Rollschuh-Pas-de-deux

von Kaa Linder

Winterthur, 22. Oktober 2015. Ein heruntergekommenes Appartement, die Matratze liegt auf einer blanken Holzpalette und die Küche ist so klein, dass man sich kaum darin wenden kann. Die Adresse dieser zwielichtigen Behausung lautet "elysische Gefilde" und hier wohnen zwei Menschen, die sich genug sind. Stanley Kowalski (Nicolas Batthyany) im Muskelshirt und mit Goldkette nimmt gleich zu Beginn seine Stella (Miriam Wagner) auf dem dürftigen Lager gründlich und leidenschaftlich: Hier geht es um Sex. Und um nichts weniger als den Einsatz des Lebens. Im Hintergrund lärmen derweil die Kumpels mit Bowlingkugeln vor dem Gemächt, mit Kugelgrill unterm Arm und jeder Menge Potenz in den Adern.

Ein sterbender Schwan

Wir sind in New Orleans und die eher dschungelhaft denn elysischen Gefilde sind der Ort, an dem Blanche DuBois (Katharina von Bock) Zuflucht sucht. Die kultivierte, nicht mehr ganz junge Dame erscheint in blütenweissem Kostüm, mit teuren Handtaschen und dem ganzen Kleiderschrank bei ihrer jüngeren Schwester Stella (Miriam Wagner). Blanche hat alles verloren, allem voran den Familiensitz Bel Rêve, ihre Stellung als Englischlehrerin an einem Gymnasium und ihre Ehre als Frau. Wie es dazu kommen konnte, erzählt Tennesse Williams in seinem Stück "A streetcar named desire" von 1947, dessen Verfilmung Marlon Brando zu Weltruhm brachte.

Endstation Sehnsucht3 560 Toni Suter T T Fotografie uStella (Miriam Wagner), Stanley (Nicolas Batthyany) und Blanche (Katharina von Bock) in der Mini-Küche © Toni Suter / T+T Fotografie

Einem Monument dieser Größe entgegen zu inszenieren, ist keine Kleinigkeit. Regisseurin Barbara-David Brüesch tut es, indem sie ihren Fokus auf Blanche richtet. Es ist ein Abend für die Schauspielerin Katharina von Bock, welche diese Figur als von Bestien gerupften, sterbenden Schwan mit einer fiebrig-physischen Präsenz spielt. Permanent schrammt ihre Blanche an der Ohnmacht vorbei, an der Schnapsflasche hält sie sich fest, als wäre es eine Boje. In einem lasziven Singsang schwatzt Blanche ihre Vergangenheit schön und tänzelt in wechselnd weißen Kostümen über den schmalen Grat zwischen erotischer Verführung und emotionalem Absturz. Dass sie mit ihren stundenlangen Bädern und ihrem antrainiert distinguierten Gehabe den grob gestrickten Kraftprotz Stanley gegen sich aufbringt, gereicht ihr nicht zum Guten. Stanley kann zwar Strass nicht von Juwelen unterscheiden, hat aber einen sicheren Instinkt dafür, dass mit Blanche etwas nicht stimmt.

Mit dem Selbstvertrauen einer Schmeissfliege

Eine gute Stunde lang wird auf der Bühne von Corinne L. Rusch, einem für die behaupteten Verhältnisse überraschend großzügigen Ort mit drei nach hinten gerichteten fensterartigen Öffnungen und einem kleinen Küchenkubus, ausgiebig gelärmt, gepokert, geschrien, geschlagen und gewütet. Dann verlässt die von verwackelten Videoeinspielungen und Musikzitaten aus den frühen 50er Jahren angereicherte Inszenierung ihre klischeehaft testosterongesteuerte Milieustudie und wird zum Kammerspiel. Die Längen und den Lärm bis dahin zu erdulden, lohnt sich.

Zu den starken Momenten gehören die Szenen zwischen Blanche und Mitch. Nils Torpus spielt diesen formatfreien Mann mit einer anrührenden Mischung aus Verlegenheit und Selbstüberschätzung. Wie auch Blanche ist Mitch einsam, voller Sehnsucht und mit dem Selbstvertrauen einer Schmeißfliege ausgestattet. Zwischen Blanche und Mitch tut sich ein Abgrund auf, so tief, dass einem schwindlig werden könnte. Schwindlig wird den beiden bei ihrem auf Rollschuhen ausgeführten Pas de deux. Es ist ein hinreißender Tanz um die Unmöglichkeit, sich von seiner besten Seite zu zeigen, ohne lügen zu müssen.

Ein Männertraum in Blond

Blanche wird ihrer Lügen gestraft, indem ihre Vergangenheit sie einholt. Sie hat Affären gehabt, zuletzt mit einem Siebzehnjährigen, und sie hat sich prostituiert. Blanche hat die Liebe gesucht und Männer angetroffen, die sie ausgenutzt haben. Nicht von ungefähr erinnert Katharina von Bocks Blanche zunehmend an Marilyn Monroe. Ein blonder Männertraum, so anschmiegsam wie Wachs und anpassungsfähig bis zur Selbstaufgabe. Am Schluss wird Blanche von ihrem Schwager Stanley wie von Mitch vergewaltigt. Der junge Arzt (Yannick Weber), welcher sie in die Psychiatrie bringen wird, sieht aus wie ein weiterer möglicher Liebeskandidat. "Auf die Freundlichkeit von Fremden konnte ich mich immer verlassen", kommt es Blanche fast trotzig über die signalroten Lippen. So sieht Sehnsucht aus, beim Einsatz eines ganzen Lebens.

 

Endstation Sehnsucht
nach Tennessee Williams
Deutsch von Helmar Harald Fischer
Regie: Barbara-David Brüesch, Bühne: Corinne L. Rusch, Kostüme: Heidi Walter, Licht & Video: Patrick Hunka.
Mit: Nicolas Batthyany, Katharina von Bock, Patrick Boinet, Magdalena Dutkiewicz, Vivien Bullert, Janos von Kwiatkowksi, Nils Torpus, Miriam Wagner, Yannick Weber.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

theater.winterthur.ch
theaterkantonzuerich.ch



Kritikenrundschau

"Barbara-David Brüesch hat uns in ihren Arbeiten für das Theater Kanton Zürich immer schon auf einen Weg mitgenommen, der die Landschaft von Menschen in ihren Verwerfungen von heute zeigt", berichtet Stefan Busz in der Zürichsee-Zeitung (26.10.2015). Und so sei es auch dieses Mal. Die Hauptrolle des Abends würdigt der Kritiker mit den Worten: Die Blanche von Katharina von Bock "hat einen eigenen Zauber".

Das hätte schief gehen können, befindet Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (27.10.2015), sich mit Gott, also Marlon Brando zu vergleichen. Ist aber nicht schief gegangen. Weil die Schauspieler*innen ganz super gewesen sind. Allen voran Katharina von Bock: "Sie spielt grosse Gefühle und grosse Wunden, sie spielt um ihr Leben."

 

 

Kommentare  
Endstation Sehnsucht, Winterthur: bitte mehr Rezension
Liebe Nachtkritik, wenn ich jetzt noch wüsste, was die Rezension aussagen will. Zwar werden die Attribute "hinreissend" und "hat Längen" gleichermassen vergeben, allein, ich lese mehr eine Inhaltsangabe - und das bei einem Stück, das nun wirklich der eine oder die anderen schon kennen könnte. Beim nächsten Mal vielleicht doch mehr rezensieren.
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