Shitler weit weg

von Lukas Pohlmann

Freiberg, 7. November 2015. Etwa 40 Kilometer vor Dresden liegt Freiberg. Mitten drin im bräunlich brodelnden Sachsen. In Freiberg wiederum steht das älteste bespielte Stadttheater der Welt. Dort zeigt das Mittelsächsische Theater nun die historischen Dimensionen von George Taboris "Mein Kampf". Ein Beitrag des Theaters zur Lage der Nation, könnte man meinen.

Wirkung des Textes

Schauspieldirektorin Anett Wöhlert und Ausstatter Hans Ellerfeld versuchen aber gerade nicht, der Farce um den Juden Schlomo, der den scheiternden Jungmaler Hitler unter seine Fittiche nimmt, zwanghaft einen gegenwärtigen Anstrich zu verpassen. Sie wollen werktreu der Wirkung des Textes vertrauen. Folglich ist auf der Bühne Wien im Winter. Durch das schmiedeeiserne Doppelstockbetten-Diorama eines Männerasyls um 1910 scheint ein überdimensionales Ziffernblatt. Das ist seiner Bestimmung jedoch enthoben und darf statt der Uhrzeit die von der Regie ausgemachten Themen das Abends präsentieren: "Gott", "Liebe", "Zweifel" ist in großen Lettern zu lesen. Außerdem holen überall Straßenlaternen das kalte Draußen ins nicht viel wärmere Drinnen.

Mein Kampf3 560 Joerg Metzner uRasur textbuchgetreu, Franka Anne Kahl und Ralf Sählbrandt   © Joerg Metzner

Komisches Duo

Auch die Kostüme folgen leicht verallgemeinert der historischen Mode: Die Herren tragen Mantel, Hose, Hemd und Weste, Hitler darf sich in grauer Rip-Unterhose und langem Nachthemd zeigen, nur Schlomo Herzls Schläfenlocken hängen an der Mütze, nicht am Haupthaar. Dass Hitler übrigens mit einer Frau besetzt ist, ist vollkommen unprogrammatisch, schlicht egal. Franka Anne Kahl arbeitet sich beseelt chaplinesk am frühen Führer ab und kommt durch schiere Nachahmung dem Vorbild nahe. Tatsächlich bildet sie mit Schlomo-Spieler Ralph Sählbrandt ein komisches Duo. Sie mit ihrem unbeholfen-selbstbewussten Adolf, der sich nicht "Shitler" nennen lassen will. Er als schalkhafter, gebeugter jüdischer Bibelverkäufer, der Hitler aus Mitleid das Selbstbewusstsein aufpoliert. Die beiden funktionieren miteinander und es macht eine Weile Spaß, ihnen beim Zitateschleudern, Sprücheklopfen und Klischeereiten zuzuschauen.

Alles egal

Doch das Pulver ist alsbald verschossen. Spätestens zur zweiten Hälfte hat der großartige Düsterhumor des Autors auf der Bühne einen Bart. Die Zuspitzung der Farce wird nur behauptet. Die Entwicklungen sind vollkommen undurchsichtig. Dass Hitler Schlomos nicht ganz ernstgemeinten Rat, in die Politik zu gehen, umsetzt, ist noch nachvollziehbar. Doch die Verwandlung der keuschen Herzl-Geliebten in ein Hitler-Mädchen, die Auftritte der Tiroler Tölpel (als heutige Oktoberfestbesucher) und Bürger (teils historisiert, teils in Trainingsjacke mit Fußball) sind so uninspiriert und dem Textbuch nacherzählt, dass sie weder schockieren noch belustigen noch in irgendeiner Art bewegen oder anregen. Da wird geschubst, geschuhplattelt, Walzer getanzt und Hitler angegafft – aber all das ohne Sinn und Kraft. Einzige Ausnahme ist der Auftritt von Oliver Niemeier als Frau Tod, die mit großartiger Verve und hinreißend aufgesetztem Wiener Schmäh Hitler als Handlanger gewinnt. Dass hier nun eine Frauenrolle mit einem Mann besetzt ist, ist übrigens unprogrammatisch und schlicht egal.

So egal, wie die Tatsache, dass "Mein Kampf" in Sachsen Premiere feiert. Ein freundlicher älterer Premierenbesucher bemerkt beim Blick auf die AfD- und Pegida-Reflexionen aus taz und Zeit im Programmheft: "Ah, hier was Modernes – Pegida und so". Und beim wohlwollenden Applaus freut er sich über das Bemühen des eigenen Stadttheaters. Und er muss sich keine Gedanken darüber machen, was das alles mit brennenden Asylunterkünften und Bürgerwehren zu tun hat. Denn dieser Hitler auf der Bühne, der war ja in Wien – um 1910.

 

Mein Kampf
von George Tabori
Deutsch von Ursula Grützmacher-Tabori
Regie: Anett Wöhlert, Ausstattung: Hans Ellerfeld, Dramaturgie: Matthias Wolf.
Mit: Franka Anne Kahl, Anna Bittner, Farina-Liza Tollewski, Katrin Steiert, Ralph Sählbrandt, Michael Berger, Oliver Niemeier, Martin Ennulat, Johann Christoph Laubisch, Achim Grunke, Tom Friedrich, Robert Lewetzky, Dieter Obst, Mizzi (Huhn).
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

/www.mittelsaechsisches-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Der verhandelte Stoff hätte ob seiner Bitterkeit schnell zur Zumutung werden können, doch sobald die Stimmung auf der Kippe stand, wurde sie mit absurdem Slapstick aufgelockert", schreibt Sarah Hofmann in der Freien Presse (10.11.2015). "Von den fast drei Stunden, die das Stück dauerte, geriet keine Minute zu viel." Das "grandiose Ensemble" habe sich spürbar freigespielt: "Ralph Sählbrandt als Schlomo Herzl zerbricht am eigenen Idealismus und das Publikum leidet mit. Oliver Niemeier brilliert als Tod in Gestalt einer Grande Dame, kapriziös und tiefgreifend und Franka Anne Kahl spielt das infantile Ekel Hitler das sich die Welt gnadenlos unterwirft und nach unten tritt wo er nur kann."

Taboris Stück ist für Michael Bartsch in den Dresdner Neuesten Nachrichten (12.11.2015) ein "großes Werk über die Sehnsucht nach Liebe, deren Nichterfüllung im Extremfall durch brutale Perversionen kompensiert wird." Die Umsetzung in Freiberg überzeugt den Kritiker, auch wegen der "durchweg hohen Sprechkultur". So empfiehlt er den Leser*innen in Dresden die Fahrt ins 35 km entfernte Provinzstädtchen: "Einmal mehr wäre zu entdecken, welche schauspielerischen Potenziale sich auch an den Kulturraumtheatern entfalten. Und eine von Autismus freie, einfach nur schlüssige Regie tut auch einmal wieder gut."

 

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