird – danke sehr!), denn – so Detlef Brandenburg – "für die öffentliche Wahrnehmung der Theater könnten sie nicht das erreichen, was eine gute Lokal- oder Regionalzeitung erreicht: eine Öffentlichkeit, die über das Interesse der Fachleute hinausgeht." Auch mangele es oft an Qualitätsmaßstäben für Kritik. So sterbe "die Berichterstattung über die Theater 'in der Fläche' langsam aus".

These 2, "Theater will kritisiert werden", hätte mich übrigens weniger überrascht, hätte sie geheißen: "Theater will belobigt werden." Aber nein, Peter Grisebach, Intendant des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters, sagt: "Journalistische Betreuung ist wie Applaus – wenn das ausbleibt, dann sind wir im luftleeren Raum." Und sogar: "wir leben von der Kritik. (...) Wenn wir wissen wollen, wo wir stehen, dann brauchen wir die Kritik. Und wir brauchen die kontinuierliche Kritik, damit wir erkennen können, wie verschiedene Produktionen zueinander stehen, wie wir uns entwickeln." Noch weiter geht Dietmar Kobboldt, der Leiter der Kölner Theaterkonferenz (einer Interessenvertretung mit über 50 Bühnen und Gruppen), der 2009 mit einem Kollegen die Zeitschrift aKT ins Leben rief, um eine (von den Theatern mitfinanzierte) Berichterstattung über freies Theater in Köln zu ermöglichen. 2014 war das Projekt "finanziell nicht mehr zu stemmen", aber Kobboldt sagt: "Ich würde nicht ausschließen, dass über fünf Jahre aKT mit ihrer kritischen Berichterstattung auch dazu geführt haben, dass das freie Theater in Köln besser geworden ist und es den Printmedien deshalb heute lohnender scheint, darüber zu berichten (...)." Das ist doch eigentlich ein schönes (und für mich als Kritiker kaum glaubhaftes) Bild: der Kritiker als externer Dramaturg.

Theater der Zeit

In der Oktober-Ausgabe von Theater der Zeit unterhalten sich die Redakteure Dorte Lena Eilers und Gunnar Decker mit den Intendanten Sewan Latchinian (Rostock) und Lars-Ole Walburg über den Auftrag des Theaters "in dürftiger Zeit". Latchinian unterscheidet dabei zwischen einem äußeren Auftrag ("ein Vierspartentheater zu optimieren") und einem inneren (hier bietet Latchinian eher Konfektioniertes: "Empathie wecken", "Toleranz fordern"). Walburg hingegen stellt einige der äußeren Aufträge in Frage: "Die Politik konfrontiert uns ständig mit Aufträgen, bei denen wir uns fragen müssen, ob das überhaupt unsere Aufträge sind. (...) So etwa, wenn die Politik versagt, wie in der Flüchtlingsfrage. Das Problem existiert seit Jahren, und plötzlich stellen sich alle bis zum Innenminister hin und tun so, als seien sie davon völlig überrascht worden. Und dann wird hektisch gefragt: Was macht ihr denn dazu? Aber wir machen seit Jahren ständig etwas mit Flüchtlingen und für Flüchtlinge, über Abschiebepraktiken in Deutschland. So zu tun, als müssten wir jetzt sofort Stücke, die es noch gar nicht gibt, zu diesem Thema auf die Bühne stellen, ist geradezu abstruser Aktionismus." Auf einen aphoristischen Punkt bringt es letztlich Gunnar Decker: "Natürlich muss Kunst aktuell sein, aber diese falsche Aktualisierung nimmt auch etwas von dem Fantasie- und Denkraum wieder weg. Das Fremde ist ja nicht nur jemand, der aus Syrien kommt, sondern etwas, das man in sich trägt."

TdZ 10 15 180In einem weiteren Gespräch des Heftes, einem gekürzten Vorabdruck aus dem Buch "Dreiunddreißig Begriffe" des Diaphanes Verlags, ringt der Autor, Regisseur und Aktionskünstler Milo Rau um den Begriff Realismus. Etwa: "Ich glaube, der Neue Realismus ist ein Versuch, die ungeheure Schere zwischen dem, was tatsächlich geschieht, und dem, wie wir darüber sprechen, zu schließen. Es ist bedauerlich, aber wir können uns nicht länger mit Pegida-Bashing und Repräsentationskritik beschäftigen, wenn die globale Wirtschaft längst übernational und ahistorisch agiert." Rau stellt den realistischen Künsten insgesamt kein gutes Zeugnis aus: "Der Sozialismus ist tot, die Klimakatastrophe ist unvermeidlich, die Geschichte der Menschheit neigt sich ihrem Ende zu. Und es gibt keine Kunst und keine Theorie, die nur annähernd auf der Höhe dieser Entwicklungen wäre." Für Rau jedenfalls soll der "realistische Künstler utopische Lebenszeit generieren", indem er eine Situation erzeugt, "die für die Beteiligten alle Konsequenzen des Realen in sich trägt, die moralisch, politisch und existentiell offen ist." Das "Zwingen und Würgen der Wirklichkeit, damit sie das Imaginäre, das Utopische, das Zukünftige ausspuckt, das wäre für mich realistische Kunst." Wäre das der Auftrag für Latchinian und Walburg, hätten sie daran wohl ziemlich zu knabbern.

Theater heute

Da Theater heute im September sein Jahrbuch präsentierte, hat sich das Gedenken an den Ende Juli verstorbenen Bühnenbildner Bert Neumann bis in den Oktober hinausgezögert. Dafür ist es ein höchst würdiges geworden: Eine großartige Bilderstrecke rahmt Nachrufe von den Regisseuren Johan Simons und René Pollesch sowie einen Essay des Chefredakteurs Franz Wille. Letzterer schreibt über Neumanns Bühnen: "Zwei möglichst widersprüchliche Perspektiven waren das Mindeste, was Neumann suchte, gerne mehr. (...) Wo andere Bühnenbildner akribisch auf Sichtlinien achten, damit nur jeder im Parkett unverbauten Einblick ins Kunstwerk genießt, organisierte Neumann variantenreich Sichtblockaden (...). Die Wahrheit dieser Räume war die sichere Gewissheit, dass man auf jede Wahrheit nochmal anders draufschauen kann." Und René Pollesch erinnert – wie schon in seiner Laudatio auf Bert Neumann anlässlich des Hein-Heckroth-Bühnenbildpreises – daran, dass es eine Erfindung Bert Neumanns gewesen sei, Bühnenräume zu kreieren, die sich um Autonomie sorgen. "Und zwar nicht um die Autonomie eines vereinzelt agierenden originären Genies, sondern um die Autonomie und Souveränität eines Berufsstandes wie dem des Bühnenbildners. Also nicht, der Bühnenbildner baut für einen Regisseur ein Bühnenbild, sondern umgekehrt, der Regisseur macht ein Stück für ein Bühnenbild. Man lädt nicht vier Regisseure ein, den 'Ring' zu inszenieren, und die dann vier Bühnenbildner, sondern man lädt sechs Regisseure ein, um ein Bühnenbild zu bespielen. Die Erfindung ist hier also: der Bühnenbildner muss kein Dienstleister sein. Er ist der erste Autor des Theaterabends."

TH 10 15 180Zudem hat Theater heute den 25. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung zum Anlass genommen, einmal gebündelt auf das Schicksal der ostdeutschen Bühnen seit 1990 zu schauen. Mit dieser Aufgabe betraut wurde Torben Ibs, der zum Thema "Theater in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995" promoviert hat. Ibs hat interessante Zahlen parat: Von 68 DDR-Theatern wurden 18 Theater zwischen 1992 und 2014 verschmolzen. Außer in Halle (Peter Sodann) und Anklam (Wolfgang Bordel) wurden alle Intendanten aus der DDR-Zeit zügig ausgemustert. Kurzintendanzen eingerechnet, wurden 46 Prozent der Posten mit West-Importen besetzt ("Das ist viel im Vergleich zur Wirtschaft, wo nur 20 Prozent der Führungskräfte aus dem Westen kommen, aber wenig im Vergleich zu den Spitzen der Länderverwaltungen, wo es bis zu 80 Prozent sind.") Und: "Frauen bleiben generell außen vor, lediglich in Frankfurt an der Oder wird eine Intendantin, die West-Berliner Kulturmanagerin Marie-Luise Preuß, verpflichtet." Was all das über die Institution Theater als Abbild der Gesellschaft aussagt und ob es überhaupt etwas aussagt, mag jeder für sich selbst interpretieren. Offenbar jedenfalls findet sich das Theater irgendwo in der Mitte zwischen freier Wirtschaft und Länderverwaltung wieder ...

Lettre International

Die europäische Kulturzeitschrift Lettre wartet in ihrer 110. Ausgabe, der Herbst-Ausgabe 2015, mit einem ihrer üppigen Theaterschwerpunkte auf. Er enthält unter anderem zwei der nahezu uferlosen, sich über viele der wahrhaft nicht kleinen Lettre-Seiten hinziehenden Gespräche von Frank M. Raddatz (die nun noch weitaus umfangreicher sind als seinerzeit bei Theater der Zeit). Diesmal spricht Raddatz mit der Schauspielerin Bibiana Beglau und mit der Regielegende Dieter Dorn. Es hätte allerdings noch ein drittes Gespräch geben sollen, nämlich ausgerechnet mit Bert Neumann, mit dem sich Raddatz nur eine knappe Woche vor dessen plötzlichem Tod bereits zu einem Vorgespräch getroffen hatte. Lettre veröffentlicht Notizen aus diesem Gespräch, die nun plötzlich wie ein Vermächtnis wirken, obwohl sie in keiner Weise so angelegt sind. Neumann stellt sich hier die Frage, ob "Künstler noch Macht haben" dürfen. "Oder geht allmählich die gesamte Macht an Leute über, die über die Verwertung von Kunst befinden – Museumskuratoren, Kulturfunktionäre oder Zuständige, bei denen man Anträge stellt, um Gelder zu bekommen." Neumann ist zutiefst skeptisch gegenüber den Abhängigkeiten, die Künstler in der Arbeit mit Kuratoren und Sponsoren eingehen. Der Text endet mit illusionslosen Sätzen, die über die Verbiegung und Instrumentalisierung eines Kunstwerks von kuratorischer Seite sprechen: "In aller Unschuld wird einem gesagt: 'Laut sein darf es nicht. Und stören darf es auch nicht.' Geil soll es sein und irgendwie anders, stören aber darf es nicht. Die Störung, das wäre genau der Witz daran gewesen."

Lettre 10 15 180Unterstützung erhält Neumann im selben Heft vom Dramaturgen Bernd Stegemann, der hier seine bereits andernorts (z.B. hier und hier) geäußerte Kritik am Kuratorensystem präzisiert und dazu historisch weit ausholt. Stegemann erhebt in seinem Text ("Künstlertheater jetzt") das Ensembletheater nach dem Vorbild Max Reinhardts oder Stanislawskis zu einem Ideal: ein Ensemble aus Schauspielern, "die daran glaubten, daß 'schauspielen' vor allem miteinander spielen meint." Die erste Störung dieses Ensemblegedankens geht von der wachsenden Machtfülle der Regieposition aus, die den Schauspieler auf Dauer "vom autonomen Künstler zum abhängig Beschäftigten macht." Durch die Einführung der Managerintendanten und in letzter Konsequenz durch den Kurator werde diese Entfremdung indes auf die Spitze getrieben. "Das eigentliche Kunstwerk ist nicht mehr das von einem Künstler produzierte Werk, sondern die Zusammenstellung und diskursive Umrahmung aller Werke. (...) 'Ensemble' wird nunmehr das genannt, was der Kurator zusammengestellt hat, damit es seine Vorstellung reproduziert. (...) Das Ensemble verfügt nicht mehr über eine gemeinsame künstlerische Kraft, die über Arbeitserfahrungen zusammenwachsen und sich entwickeln kann, sondern es ist eine Gruppe von Menschen, die kuratiert worden sind. Welche Kunst sie ausüben, ist nebensächlich, da sie eine vom Kurator bestimmte Funktion zu übernehmen haben." In der Fußnote versteckt findet sich dann der Beleg, nämlich eine Aussage Chris Dercons, des künftigen Volksbühnen-Intendanten: "Alles ist Ensemble, was ich dazu mache." Ja, das wird sicher geil mit Dercon. Aber wird es auch stören?

 

Kommentare  
Magazinrundschau Oktober: lesenswertes Dorn-Interview
einfach mal -wer es noch nicht gesehen haben sollte- Dercon mit Lilienthal auf youtube sehen, aus der Arte Sendereihe "durch die Nacht mit.." . Der (...) Dercon mit dem ach so authentischen Lilienthal. Höhepunkt ist der Edelbesuch beim Knipser Tillmann und die Diskussion darüber, ob man nun eigentlich zur Upperclass gehört, oder nicht ( ach nee.. ;-)

Dercon in Berlin ist der Anfang und Lilienthal in München schon das Ende. Dazwischen war mal irgendetwas..

mir kommt das so vor wie Ende der 90er , als die Dotcom Welle die Welt überspülte . Daher ist das - wenn auch- etwas nostalgisch geratene Interview im Lettre mit Dorn- sehr lesenswert. (...)
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