Ab ins Berghain

von Christian Rakow

Berlin, 24. Oktober 2015. Hören Sie mal in diesen Elektrosong rein: "The game is not over". Wenn Sie sagen: Oh ja, das ist meines, das klingt nach Dark Room, stickiger Luft, Berlin Berghain, Stroboskop, Plastiksex, endloser Sehnsucht, endloser Gier, Höhenrausch, tiefem Fall, Leere nach dem Kick, Verlorenheit, so was, dann sind Sie mutmaßlich die Zielgruppe dieses Abends (und man würde womöglich eher "Ihr" statt "Sie" sagen).

Und dann muss man warnen: Bis Ihr beim Elektrobeat-Gefühlsflipper ankommt, geht's in Nurkan Erpulats neuem Abend am Berliner Maxim Gorki Theater "Die juristische Unschärfe einer Ehe" durch einige Filter. Erpulat greift zu einem Roman von Olga Grjasnowa, der vergleichsweise wenig szenisches Fleisch bietet, stattdessen viel Erzählerbericht, und also zum frontalen Monologisieren einlädt. Viel Prosa in der dritten Person mithin, viel Rumstehen, Distanzen zwischen den Spielern. Zum Protagonisten wird das Mikrophon, dem man seinen Erzählstoff anvertraut.

In der Solotanz-Disconebelwolke

Einmal durchstößt Mehmet Ateşçi die Solotanz-Disconebelwolke um die Figuren und chargiert hinreißend komisch eine Drag Queen aus der Berliner Nachteulenszene. Aber ansonsten herrscht ein fast schon heiliger Ernst, im Nachgang der selbstredend gestrafften und um viele schöne Szenenschnitte beraubten Grjasnowa-Fabel.

Juristische Unschaerfe3 560 Ute Langkafel uBerghain-Gestalten an trostlosen "Joy"-Lettern: Mehmet Ateşçi, Lea Draeger (Leyla), Taner Şahintürk (Altay) und Mareike Beykirch © Ute Langkafel

Der Stoff ist quasi Berghain pur. Leyla wurde an der Moskauer Ballett-Kaderschmiede des Bolschoi auf Primadonna gedrillt und liebt Frauen. Ihr Ehemann Altay ist Psychiater und schwul. Keine guten Startbedingungen in einem Land, das meint, Schwule "umerziehen" oder "umpolen" zu müssen. Gemeinsam gehen die beiden nach Berlin und leben eine juristisch (eigentlich wohl eher: ethisch) unscharfe Ehe, sprich: haufenweise bindungsloser Sex mit wechselnden Partner*innen, eingehegt durch platonische Zweisamkeit im Eheleben. Im Finale des Buches geht es zurück nach Baku/Aserbaidschan, in Leylas Herkunftsland, wo die gestürzte Ballerina das Road Movie sucht und Altay die schwule Subkultur.

Trostlos blinkt die Freude

Erpulat streut Sounds und Videos, spielt Bilder von Berlin wie von Baku ein, giert nach Atmosphäre. Aber der Abend bleibt seltsam spröde und statisch. Der west-östliche Trip schildert nur die geographische Verrückung einer labilen Ménage à trois (mit wechselnden Gespiel*innnen). Erpulat sucht Konturen: In den Erzählungen über die postsowjetische Disziplinarwelt springen die vier Spieler*innen (Mehmet Ateşçi, Mareike Beykirch, Lea Draeger, Taner Şahintürk) gegen eine stilisierte Zellenwand; in Berlin und Baku öffnet sich der Raum zum Gerippe eines Jahrmarkts. "Joy", Freude, steht in großen, trostlos blinkenden Lettern über dem Berliner Szenario. Gesucht ist die Landschaft einer erfüllungslosen, ortlosen Sehnsucht im langen Schlagschatten der Diktaturen. Eigentlich eine Installation, keine Erzählung.

Wenn man nun nicht ganz zur Zielgruppe des Abends gehört (er wird seine Fans finden, die durch alle Filter durchdringen), dann steht man etwas distanziert vor dem Ganzen. Dann denkt man an den letzten Grjasnowa-Text am Gorki Theater zurück, an die so lässige wie spielwütige, boulevardesk zuspitzende, komische und doch emotional anfassende Romanadaption Der Russe ist einer, der Birken liebt von Yael Ronen. Und man hört an diesem Abend die kurzen politischen Invektiven von Mehmet Ateşçi in der Rolle eines schwulen aserbaidschanischen Politiker-Sohns ("Der Diskurs über Homosexualität ist eine Waffe des Westens gegen den Osten."), und sagt sich: Um wie viel offener, bissiger, persönlicher, konfrontativer hatte das Gorki solche Diskurse in Falk Richters Small Town Boy (in der unvergessenen Suada von Thomas Wodianka) aufgespießt. Und überhaupt fragt man sich, warum riecht das hier alles so nach der Literatur fürs Berlin der 1990er Jahre? Und man denkt, die Filter, die dieser Abend hat, die sind für mich gar keine Filter, die sind schon dichte Vorhänge, oder gar Trennwände.

 

Die juristische Unschärfe einer Ehe
nach dem Roman von Olga Grjasnowa
in einer Textfassung von Nurkan Erpulat
Uraufführung
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Kathrin Frosch, Kostüme: Pieter Bax, Musik: Valentin von Lindenau / kling klang klong, Video: Sebastian Pircher, Bewegungschoreographie: Nir de Volff, Dramaturgie: Daniel Richter.
Mit: Mehmet Ateşçi, Mareike Beykirch, Lea Draeger, Taner Şahintürk.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Olga Grjasnowas Roman porträtiere "eine Generation junger Wanderer zwischen Ost und West, die in dem doppelten Dilemma stecken, sich einerseits von den repressiven Strukturen der Herkunftskultur emanzipieren zu wollen, im Westen aber andererseits zu bemerken, dass ihnen diese Kultur buchstäblich in den Knochen steckt", so Eva Behrendt für Deutschlandradio Kultur (Fazit, 24.10.2015). Erpulat ziehe für seine Inszenierung "ästhetisch alle Register: Formstrenge Szenen (...) gehen über in bildüberflutete Videoclipsettings, von lauten Beats getriebene Clubszenen stehen neben minutenlang ausgehaltener Ruhe". Immer wieder switche der Abend "von Pathos zu Satire zu Melancholie. Zusammengehalten werden diese extremen atmosphärischen Wechsel von den vier starken Gorki Spielern (...). Ihre souveräne, freie Haltung beglaubigt sämtliche Gefühlsachterbahnen, die das Theater hier manchmal etwas oberflächlich behauptet." Eine insgesamt "sehr körperliche und sinnliche Inszenierung".

Bei aller oberflächlichen Texttreue gehe es der Inszenierung nicht um eine möglichst lineare Umsetzung von Olga Grjasnowas Roman, diagnostiziert Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel (26.10.15). Sondern die Spieler nutzten die Vorlage, "um die wie im Stroboskopblitz ihrer Erfinderin aufscheinenden Szenen vollends zu dekonstruieren". In dem Maß, "wie die längliche Exposition sich erledigt auf der Reise von Berlin nach Baku", finde der Abend in seine "faszinierend stille Mitte". "Die Schauspieler spielen sich die Seele aus dem Leib und den Leib aus der Seele, bis sie aus erotischer Erdenschwere in paradiesische Körperlosigkeit zu entschweben scheinen."

"Enthusiastisch und wirkungsorientiert" findet Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (26.10.2015) den "Bilderbogen", den Nurkan Erpulat dem Grjasnowa-Roman abgewinnt, einem Roman, der selbst "ein rasantes, welthaltiges, kalkuliert oberflächlich bleibendes Bilder- und Szenenflackern" sei. Die "Sucht nach Desorientierung bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Geborgenheit", die der Roman produziere, "kann die Inszenierung nicht vermitteln. Es wird nicht gespielt, sondern mit viel Elan und Einsatzfreude planmäßig Ausgedachtes vorgemacht"; die "Spieler verbiegen sich, schwitzen, speisen Leidenschaft und dann wieder Ironie ein, klatschen aufeinander, kriechen ineinander, flicken Klischees zusammen, um sie wieder zu zerdöppern."

"Nurkan Erpulat verwendet große Teile des Originaltextes, am Ende ist man fast ein bisschen verwirrt, man hat irgendwie das Gefühl, man hätte gerade das ganze Buch vorgetragen bekommen", schreibt Hannah Lühmann in der Welt (26.10.15). Das Tolle an Grjasnowas Buch sei seine "strahlende Subtilität". "Dass es diese Geschichte so klar und streckenweise brutal erzählt, dass es nie wirkt, als wolle die Autorin eine These über Herkunft, Identität und Polyamorie illustrieren." Auf der Bühne passiere "etwas Merkwürdiges", so Lühmann: "Statt vom Begehren der jungen Menschen zu erzählen und den Zuschauer mitzureißen, wird das Stück zur unnötigen Veranschaulichung."

Nurkan Erpulat breche in seiner Bühnenfassung die Struktur des Romans auf, arrangiere Szenen um und streiche das Happy End, schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (28.10.2015). "Die Lakonie der Vorlage geht dabei verloren." Aber es entstehe "das kraftvolle Porträt einer heimatlosen Generation". Die vier Schauspieler spielten "ungeschützt und voller Energie", so Meiborg. "Atemlos geht es hier durch die Nacht, Berghain inklusive."

"Die Inszenierung feiert die Dekadenz, die Körperlichkeit, die Abgründe, die Polyamourie, die Insignien der LGBT-Gemeinden. Am Schluss aber bleibt nicht viel mehr als sinnlose Leere", schreibt René Hamann in der taz (28.10.2015). Könne sein, "dass schon der Roman von Olga Grjasnowa mehr heruntererzählt, als dass er irgendetwas Erhellendes bietet". Nurkan Erpulat jedenfalls mache "Theater, wie Theater heutzutage wohl aussehen muss. Es gibt Tanz (aber natürlich nur ironisch), Video, Gymnastik, Gesangseinlagen, das monologisierende Mikrofon, das von Figur zu Figur gereicht wird." Es gebe schon auch "wirklich Momente in diesem Stück, Momente, die Räume aufmachen". Aber dann traue sich die Inszenierung nicht, diese Räume auszuleuchten, "über die Selbstfeier einer Nonkonformität a priori hinaus eine Reflexionsebene zu schaffen".

 

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