Besessen - Horror-Spezialist Jörg Buttgereit treibt in Dortmund sämtliche Dämonen der Filmgeschichte aus
Und der Teufel pellt sein Ei
von Sarah Heppekausen
Dortmund, 23. Oktober 2015. Gerd Friedekind ist besessen. Von Horrorfilmen. In seinem Zimmer füllen VHS-Kassetten die Regale, an den Wänden hängen Filmplakate, über dem Bett ein umgekehrtes Kreuz. Im Dunkeln liest er das Buch "Der Exorzist". Er kennt dessen Zeilen wohl auswendig, wie die Zeilen aus dem Artikel im "Spiegel" von 1974 zum entsprechenden Film. Schnell ist da der Gedanke, dass Regisseur Jörg Buttgereit auch sich selbst auf die Bühne im Dortmunder Studio gebracht haben könnte. Oder zumindest einen Teil von sich. Den Jungen, der als Zehnjähriger unbedingt den "Exorzisten" sehen wollte, aber noch nicht durfte. Den Filmfanatiker mit nerdiger Liebe fürs Detail.
Detailverliebt ist das Schlaf-/Wohnzimmer-Setting. Wir befinden uns in den 80er Jahren: grünes Scheibentelefon, Holzvertäfelung, Diabetrachter. Friedekind trägt lange Haare, Freund Marian Karras ein beiges Blouson. Die Filmplakate sind vermutlich originale, die Ausgabe des "Spiegel" mit dem Grusel-Cover auch. Friedekind erzählt von seiner "persönlich rekonstruierten Integral-Fassung" des "Exorzisten", von seiner Filmschnipsel-Fusion. Auch das könnte der junge Buttgereit selbst gewesen sein, der die ersten erhältlichen Kurz-Fassungen des Horrorfilms zusammengeklebt hat.
Exorzismus in der Studentenbude
Jörg Buttgereit ist vor allem Filmemacher und Filmkritiker, trashige Horrorfilme haben ihn bekannt gemacht. Am Dortmunder Schauspiel inszeniert er seit 2011. Trash, Grusel und Filmbezug sind bei ihm gesetzt. Diesmal also "Der Exorzist". Und weil der Film heute wohl kaum mehr Erbrechen, Herzanfälle oder gar eine Fehlgeburt auslösen würde wie 1974 in New Yorker Kinovorstellungen (wie in besagtem "Spiegel"-Artikel zu lesen ist), ist Humor zunächst kein schlechter Antrieb, um sich durch Zeiten und Filmgeschichte zu switchen.
Ekkehard Freye als Friedekind und Björn Gabriel als Karras zelebrieren ihre Schrullen. Der eine zitiert Filmszenen mit Dämonenstimme, in Badelatschen. Der andere fürchtet Horrorfilme, weiß aber eine Menge über Dämonenaustreibungen in der Pfingstgemeinde zu berichten. Ein bizarr-komisches Duo, charmant durch Eigenartigkeit.
Statt eines lässigen Videoabends bei Dosenbier und Pizza erleben die zwei ihren eigenen Horrortrip. Die Studentenbude als Filmset, Teufelsaustreibung auf dem heimischen Bett. Schauspielerin Sarah Sandeh erzählt erst vor der Bühne von Alarm schlagenden Pädagogen, weil schon Sechsjährige Zombies-Killen spielten, dank moderner Videotechnik. Dann uriniert sie auf der Bühne. Als Linda Blair, die im "Exorzisten" die Regan spielte.
Das Kreuz im Gesäß
Da kommt einiges zusammen in Buttgereits Inszenierung. Oszillierende Illusion und historische Einordnung, Spezialeffekte und offensichtliches Spiel mit Kunstblutkapseln. Das Gruseln freilich, es stellt sich nicht ein. Trotz Blitzlichtgewitter und blutiger Teufelsgeburt.
Doch, in einer Szene wird es tatsächlich unangenehm. Wenn Linda ihrem Exorzisten, dem Horrorfilmmeider Karras, das Kreuz ins Gesäß rammt. Da kauert Björn Gabriel schmerzerfüllt jammernd auf dem Bett. Und für einen kurzen Moment scheint die Brutalität auf, zu der Menschen im Wahn fähig sind.
Ansonsten ist der Schrecken eher grotesker Art. Teufelsaustreibung als Placebo, Hypnose als Filmzitat. Die Horrorfilmzitate häufen sich, vom "Exorzisten" über "Rosemaries Baby" bis zur "Wiege des Bösen". Und der Teufel (Uwe Rohbeck) pellt sein Ei als De Niro-Verschnitt aus "Angel Heart". Sicherlich eine Freude für jeden Cineasten. Die Inszenierung gelangt indes nicht annähernd an eine nervenaufreibende Schmerzgrenze wie zum Beispiel Buttgereits "Kannibale und Liebe" (2012), in der Rohbeck mit feinster Körperarbeit und Mimik das authentisch-unheimliche Seelenbild eines Serienmörders nachzeichnete. Sarah Sandeh ist ein Dämon mit großen Kulleraugen, bezirzend, allerdings wenig Furcht erregend.
Horror wird in dieser Inszenierung nacherzählt. Ein Unbehagen, eines, das vielleicht nicht unbedingt zur Ohnmacht führt, aber das doch verwundbar macht, solch ein Unbehagen stellt sich nicht ein.
Besessen
von Jörg Buttgereit und Anne-Kathrin Schulz (Mitarbeit)
inspiriert von "Der Exorzist" von William Peter Blatty und William Friedkin
Regie: Jörg Buttgereit, Bühne und Kostüme: Susanne Priebs, Musik: T.D. Finck von Finckenstein, Special FX: Lucas Pleß, Dramaturgie: Anne-Kathrin Schulz.
Mit: Ekkehard Freye, Björn Gabriel, Sarah Sandeh, Uwe Rohbeck.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.theaterdo.de
"Besessen" ist "lustvolles Horrortheater mit einigen Spezialeffekten, grünem Erbrochenen – ganz im Stil der im Film verkotzten Erbsensuppe - und einer fiesen, blutigen Babypuppe." So berichtet Stefan Keim für die Welt (26.10.2015) in seiner als Künstlerporträt von Jörg Buttgereit angelegten Rezension. "Die grandiosen Schauspieler Ekkehard Freye und Björn Gabriel wandeln auf dem schmalen Grat zwischen Ernst und Absurdität. Einerseits lacht man über hirnrissige Momente und ihre Unfähigkeit, mit der Lage klar zu kommen, andererseits kriecht einem die Angst den Rücken hoch." Im Finale werde der "witzige, abgründige und manchmal etwas seltsame Abend zu einer packenden Parabel über die Sogkraft der Medien".
"Buttgereit-Fans kommen bestimmt auf ihre Kosten“, verspricht Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (online 25.10.2015). "Der Abend geht in einzelnen Szenen schon an die Schmerzgrenze, zum Beispiel, wenn Linda Marian anal mit dem Kruzifix vergewaltigt. Da windet sich Gabriel auf dem Bett, keucht und schluchzt und gibt der Gewalt bestürzende Präsenz. Aber Buttgereit treibt den Abend nicht bis zum Äußersten."
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