Widerstand der Körper

von Michael Stadler

München, 23.Oktober 2015. Beeindruckend, wie der Mann in der Muffathalle für Stille sorgt. Er läuft über die leere Bühne, bleibt rechts stehen und betrachtet das Publikum, bis das Gemurmel jäh abstirbt. Er lässt das Schweigen für einen Moment wirken, hebt dann den Eimer hoch, den er mit sich trägt, und schüttet sich die weiße Farbe, die darin ist, über den Kopf. Wodurch er seine Hautfarbe übertüncht, ähnlich wie die französische Kolonialmacht sich des Kongos einst bemächtigte und das Leben dort einfärbte. Wobei es sowieso egal ist, wer gerade herrscht – die Franzosen, die Rebellen, die Yankees – und unter welcher Staatsform man lebt. Selbst die Demokratie hat dem Land keine Freiheit gebracht. Der Kongo, so hört man bald, besteht aus "342 000 Quadratkilometern Aussichtslosigkeit". Die pure Depression also zu Beginn der elften Ausgabe von Spielart?

Das außereuropäische Theater steht am ersten Wochenende im Zentrum des Interesses, von "transnationaler Vielstimmigkeit" sprechen Festivalleiter Tilmann Broszat und Mit-Kurator Gottfried Hattinger im Vorwort des Programmhefts. Eine dieser Stimmen ist Dieudonné Niangouna aus Brazzaville, der Hauptstadt des Kongos, in deren "Angeberviertel" er die Performance "Le Socle des Vertiges" ansiedelt. Der Ton, den die sechs Darsteller, darunter Niangouna selbst, über längere Strecken anschlagen, ist dabei weit entfernt von leiser Resignation und Melancholie. Vielmehr macht sich die Wut, die im Bauch steckt, in aggressiven Wortkaskaden Luft. Die historisch erlebte Gewalt werfen sie sprachlich zurück, in einem schimpfwörterstrotzenden Französisch, das sie, die einst Kolonisierten, perfekt beherrschen.

Le Socle des Vertiges 3 560 Armel Louzala u"Le Socle des Vertiges" © Armel Louzala

Postkoloniales Erweckungstheater

Zwischen der fiktiven Geschichte zweier Brüder, von denen der eine, Roger, nach der Geburt auf der Straße ausgesetzt wurde, während der andere, Fido, seltsam privilegiert bei den Eltern aufwachsen durfte, und einem allgemeineren Diskurs über die Situation Kongos pendeln die ausgedehnten Wortbeiträge, die sie frontal zum Publikum vortragen, selbst wenn die Figuren miteinander reden. "Es gibt keinen Dialog!" insistieren sie, womit auch der vermeintlich demokratisierte Kongo gemeint ist. Auch die technologischen Zeitenwenden hat das zentralafrikanische Land miterlebt, "vom Einbaum zur Webcam!", aber Wesentliches hat sich in dem unter Arbeitslosigkeit und Schuldenlast ächzenden Staat nicht verändert. Wo einst eine Bar stand, wurde eine Erleuchtungskirche gebaut, erzählen sie, was aber letztlich nur bedeutet, dass die Formen der kollektiven Betäubung wechseln.

Im Gegensatz dazu möchte Dieudonné Niangouna den Zuschauer durch Dauereinsatz der Sprache, Videoeinspielungen von Tierschlachtungen und die Wucht mancher körperlicher Aktion wachrütteln. Postkoloniales Erweckungstheater, right in your face. Auch die Bilder, welche die Darsteller erzeugen, sprechen eine deutliche Sprache, wenn sie etwa aus Lehm Babys kneten, die sie dann kurzerhand in einer Tonne wegwerfen. Das Mädchen Diana, in das Fido und Roger sich verliebt haben, wird schwanger. Nicht wissend, wer von den beiden der Vater ist, erwürgt sie nach der Geburt das Kind.
Während Fido den Kongo verlässt, macht sich Roger weiter auf die Reise durch die Heimat, bringt den Körper seines toten Vaters zu einem Hospital, wo sein Onkel, ein Arzt, den Leichnam reanimieren soll. Als der Aberglaube aber nicht funktioniert, foltert Roger den Onkel. Erzählt wird davon im Fast-Dunkel, mit leuchtender Stirnlampe, und der aufgeregte Duktus macht das Zuhören zur Folter.

Le Socle des Vertiges 7 560 Armel Louzala u"Le Socle des Vertiges" © Armel Louzala

Würde der ganze Abend diesen Ton anschlagen, man könnte es kaum aushalten, doch Niangouna streut Momente des ruhigen Erzählens ein, setzt mit Gitarrenmusik irritierend launige Kontrapunkte und der Behaglichkeit von Opferrollen den Drive der Performer entgegen. Der Staat und seine Menschen mögen wie die Tiere, die man in den Projektionen sieht, ausbluten und gerupft werden – in den Worten und Körpern liegt eine Kraft des Widerstands. Die Ideologien bekommen die Kongolesen schon in der Schule eingebläut, als Pioniere marschieren die Darsteller auf der durch einen Stacheldraht unterteilten Bühne, später treten sie als Erwachsene in Business-Anzügen auf.

Wider die Politik des Verbergen

Wenn sie sich immer wieder diese Kostüme vom Körper reißen, hat das zumindest visuell etwas von einer Befreiung. Die Performance selbst erscheint als Akt der Schicksalsermächtigung, das Erzählen als einnehmende Überlebensstrategie. So kann man sich der rauen, mitunter verquasten Poesie von "Le Socle de Vertiges" letztlich kaum entziehen, selbst wenn die Tiraden auf Dauer ermüdend wirken.

DebriefingSession 280 CarmenUriarte PhoenixRaisingArtsDebriefing Session II: Die Agentin (Hagar Ophir)
© Carmen Uriarte | Phoenix Raising Arts
Andere Formen der Vermittlung konnte man bei Spielart bereits tagsüber erleben: Im Tiefgeschoss des Museums Villa Stuck hat Public Movement aus Tel Aviv sich in einem Raum eingenistet, um dort einzelnen Zuschauern eine "Debriefing Session" zu geben. Was bedeutet, dass man vis-à-vis von einem weiblichen "Agenten" sitzt und über eine ausführliche Recherche informiert wird: Die Gruppe fahndete nach palästinensischen Kunstwerken, die vor der Gründung Israels 1948 entstanden.

Von einer Politik des Verbergens und Zerstörens identitätsstiftender Kulturgüter lässt der Bericht der Agentin mehr als nur ahnen. So verfolgten die detektivisch ermittelnden Mitglieder von Public Movement unter anderem Spuren von Kunstwerken, die ins Ausland geschafft wurden und auf dem Schwarzmarkt landeten. Zwei Selbstporträts und eine weitere Malerei einer palästinensischen Künstlerin zeigt die Agentin auf ihrem Smartphone und möchte den Zuhörer durch das Gespräch selbst zum Agenten machen, der die Informationen selektiv verarbeitet und an andere weitergibt.

Den Stimmen der Märtyrer lauschen

Ähnlich idealistisch möchte die Installation "Gardens Speak" von Tania El Khoury im Einstein-Kultur am Max-Weber-Platz das Schicksal von Aktivisten nahe bringen, die im syrischen Bürgerkrieg ermordet und in den Gärten ihrer Familien oder Freunde begraben wurden. Zunächst wird der Teilnehmer gebeten, Schuhe und Strümpfe aus- und einen Plastikumhang anzuziehen. Dann tritt man in einen Raum, in dem ein mit Erde gefülltes Rechteck steht, an den Rändern Grabsteine. Man bekommt jeweils ein Grab zugeteilt, um, das Ohr an der Erde, einem der "Märtyrer" zu lauschen.

Tania El Khoury Gardens Speak 560 TaniaElKhoury u"Gardens Speaks" © Tania El-Khoury

Tania El Khoury hat bei den Familien von zehn Opfern nachgeforscht und ihre Geschichten in Ich-Form einsprechen lassen. Die Toten kommen so zu Wort, wenn auch nicht mit eigener Stimme. Man hört etwa die Geschichte der 24-jährigen "Bayan", die als medizinische Helferin den Widerstand gegen das Assad-Regime unterstützte und durch einen Luftangriff getötet wurde. Wer sich darauf einlässt, kann von dieser Installation berührt werden. Erst sprechen die Gärten. Dann bleibt Stille.

 

Debriefing Session II
von Public Movement, Tel Aviv
Konzept und Regie: Dana Yahalomi, Alhena Katsof
Mit: Hagar Ophir (Public Movement Agent)
Dauer: 20 Minuten

www.publicmovement.org

Gardens Speak
Interactive Sound Installation
von Tania El Khoury, Tel Aviv Voice
Mit: Zac Allaf, Khaled Omran, Mais Istanbuli, Khairy Eibesh, Abir Saksouk, Petra Serhal, Hadi Deaibes, Ahmad Hafez, Hani Al Sawah
Dauer: 40 Minuten

www.taniaelkhoury.com

Le Socle des Vertiges
von Dieudonné Niangouna, Brazzaville
Text und Regie: Dieudonné Niangouna, Bühnenbild: Ludovic Louppé, Papythio Matoudidi, Dieudonné Niangouna, Licht: Nicolas Barrot, Musik: Pierre Lambia, Ausstattung: Ulrich N’Toyo
Mit: Abdon Fortuné Koumbha, Ludovic Louppé, Harvey Masamba, Papythio Matoudidi, Dieudonné Niangouna, Ulrich N’Toyo
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, ohne Pause

www.spielart.org

 

Hier gibt's die Spielart-Festivalübersicht mit zahlreichen Nachtkritiken.

 

Kritikenrundschau

Als "kaum zu dechiffrieren, zu überbordend, auseinanderklaffend", beschreibt Egbert Tholl "Le Socle des Vertiges" in seinem "Spielart"-Auftaktbericht in der Süddeutschen Zeitung (26.10.2015). Es gehe "ohne Pause, mit seltsamen Bühnenaktionen und schrillem Afro-Funk, bis man vollkommen genervt ist", was Dieudonné Niangouna ja auch erreichen wolle, "auch mit seinem Testosteron-geschwängerten Gerede", so Tholl und gerät regelrecht in Rage: "Der Kerl ist unverschämt, zu Recht, subtil ist er gewiss nicht, und eine Hoffnung für den Kongo will und kann er schon gleich gar nicht vermitteln." Über Tania El Khourys Installation "Gardens speak" schreibt Tholl: "'Gardens Speak' ist auch eine Anklage an Europa, das für alle, die nun tot sind, als Zuflucht versagt hat."

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