Presseschau vom 24. Oktober 2015 – Das Theater Freiburg soll Sozialbeiträge nachzahlen: ein Menetekel für alle Bühnen?

"Das kann Folgen für alle Theater haben"

"Das kann Folgen für alle Theater haben"

24. Oktober 2015. Joachim Röderer meldet in der Badischen Zeitung (24.10.2015), dass das Theater Freiburg einer Nachzahlung in Höhe von 538.000 Euro nicht abgeführter Sozialbeiträge an die Rentenversicherung nachkommen soll. Die Forderung sei Ergebnis zweier Betriebsprüfungen, wobei es im einen Fall um eine offenbar unstrittige Summe von 138.000 Euro geht.

"Schwerer wiegt der zweite Fall. 400.000 Euro an Beiträgen für Gastkünstler aus den Jahren 2006 bis 2013 mahnt die Versicherung an. Diese Forderung ist umstritten, wie Tessa Beecken, die neue kaufmännische Direktorin, erklärt. Das Theater hat Rentenbeiträge der nicht festangestellten Gastkünstler vom Tag der ersten Probe bis zur Premiere gezahlt. Und von der Premiere an dann nur noch an den jeweiligen Spieltagen."

Das Theater habe sich bei dieser Praxis an "einer Empfehlung der Enquetekommission des Bundestages aus dem Jahr 2007 orientiert", so wie es auch andere Theater im ganzen Land täten. Es gebe aber auch "ein Urteil des Bundessozialgerichts, das in eine andere Richtung geht. Danach können die Rentenbeiträge nicht bloß 'tageweise' bezahlt werden. Beiträge fallen durchgängig an – vom Tag der ersten Probe bis zum Tag der letzten Aufführung."

Der Freiburger Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach, zugleich Vorsitzender des Bühnenvereins Baden-Württemberg, wird mit den Worten zitiert: "Wenn das so wäre, hätte das wirklich Folgen für alle Theater in Deutschland." In der Tat, es könnten so auf viele Theater Nachzahlungen zukommen, die in einzelnen Fällen die Budgets bis an den Rand der Spielfähigkeit belasten könnten.

(wb)

Kommentare  
Sozialbeiträge Freiburg: eine Katastrophe
und dann sind als nächstes die Filmproduktionsfirmen dran... Die machen das nämlich genauso... Eine Katastrophe dieser ganze Mist. Lässt SchauspielerInnen endlich auf Rechnung arbeiten. Dieses Märchen von Weisungsgebundenheit in der Kunst ist absolut nicht mehr zeitgemäß...
Sozialbeiträge Freiburg: das Ende jeglicher Gastengagements
von probenbeginn bis zum letzten vorstellungstag? wenn sich diese denke durchsetzt, ist das mit sicherheit das ende jeglicher gastengagements.
Sozialbeiträge Freiburg: Anwälte schütteln nur den Kopf
die Betrachtung von Gastkünstlern als "Angestellte" ist ja nach übergeordnetem Recht ohnehin gängige Fehlpraxis der Theater. Da haben die sich dann wohl ins eigene Bein geschossen. Zumal die betreffenden Künstler dann auch ihre Sozialbeiträge zurückfordern können.
Das ganze System "funktioniert" ja nur nach dem Prinzip, Theater haben keine Ahnung, Künstler sowieso nicht, und Anwälte schütteln nur den Kopf.
Und etwa vergleichbar arbeitende Handwerker verstehen diese Welt sowieso nicht.
Sozialbeiträge Freiburg: Märchen
@1 volle Zustimmung. Und vor allem nach geltendem Sozialrecht ist dieses Märchen völlig inexistent. Ist ein Maler angestellt, weil ich ihm sage, in welcher Farbe ich mein Haus gestrichen haben möchte??
Sozialbeiträge Freiburg: prekär + verlogen
Es wäre schön, wenn mit dieser Akte endlich das ganze Maß der ungleich am Theater Beschäftigten zum Vorschein käme. Der Irrsinn, dass einige vollbeschäftigt und mit allen sozialen Versicherungen ihre Arbeit verrichten, während andere in prekären Arbeitsverhältnissen schuften, würde in seiner ganzen Dimension sichtbar. Dann muss man sich entscheiden, wie es mit diesen Schiffen der Hochkultur weiter gehen soll. Entweder will man auch für die Theater eine Situation schaffen, in der alle, die dort arbeiten gleich behandelt werden - das kostet dann eben wesentlich mehr - oder man lässt den Kahn endlich gegen die Wand fahren. Die Verlogenheit, mit der zur Zeit dort ungleich bezahlt wird, ist jedoch nicht mehr zu akzeptieren. Sie ist reine Augenwischerei!
Sozialbeiträge Freiburg: Manche ziehen Gastverträge vor
@Verdi: Die Gleichsetzung festangestellt - gut bezahlt bzw Gast - schlecht bezahlt und ausgebeutet ist ein bißchen einfach. es gibt Schauspieler, die Gastverträge vorziehen, weil sie drehen, an anderen Häusern arbeiten, ganz andere Dinge tun, nicht unbedingt in der Kleinstadt, wo sie eventuell am Theater beschäftigt sind, für immer leben wollen und so weiter... Und das sind nicht nur die Stars, sondern Leute mit anderen Lebensmodellen als schlecht bezahlt das ganze Jahr über in einem Ensemble zu sein. Die Idee, jeden, der für eine Produktion (6 Wochen Proben und 10 Vorstellungen, zB) als Gast arbeitet, für ein Jahr zu bezahlen, der Gleichbehandlung wegen, ist reichlich abstrus. Es ist keine ungleiche Bezahlung, sondern eine Bezahlung auf Zeit, weil auch die Arbeit auf Zeit ist. Ist doch eigentlich logisch?
Sozialbeiträge Freiburg: Frage der Gerechtigkeit
Es ist ein allen Theatern bekanntes Problem, und es kann sich nur um Blauäugigkeit handeln hierfür keine Vorsorge zu treffen. Es ist nur gerecht, dass diese Beträge abgeführt werden und Schauspieler damit rückwirkend ihre Rentenanwartschaften sammeln.
Zudem ist es eine Frage der Gerechtigkeit zwischen fest Angestellten und freien.
Wenn man die Gagen der freien in den Produktionsbudgets entsprechend höher ansetzt, ist das unproblematisch - deshalb gehen die Theater nicht kaputt. Und die Zukunft der Theater wird immer aus einem Mix aus festen und freien bestehen, schon allein weil viele Regisseure auf ihre Spieler bestehen, wenn sie eine Gastregie übernehmen. Das Theater, das ohne Gäste auskommt, ist eine gewerkschaftliche Illusion - absolut realitätsfremd.
Sozialbeiträge Freiburg: Was hat das Theater gemacht?
Gibt es Details zu den Prüfungen (wahrscheinlich nicht), denn mir erscheinen die Aussagen der Geschäftsführerin und des Bürgermeisters, nicht schlüssig.
Selbstverständlich beträgt die Laufzeit eines ordentlichen Gastvertrags vom ersten Probentag bis zur letzten Vorstellung (bzw. bis zum letzten Tag der Spielzeit, wenn eine Produktion übernommen wird). Da die SV-Beiträge anteilig (mit den Beiträgen zur BVK rd. 24%) von den Bruttobezügen gezahlt werden, ist die Abrechnung unproblematisch.
Also, was hat das Theater Freiburg gemacht?

Im übrigen: Selbstverständlich ist es richtig und sinnvoll, dass Darsteller als Arbeitnehmer geführt und abgerechnet werden. Auch wenn auf den ersten Blick ein Honorar ohne Abzüge erstrebenswert zu sein scheint ... Aber Krankenversicherung, Rentenversicherung und vor allem die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sind extrem wichtig.
Sozialbeiträge Freiburg: Nachfrage
Ich bin etwas verwirrt.
Angenommen eine Sängerin gastiert an verschiedenen Opernhäusern. Opern werden gerne lange Zeit im Repertoir gehalten. Damit hätte der Sänger dann, gerechnet von der ersten Probe bis zur letzten Vorstellung, mehrere Theater, die in die Rentenversicherung einzahlen???
Sozialbeiträge Freiburg: Antwort
@9
Genau.
Beispiel: Im Oktober 2015 singt Sängerin X in vier deutschen Opernhäusern jeweils drei Vorstellungen. Sie erhält pro Vorstellung 400 EUR Abendgage.
Jedes Opernhaus hat von den Vergütungen für den Beschäftigungszeitraum 10.15 dann folgende Sozialversicherungsbeiträge abzuführen: RV 18,70% , AV 3,00%, PV 2,35%, KV 14,6% + 0,9% Zusatzbeitrag, BVK 9,00%, Insolvenzgeldumlage, Mutterschutzumlage, Unfallversicherung.
Die Beiträge werden meist jeweils hälftig von Theater und Sängerin getragen - Ausnahmen: Zusatzbeitrag KV nur Sängerin und Unfallversicherung und Umlagen nur Theater.
Das bedeutet für jedes Theater: Von der Bruttovergütung sind 297 EUR SV-Beiträge abzuziehen und an die Sozialversicherungsträger abzuführen. Außerdem ist der AG-Anteil von rd. 290 EUR vom Theater zu zahlen.
Die Arbeitskosten erhöhen sich also für das Theater auf 1490 EUR.
Natürlich müssen von der Bruttovergütung auch noch Steuern gezahlt werden. (Hier wird es unschön, weil nur ein Theater "Hauptarbeitgeber" sein kann, an den anderen Theatern wird die Steuerschuld der Sängerin in Steuerklasse VI berechnet). Falls ein Theater der Sängerin die Reisekosten zu den Vorstellungen durch einen Pauschalbetrag erstattet ist dieser ebenso SV-Abgaben- und steuerpflichtig, wird nur der entstandene Aufwand (Belege!) erstatten dann nicht.
Für unsere Sängerin sind im Oktober 2015 also insgesamt 2348 EUR SV-Beiträge zu zahlen.
Sozialbeiträge Freiburg: Beschäftigungsverhältnisse
Nicht wenigen gastierenden SchauspielerInnen bliebe die Möglichkeit verwehrt , in spiel- und probefreien Phasen Arbeitslosengeld zu erhalten , weil sie ja vom Theater als vom ersten Probetag bis zu Derniere dauerbeschäftigt gelten und somit kein Anspruch auf Unterstützung durch die Agentur für Arbeit hätten. In Repertoirebetrieben ergäben sich dadurch absurd lange "Beschäftigungsverhältnisse".
Sozialbeiträge Freiburg: Arbeitslosengeld 1
auch bei durchgehender meldung zur sozialversicherung kann man arbeitslosengeld 1 beziehen. man muss nur im vertrag haben, dass außer den vereinbarten terminen weitere termine für proben und vorstellungen nur nach absprache mit dem gast vereinbart werden dürfen. dazu gibt es reihenweise urteile von sozialgerichten. nur wenn das theater laut vertrag weitere termine nach ansage einfach festlegen kann, steht man dem arbeitsmarkt nicht zur verfügung und kann kein alg1 beziehen. diese fiktive durchmeldung und der bezug von alg1 sind zwei verschiedene paar schuhe, also kein grund sich in dieser hinsicht aufzuregen.
Sozialbeiträge Freiburg: was im Vertrag stehen sollte
@11
#12 bleibt nicht viel hinzuzufügen, nur: Es ist sinnvoll, dass in den entsprechenden Gastverträgen, die Vergütungen für die Vorstellungen und für die Proben explizit genannt sind.
Außerdem kann vermerkt werden, dass weitere Beschäftigungen ohne Zustimmung des Theaters aufgenommen werden können.
Im Zweifel kann der Schriftverkehr zwischen KBB und Gast als Nachweis gegenüber der Arbeitsagentur dienen, dass der Gast nur an den vereinbarten Vorstellungstagen beschäftigt war.
Aber das ist alles Standard und jeder gastierende Künstler und jedes Theater sollten das wissen.

Darüber hinaus entsteht ein Anspruch auf ALG 1 nur dann, wenn die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung eingezahlt werden. Allein darum sollte jeder Gast ein Interesse haben, dass die Beiträge zur Sozialversicherung ordentlich abgeführt werden.
Sozialbeiträge Freiburg: was hat das Theater gemacht?
@10
Vielen Dank für Ihre Beschreibung. So kenne ich das auch. Aber was hat denn das Theater Freiburg gemacht? Bzw. wo ist die Gefahr etwas falsch zu machen, was dann auch zu Lasten des Schauspielers/ Sängers gehen kann?
Abgerechnet wird doch eh monatlich. Ob man dann für den Betrag einen oder dreißig Tage gearbeitet hat ist doch für den abzuführenden Betrag egal.
Sozialbeiträge Freiburg: je nach dem
die höhe einzelner abzuführender sozialversicherungsbeiträge ist unterschiedlich, je nachdem, ob man an einzeltagen gemeldet wird oder für den ganzen monat.
Sozialbeiträge Freiburg: Regelung?
Also was müsste genau im Gastvertrag stehen, wenn man durchversichert wird und man trotzdem, wegen vielleicht zu weniger Vorstellungen im Monat, die Unterstützung des ALG I in Anspruch nehmen möchte. Sind denn die Theater verpflichtet, Gäste einen Monat durchzuversichern auch wenn z.B. nur eine Vorstellung im Monat gespielt wird?
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