Jugend als Scharnier

von Sabine Leucht

München, 22. Oktober 2015. Die 17-jährige Nancy ist die symbolischste Figur in John Cassavetes' Film "Opening Night". Sie taucht auf, um zu sterben, nicht ohne zuvor ihre grenzenlose Liebe zur großen Schauspielerin Myrtle Gordon an die Frau gebracht zu haben. Sie, die noch die Durchlässigkeit der Jugend hat, diese Gefühle "so nah an der Oberfläche", wird – mit ihrem Autogramm praktisch noch in der Hand – vor Myrtles Augen überfahren. "Wie ein nasser Sack" heißt es in Bernhard Mikeskas und Lothar Kittsteins Bühnenversion des Filmes über eine aus dem Ruder laufende Broadway-Inszenierung, in der Cassavetes und seine Frau Gena Rowlands selbst ein Theaterpaar spielten, das inszenierte Ohrfeigen sich zu echten Verletzungen auswachsen ließ und völliges Von-der-Rolle-Sein zu einem Bühnenerfolg. Der Film über die Allgegenwart des Sich-Verstellens in Beziehungen und über Myrtles Angst, nach einem Erfolg mit der Rolle einer alternden, ungeliebten Frau endgültig ins Menopausen-Fach zu rutschen, hat schon etliche Theaterregisseure inspiriert.

Fleisch gewordene Kränkung

In München erinnert man noch das Gastspiel der Toneelgroep Amsterdam mit der im Vollsuff noch stolzen Elsie de Brauw. Ihr gegenüber wirken Hanna Scheibe und Michaela Steiger blass und resigniert. Diese beiden können zwar noch beißen, aber nicht(s) mehr gewinnen. Damit das weniger auffällt, werden in einem Teil des hier zweigeteilten Theaterabends ihre Mitspieler auf die Betriebstemperatur mittelbegabter Statisten heruntergedimmt. Wie ein Stück Holz steht Arthur Klemt auf dem zur handtuchtiefen "Hinterbühne" zusammengezurrten Proszenium, wo er als Myrtles Vielleicht-Lover, auf jeden Fall aber Bühnenpartner und Fleisch gewordene Kränkung im Einsatz ist. Mit stumpfem Blick seinen Kaugummi kauend, zur Ohrfeige ausholend wie einer, der versucht, einen sehr schlechten Ohrfeiger zu mimen, welcher zudem weiß, dass seine Kunst von der Zu-Ohrfeigenden geringgeschätzt wird.

Opening Night2 560 Konrad Fersterer uFrau im Spiegel: Hanna Scheibe als Myrtle © Konrad Fersterer

Seine Haltung aber ist offenkundig nebensächlich in dieser Szene, die René Pollesch vor einigen Jahren zum Anlass für eine seiner "Realitäts"-Relativierungen nahm (Liebe ist kälter als das Kapital) und die im Marstall in unterschiedlichen Varianten wiederkehrt. Auf dem Proszenium wird das Ohrfeigen und Geohrfeigtwerden für das Stück eingeübt, das Myrtle nicht weiter proben will, weil ihre Figur keinen Humor und die Handlung keine Hoffnung kennt – und die körperliche Gewalt ihrer Demütigung als Schauspielerin und Frau die Krone aufsetzt. In einem zweiten Raum rahmen die Zuschauer ein Hotelzimmer im 50er-Jahre–Stil, wo sich eine Frau namens Laura zunächst selbst ohrfeigt, später noch ihre Assistentin Hanna, dann verliert man etwas den Überblick, bis am Ende Myrtle und Laura sich gegenseitig aus dem Verkehr zu ziehen versuchen, oder Hanna Scheibe Michaela Steiger oder eine der Frauen ihre eigene Jugend, ihre Konkurrentin oder Wiedergängerin?

Allerlei zum Knobeln

Lothar Kittstein als der Autor im Dreierteam hat der Geschichte von Myrtle eine Fortsetzung beschert, in der besagte Laura ins Spiel kommt, die in Cassavetes' Film von 1977 die Nancy spielte und für ein Remake in die Rolle der Myrtle schlüpfen soll. Eine Chance? Ein Fluch? Nancy als Symbolfigur für die Vergänglichkeit der Jugend verbindet die beiden Teile von "Opening Night :: Alles über Laura" wie ein Scharnier. Eine Hälfte des Publikums sieht den Opening-Teil am Anfang, die andere Hälfte den Laura-Teil, in dem die Grundkonflikte des Stückes verdichtet werden, Sätze daraus wie ein Echo wiederkehren, ein bisschen reale Geschichte eingespielt wird (Cassavetes hat die junge Darstellerin der Nancy – Laura Johnson – damals tatsächlich auf der Straße angesprochen, weil sie ihn so an seine Frau als junges Mädchen erinnerte) und etwas vom changierenden Machtverhältnis nach dem Muster des Filmes "All about Eve" von 1950, in dem eine junge, scheinbar hilflose Frau eine alternde Schauspielerin ausbootet.

Wenn man nun noch weiß, dass im Film Eve die junge Frau war und die ältere von Bette Davis gespielt wurde, die Cassavetes sich für die Rolle der Autorin in "Opening Night" gewünscht hätte, bekommt man eine Ahnung davon, wie viele Teufel in dieser hochkomplexen Schachtel sitzen. Nur werden sie anders als bei "Eurydice : : Noir Désir", das die Raum-Zeit-Schachtelbauer Mikeska und Co. vor fast zwei Jahren ganz nah an den einzelnen Zuschauer gebracht haben, nicht lebendig. Die kluge Konstruktion bleibt in weiten Teilen Konstrukt, die Anstrengung, die es kostet, beide Teilaufführungen zu synchronisieren, jederzeit spürbar. So hat man nach der Vorstellung zwar allerlei zum Knobeln, aber keinen neuen Funken im Herzen. Fast könnte man glauben, es hätte neben all der Arbeit an Logik und Logistik für die Arbeit an den szenischen Details und mit den Schauspielern die Zeit gefehlt. Dabei sind Ansätze da: etwa wenn Hanna Scheibes Blick endlich einen Gegner sucht oder die famose Valerie Pachner als Hannah praktisch im Nu Machtverhältnisse umkehrt, erotische Spannung wachsen lässt oder mit einem scheinbar unbeschwerten Lächeln für die Leichtigkeit sorgt, die dem verkopften Abend so fehlt.

 

Opening Night :: Alles über Laura
Ein Projekt von Bernhard Mikeska, Lothar Kittstein und Alexandra Althoff nach "Opening Night" von John Cassavetes
Regie: Bernhard Mikeska, Text: John Cassavetes (Deutsch von Brigitte Landes) und Lothar Kittstein, Raum: Ralph Zeger, Kostüme: Almut Eppinger, Sounddesign: Knut Jensen, Licht: Uwe Grünewalt, Video: Marie-Lena Eissing, Dramaturgie: Alexandra Althoff und Götz Leineweber.
Mit: Hanna Scheibe, Michele Cuciuffo, Arthur Klemt, Barbara Melzl, Paul Wolff-Plottegg, Valerie Pachner und Michaela Steiger.
Dauer: 2 Stunden, 30 Minuten, eine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

"Nein, so richtig versteht man’s nicht, wie das alles zusammenhängt, was an diesem zweigeteilten Theaterabend zu sehen ist", schreibt Alexander Altmann im Münchner Merkur (24.10.2015 ) Aber das mache auch nichts. "Denn das Vage, nur entfernt Erahnbare, das verunsichert und zugleich als Rätsel fasziniert, ist der Stoff, aus dem die Theaterträume von Bernhard Mikeska (Regie), Lothar Kittstein und Alexandra Althoff sind."

Egberth Tholl von der Süddeutschen Zeitung (23.10.2015) ist fasziniert "von einem unfassbar klugen und sehr gut gebauten Vexierspiel, das diesmal allerdings dem Zuschauer seine Rolle als Betrachter zugesteht, ihn aber gleichwohl an einer Grenze empfängt, an der man nicht mehr genau weiß, ist es Spiel, ist es echt, ist es das Leben selbst."

 

Kommentare  
Opening Night, München: großartige Kritik
Eine großartig gebaute und verfasste Kritik. Danke, Frau Leucht.
Opening Night, München: kann nur verkopft werden
Kein Wunder! Zwei Dramaturgen! (...) zusammen mit einem Regisseur der einen Dr. in Physik hat. Das kann nur ein verkopftes Etwas werden. Der Zuschauer will berührt werden und nicht zum Denken angeregt!
Opening Night, München: anders
Lieber Oskar, dass Sie ("der Zuschauer an sich") grundsätzlich nicht gerne zum Denken angeregt werden wollen, spricht für sich - sei's drum. Mir geht's da anders.
Opening Night, München: nicht gerecht
Meines Erachtens wird diese Kritik der Aufführung nicht gerecht. Ganz im Gegenteil zur Rezensentin habe ich die Darstellung der beiden Protagonistinnen, insbesondere das präsente und authentische Spiel von Hanna Scheibe, als sehr berührend empfunden. Die Verfremdung des an sich schon komplexen Films von Cassavetes auf eine weitere Ebene war für mich faszinierend und sehr geschickt gemacht. Sowohl der Verfasser und der Regisseur schaffen es m.E. sehr gut sich in die Situation einer Frau, die sich stets durch ihr Aussehen definiert hat und nun mit den Folgen ihres Alters konfrontiert wird, einzufühlen, und zwar so, dass ich mich als Frau oft nahezu ertappt fühlte. Bis zum Ende des Stücks wurde der Zuschauer in Atem gehalten und durch einen spektakulären Showdown von seinen Qualen erlöst. Genial gemacht ist die Zusammenführung der beiden Teilaufführungen, für mich kein Konstrukt, sondern eine enorme und sehr stimmige Überraschung am Ende des Stücks. Ich empfehle das Stück zu zweit in den beiden verschiedenen Teilaufführungen zu sehen. Das gibt im Anschluss viel Anlass zu interessanten Gesprächen. Mein Partner war ebenfalls begeistert, hat das Stück aber ganz anders wahrgenommen als ich. Ich selber bin ungemein neugierig auf die andere Teilaufführung und habe selbst nach der ersten Premiere mehrere Zuschauerstimmen gehört, die sich das Stück ein zweites Mal in der anderen Teilaufführung anschauen werden. Für mich war das ein berührender, faszinierender und spannender Premierenabend.
Opening Night, München: auch zum Denken
Ach ja ich vergaß: Ich finde es wichtig im Theater auch zum Denken angeregt zu werden. Banalisierte Gefühle findet man zur Genüge abends auf manchen Fernsehsendern. Dazu muss man nicht ins Theater gehen.
Opening Night, München: wie es wirklich war
Haben Sie es gesehen sehr geehrter Herr Oskar, oder vermuten Sie nur? Und Herr Zisch, in meinen Augen ist die Kritik von Frau Leucht sehr oberflächlich,denn man erfährt nicht in welcher Reihenfolge sie die Teile gesehen hat. Dies muss aber erwähnt werden, denn es ist für den Abend entscheidend. Da es ja zwei verschiedene Versionen gibt. Also zwei Stücke, je nachdem wo man beginnt, mit unterschiedlichem Verlauf und Inhalt. Sie tut aber so in ihrer Kritik,als hätte sie alles gesehen. Konnte sie aber nicht. Sie musste sich ja für eine Version entscheiden. Und so mit ist die Gleichsetzung doch recht undifferenziert. Mir hat der Abend sehr gut gefallen. Und ist eine grandiose,schauspielerische Leistung, die mich sehr berührt hat. Wer wissen will,wie es wirklich war oder ist, soll hingehen oder die Kritik von Egbert Toll lesen in der Sz.
Opening Night, München: wunderbar, aber unverständlich
Liebe Frau Leucht, Ihre Kritik ist wunderbar geschrieben, einzig, ich verstehe sie nicht. Ich erfahre besonderes vom Film und einiges von einem Gastspiel, aber wenig über diesen Theaterabend. Bitte reichen Sie doch grundlegendes nach, worum es inhaltlich ging, wie der Abend aufgebaut ist, wie er sich in das Konzept des Intendanten einordnet. In der Hoffnung, das meine Bitte nicht der Zensur zum Opfer fällt.
Opening Night, München: mehr
@ A. Cotard: hier erfahren sie einiges mehr über den Abend
http://www.mittelbayerische.de/kultur-nachrichten/eine-frau-wird-zu-alt-fuer-ihre-rolle-21853-art1297919.html
ebenso in der SZ und im Münchner Merkur, verlinkt in der Kritikenrundschau
Kommentar schreiben