Das Vorsprechen - Boris Nikitin versucht an den Münchner Kammerspielen aus der Not(wendigkeit) eine Tugend zu machen
Wer sich zeigt, verbirgt sich
von Sabine Leucht
München, 3. November 2015. Dieser Abend stellt den Kritiker vor ein Problem: Lässt er sich über die Qualitäten einzelner Schauspieler aus oder auch nur darüber, wer von ihnen mit welchem Kniff und welcher Haltung welche Szene wie gestaltet, dann ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass er ihre Aussichten auf ein Engagement beeinflusst. Und er nähme zugleich auch den sechs vermutlichen Notengebern, die bei der Premiere in der Kammer 2 vorne am Bühnenrand saßen, einen Teil ihrer Arbeit ab. Denn der Regisseur Boris Nikitin zeichnet zwar für "Das Vorsprechen" verantwortlich, aber letztlich versteckt sich hinter diesem Etikett genau das: Das Intendantenvorsprechen von Schauspielschülern gegen Ende ihrer Ausbildungszeit. Nur dass die Münchner Kammerspiele in diesem Fall neben den potentiellen Entscheidern über die Zukunft der Bühnen-Youngster auch ganz normales Publikum eingelassen haben. Schön wird das eingangs schriftlich auf den Punkt gebracht: "Heute ist das Publikum gemischt, die Kriterien auch", kann man auf der rückwärtigen Leinwand lesen. Und etwas von den "harten Kriterien" der Profi-Zuschauer, als da sind Haarfarbe und Körpergröße... Okay, das wird vermutlich frech!
"Wirklichkeits"-Konstrukteur und Fiktions-Verschleierer
Das, was zu Beginn des vierten Studienjahres ohnehin stattfinden muss, als offizielle Premiere zu deklarieren, beschert dem Schlitzohr Matthias Lilienthal einen vergleichsweise günstigen Kurzzeit-Magneten für junges Publikum, das beim Betrachten der Szenen, die die sechs angehenden Absolventen und vier Absolventinnen der Otto Falckenberg Schule beim öffentlichen Schaulaufen vor Intendanten, Dramaturgen und Agenten zeigen, das Gefühl hat, hinter die Kulissen und den Gleichaltrigen auf die Finger zu sehen. Und Vieles davon ist ja auch lustig – wenn auch im Einzelnen nicht auf dem Mist von Boris Nikitin gewachsen. Doch weil der ein ausgewiesener "Wirklichkeits"-Konstrukteur und Fiktions-Verschleierer Gießener Provenienz ist, kann man da niemals sicher sein: Zehn Namen derer, die die Szenen mit den jungen Akteuren erarbeitet haben (sollen), stehen im Programmheft. Aber da steht auch, dass Bastian Hagen 1991 in Vaduz geboren wurde – und man hat ihm den Ausbruch aus seiner Travestierolle als Sonja aus Koltès' "Trunkener Prozess" in die eines Hamburger Schnöselsohns seines Namens gerade abgekauft.
Authentizität wird dekonstruiert, der Gestus der Präsentation gebrochen, der des Gefallenwollens unterlaufen, ja zuweilen geradezu konterkariert oder maßlos überzogen. Jonathan Berlins "Hamlet" hat sich mit einer einleitenden Danksagung schon unmerklich in die Rolle geschlichen. Daniel Gawlowski stellt sich brav vor, verströmt sich dann schamlos über seine eigene und die "Geilheit" seiner ganzen Familie und endet ganz still als Päderast aus Kroetz' "Requiem für ein liebes Kind". Einige Schauspieler haben genug Charme und Chuzpe, um mit den Elementen des Sich-Zeigens(-und-sich-darin-Verbergens) zu spielen. Wer es nicht kann, fällt auf.
In Rock und High Heels
Man kann es auch so formulieren, dass sich die zehn eindeutig für verschiedene Sequenzen des Schauspiel-Marktes empfehlen. Man sieht performative Spiellust, ausgestellte Albernheit und gekonntes Understatement ebenso wie das ernsthafte Hineinknien in eine Rolle. Und – weil vor gut einem Monat auf diesen Seiten über Kleidungsempfehlung einer deutschen Schauspielschule diskutiert wurde –: Ja, jede der vier Damen kann prima auf hohen Schuhen laufen. Und zwar auf wirklich hohen, die sie teils aber auch schnell wieder abstreifen. Fast alle tragen Rock oder Kleid und spielen sehr – ähm – geschlechtsspezifische Rollen von der somnambulen Rächerin Elektra über die Möchtegernschauspielerin Nina in Tschechows "Die Möwe" bis zur megaschrillen Hysterikerin (gleichwohl mit Fähigkeit zur Selbstdistanzierung). Ob es hier an Mut mangelte, schlicht nach den Anforderungen des Marktes entschieden wurde oder man sich genau das fragen soll? Man weiß es nicht.
Noch vier Mal steht "Das Vorsprechen" auf dem Spielplan der Kammerspiele. Ein Abend, der von Videofilmen strukturiert wird, in denen die Schauspielschüler etwa über das diskutieren, was für sie Schauspielen bedeutet und was wohl aus ihnen werden mag. Man sieht sie ratlos aussehen, redend Volten drehen oder unzensiert naive Fragen stellen. Und wieder muss man annehmen, dass man sie auch hier nicht anders sieht, als sie gesehen werden wollen. Nikitins klug gesetzte Irritationen und filmische wie musikalische Brückenschläge reichen dennoch nicht aus, um das dreistündige Szenen-Potpourri zu einem vollgültigen Theaterabend zu machen. Die drei bis vier Namen derer, die man selbst engagieren oder genauer beobachten wollen würde – sei es wegen eines großartigen Umgangs mit der eigenen Körperlichkeit oder nur aufgrund eines betörenden Songs am Rande – nimmt man still mit nach Hause. Das Beurteilen ist diesmal der Job von Anderen. Dies zumindest ist eine ungewohnte Erfahrung.
Das Vorsprechen
Konzept und Inszenierung: Boris Nikitin. Video: Felicitas Sonvilla, Julia Swoboda, Sounddesign: Matthias Meppelink, Licht: Michael Pohorsky, Dramaturgie: Katinka Deecke.
Die Szenen wurden erarbeitet von Jorinde Dröse, Anna Knaak, Shenja Lacher Thomas Loibl, Wiebke Puls, Pia Richter, Manfred Riedel, Max Simonischek, Cigdem Teke, Eckhard Winkhaus.
Mit Philipp Basener, Jonathan Berlin, Daniel Gawlowski, Bastian Hagen, Colin Hausberg, Nurit Hirschfeld, Merlin Sandmeyer, Maike Schroeter, Irina Sulaver, Caroline Tyka.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de
Kritikenrundschau
Der Abend macht es dem Kritiker nicht leicht. Egberth Tholl in der Süddeutschen Zeitung (5.11.2015): Zum einen zeigten die zehn Absolventen (Solo-)Szenen, die sie mit ihren Lehrern erarbeitet hätten. Zum anderen weiche Nikitin die Grenzen auf. Alle zehn träten "mehr oder weniger" von den Szenen zurück und bewegten sich "in einem Raum der Selbstkommentierung". Dazu sehe man Videos, die jungen Schauspieler redeten "über ihren Beruf, ihre Erwartungen, ihre Ängste". Als Aufführung insgesamt sei das Ganze "schwierig". Manche der Zehn seien "schon jetzt beeindruckend", manche verkrampften sich in "fühligen Angelegenheiten". Albern wäre es, die Zehn "einzeln zu beurteilen" ...
Patrick Bahners zeigt sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.11.2015) fasziniert von der Ich-bin-geil-Show des Daniel Gawlowski. "Seine Eignung für jede Hauptrolle soll eine Eigenschaft beweisen, deren Lexikondefinition permanente Fruchtbarkeit lautet ... Die Beweisführung nimmt das Wort so drastisch, vulgär und rotzig, wie es herausgeschleudert wird, das heißt so gut wie wörtlich".
Der Witz der "Angebernummer" sei, dass sie von Anfang an als "Performance" erkennbar sei ohne "unglaubwürdig" zu sein. Der Münchner Abend sei "informativ", zeige er doch, wie wenig ein Vorsprechen noch mit dem "Wortsinn der Vokabel" zu tun hat. "Der Text wird auseinandergenommen, gekürzt und gestreckt, umgestülpt und durchlöchert. Er liefert Stichworte für Kabaretteinlagen, vor allem Lieder, Lieder, Lieder. Einziges unentbehrliches Requisit: der Mikrofonständer." Die "Lebenskraft" aufzubringen, die "der Dekonstruktion standhält", sei heute der Beruf des Schauspielers.
Tobias Becker schreibt auf Spiegel Online (6.11.2015): Wie Marcel Duchamp einst das Urinal, so setze Nikitin das Intendantenvorsprechen in einen "neuen Kontext". Er verpasse ihm einen "neuen Rahmen". Im Unterschied zum "normalen Intendantenvorsprechen" habe Nikitin "einige der anwesenden Profis" an Tischen platziert, "gut sichtbar" für die übrigen Zuschauer. "Diese begutachten die Schüler - und gleichzeitig begutachten sie die Profis beim Begutachten."
In Interviewschnipsel dächten die Schauspielschüler darüber nach, wieso sie den Beruf ergreifen wollten, "vermeintlich authentische Momente", sie "spielen dennoch: sich selbst". Der "Zwang, sich selbst anzupreisen, führt dazu, dass die Schauspielschüler nie komplett hinter ihren Rollen verschwinden. Es ist, wenn man so will, ein sehr zeitgemäßes Setting: Der Schauspieler im postdramatischen Theater ist immer auch ein Performer seiner selbst." Wie groß die Leistung des "Readymade-Regisseurs Nikitin" an diesem Abend ist, lasse sich "schwer bewerten", die Leistung der Schauspielschüler hingegen schon. Die sei groß, bei mindestens vieren.
Anlässlich des Gastspiels an der Kaserne Basel nimmt Barbara Villiger Heilig von der Neuen Zürcher Zeitung (26.3.2016) diese Inszenierung zum Indiz, wie sehr postdramatische Spielweisen und das Ausschwärmen in soziale und epische Bereiche das Theater heute prägen. Ein "konventionelles Sich-Einfühlen in Repertoire-Figuren" scheine auch an Schauspielschulen heute "die Ausnahme zu sein und nicht die Regel. Es kann nachgerade Befremden auslösen." Entsprechend wirkt eine (postdramatisch) reflexive "Hamlet"-Paraphrase, in der der Spieler sich länglich bei seinen Eltern usw. bedanke und dabei seine Figur eher umspiele als spiele, auf die Kritikerin viel eindrücklicher als eine klassisch einfühlungsästhetisch gespielte Tennessee-Williams-Szene.
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nachtkritikvorschau
Sollten sie nicht vielleicht eher etwas bezahlen? Schließlich ist die ihrem Vorsprechen zuteilgewordene mediale Aufmerksamkeit anderen Schauspielstudent*innen gegenüber sicherlich ein geldwerter Vorteil.
Kein Publikum - Tschüss Schauspieler - Ade Theater.
Theater ohne Publikumsverkehr geht gar nicht gut. Ich war Publikum und das hat mir gut gefallen. Gute Unterhaltung vor Publikum - das ist der Sinn der Veranstaltung, oder ?