Rausch in Blech

von Tobias Prüwer

Leipzig, 7. November 2015. Der letzte Ton der Jupiter-Hymne ist gerade verklungen, da bricht der Beifallssturm bereits los. Ein komplett beglückter Saal beschert im Schauspiel Leipzig mit Standing Ovations eine Zuschauerreaktion, die so gewaltig ist wie das zuvor Gesehene. "En avant, marche!" ("Vorwärts, marsch!"): Getanzt wird zunächst gar nicht bei dieser Alain Platel-Produktion, später ein wenig. Dass ihn Genregrenzen nicht jucken, hat der belgische Choreograf und Regisseur auch als Dauergast auf der Leipziger Euro-Scene schon oft bewiesen. Zusammen mit Regisseur Frank Van Laecke präsentiert er in diesem Jahr eine grandiose Gesamtkomposition aus Sprech-, Musik- und Tanztheater. Heimlicher Hauptdarsteller der berührenden Inszenierung ist die Blechblaskapelle.

Im Kopf des Posaunisten

Eine Handlung im engen Sinn gibt es nicht, das Stück zeigt revueartig Lebensmomente eines Musikers, vielleicht bebildert es auch nur das Kopfkino eines sterbenden Posaunisten. Wegen Kehlkopfkrebs kann dieser sein Instrument nicht mehr bedienen und wird ans Becken versetzt. In der ersten Szene probt er seinen Einsatz bei Wagers "Lohengrin"-Vorspiel vor einem Kassettenrekorder. Dann sinkt er vom Stuhl, als die Kapelle Einzug hält. Später – oder eben aus der Rückschau – spielt er mit, gibt Soli, tanzt.

 

Wie im Rausch fliegt dieser exorbitante Abend von Musikstück zu Musikstück, touchiert Erinnerungen des Musikers und die Zuschauerherzen. Momente einer Probe erstehen wieder auf, die Liebe des Posaunisten zu seiner Frau in der Jugend, im Alter. Höchst einfallsreich die interpretation der Musiknummern. Mal spielen einzelne Musiker, mal das ganze 50-köpfige Orchester. Die lokalen Leipziger Orchester Liebertwolkwitz und Holzhausen unterstützen das Musikerensemble aus Belgien. Eine Eigenkomposition des Dirigenten Steven Prengels, er zeichnet auch für die musikalische Bearbeitung verantwortlich, wird als Klopfperkussion auf Mundstücken gegeben, ein Marsch als musizierender Bewegungschor à la Spielmannszug.

Bis auf einen traditionellen Balkansong bilden bekannte Werke der klassischen Musik das Material und sie klingen doch neu, weil so ungewöhnlich für's Blech arrangiert. Selbst Gustav Mahlers "Des Knaben Wunderhorn" oder Giuseppe Verdis "Il Trovatore" entlockt die Kapelle unerhörte Facetten, von Jacques Nicolas Lemmens’ Orgelstück "Fanfare" ganz zu schweigen. Ganz nebenbei räumt der Abend mit dem Klischee auf, Blaskapellen seien nur etwas für Militär, Bierzelt, Karneval.

En avant marche2 560 Phile Deprez u"En avant, marche!"  © Phile Deprez

Leiden und Schwelgen

Dosiertes Pathos und leiser Witz, viel Gefühl und noch mehr Leichtigkeit bringen den Abend zum Schweben. Es überträgt sich ein Leiden und Schwelgen in Schön- und Erhabenheit, das trotzdem nicht in Gefühlsduseligkeit abschmiert. Ein fantastischer Wim Opbrouck vereint in sich gleichermaßen Schauspiel- und Gesangstalent und agiert mit berührender Präsenz. Er formt Melodien wie eine menschliche Beatbox oder während er seine Medikamente gurgelt und wird in einem Tanzduett trotz seiner stämmigen Figur zum Himmel aufgehoben wie eine federleichte Primaballerina. Dennoch übertrumpft er die anderen Ensemblemitglieder zu keiner Zeit, Musiker wie Schauspieler treten wie eine organische Einheit auf. Genauso wie die Profimusiker mit den beiden Leipziger Laienorchestern sich völlig auf einer Ebene bewegen. Die Amateure werden ernst genommen, müssen nicht zum Ausstaffieren herhalten, sondern tragen ihren Part zum Gelingen der Inszenierung bei.

In die Sitze gedrückt

Wenn am Ende Franz Schuberts ohnehin morbid-zerbrechlicher "Leiermann" nur auf dem Mundstück eines Horns erklingt, scheint's als schlügen die Herzen des gesamten Publikums einen Viertel-Takt langsamer. So zerbrechlich ist der Vortrag, zu dem der Posaunist wie zur Grablegung von den Musikern auf Händen getragen wird. "Et tutti", "und alle": noch einmal legt das volle Orchester frontal los. Zu Gustav Holst’ "Jupiter-Hymne" nimmt der Posaunist seinen Mantel und entschwindet von der Bühne, während der Zuschauer hin und her gerissen zwischen Freude und Mitleid, Trauer und Glück von der Blechblasgewalt in die Sitze gedrückt wird. Nur, um daraus bei Stückende applaudierend herauszuschnellen.

 

En avant, marche! (Vorwärts, marsch!) 
NTGent & les ballets C de la B 
Konzeption und Inszenierung: Frank Van Laecke, Alain Platel 
Musikauswahl und Bearbeitung: Steven Prengels, Dirigent: Steven Prengels.
Mit: Griet Debacker, Chris Thys, Hendrik Lebon, Wim Opbrouck.
Musiker: Lies Vandeburie, Jan D’Haene, Niels Van Heertum, Jonas Van Hoeydonck, Simon Hueting, Witse Lemmens, Gregory Van Seghbroeck, Mitglieder der Orchester Holzhausen und Liebertwolkwitz. 
Dauer: 1 Stunde, 45 Minuten, keine Pause

www.euro-scene.de 

 

Kritikenrundschau

Lilo Weber schreibt auf nzz.de der Website der Neuen Zürcher Zeitung (29.6.2015): Ungewöhnlich sei dieses "Musik-Tanz-Theater", aber man erkenne vieles wieder, was Platel seit 30 Jahren umtreibe. Wieder handele es sich um ein "Passionsspiel". Das Konzept mit dem Spiel von Profis und Laien gehe auf. Die Musikerinnen und Musiker würden von Alain Platel und Frank Van Laecke "mehr orchestriert denn choreografiert". Das "Bewegungsmaterial" sei "einfach, aber effektvoll". Der "Leiermann" auf dem Mundstück getrommelt: "herzzerreißend".

Eva-Elisabeth Fischer schreibt in der Süddeutschen Zeitung (2.7.2015) über das Gastspiel bei den Schlossfestspielen Ludwigsburg: Die regionalen Laienmusiker, die an jedem Spielort wechseln, ackerten "sich wacker durch ein durchaus anspruchsvolles Repertoire". Platel konfrontiere in "En avant, marche!" das individuelle Schicksal eines an "Kehlkopfkrebs leidenden Posaunisten" mit dem "sozialen Verband eines Orchesters". In dessen Alltag spielten "private Kalamitäten eines Einzelnen keine Rolle". Etliche weitere Handlungsfäden verlören sich "bedauerlicherweise im Nichts". Alles in allem gehe es um "die Wahrhaftigkeit der ganz großen Gefühle". Das "Konstrukt" sei "überfrachtet", "dramaturgisch wackelig", die "hirnrissige Geschichte schleppe sich "in eher zufällig und kaum schlüssig aneinandergereihten Szenen dahin", sei "schlecht getimt" und selten "wirklich packend". Protagonist wie Plot seien "unglaubwürdig".

Regine Müller schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.7.2015): Platel habe sich von einer Fotoausstellung mit Porträts von Laien-Blasmusikern inspirieren lassen. Pirandellos Dialog aus "Der Mann mit der Blume im Mund" bilde die Textgrundlage der Eingangsszene. Wenn der kranke Posaunist am Ende die Posaune weiter an seinen Nachfolger reiche und die beiden einen "skurrilen Pas de deux" tanzten, bekomme das von Opbrouck gebrüllte Marschkommando "En avant, marche!" eine ganz neue Bedeutung: "Es werde zu einer Chiffre der Ermutigung". Wahrer "Trost" entspringe nur der Musik oder sei nur in der "Musikergemeinschaft" zu finden, die "zugleich soziale Heimat" sein könne. Die "metallisch-sonoren Blasmusik-Töne" rüttelten an "etwas Unbewusstem, das jenseits jeden Klischees liege". Die Musik sorge durch "Verfremdungen" für "einsame Inseln von überwältigender Zärtlichkeit und Melancholie". Das Stück wirke wie "improvisiert", in einer "seltenen Balance zwischen Pathos und Komik". Und das seit ja, "in Wahrheit, die Kunst".

 

 

Kommentare  
En avant, marche!, Leipzig: weiter südlich
Und so wars 4 Monate davor in der Provinz, 450 km südlich von Leipzig: http://faustkultur.de/2339-0-Ludwigsburger-Schlossfestspiele-2015-Teil-3.html#.Vj8UV7_Eb9A
En avant marche!, Berlin: lebensbejahende Kraft
Peter Maffay, William Shakespeare, Gustav Mahler: Kunst kennt keine Grenzen, alles ist wertvoll, so lange es zum Menschen vom Leben spricht. Unglaublich verspielt ist dieser Abend – die mittels übereinander liegender Fenster aus zwei Darstellerinnen zusammengesetzte Tambourmajorin ist nur ein Beispiel, augenzwinkernd assoziationsreich durchschreitet er ein Spektrum der Emotionen, das dem, wovon er erzählt nur zu gerecht wird. Wenn einer der Bläser das Mundstück abtrennt und auf ihm todtraurig Schuberts Lied vom “Leiermann” aus der Winterreise intoniert, während stumm dazu getanzt wird, dann ist das auf eine so essenzielle, ja, existenzielle weise berührend, wie man es im Theater selten erlebt. Im Kosmos aus Spiel – die Orchesterprobe ist eine der Folien des Stücks – Glück, Albernheiten, aus Leben und Tod, Liebe und Abschied, Kunst und ihrem Verstummen (das stumme, zeitlupenhafte Geisterorchester) entfaltet sich die Kraft von Kunst und Musik, zu verbinden, zu trösten, aber auch einen Spiel- und Experimentierraum zu bieten, in dem sich die menschliche Imagination ausbreiten, in den man auch einmal fliehen kann, wenn “da draußen” alles zu viel wird.

Dabei bestreitet der Abend auch die Ambivalenz der Kunst, ihre Instrumentalisierbarkeit nicht. Da wird die Kapelle zum militärisch anmutenden Spielmannszug, marschiert gemäß dem Stücktitel über die Bühne und schließt aus wie sie einbindet. Doch Platel, sein Co-Regisseur Frank Van Laecke und Komponist Steven Prengels, der Eigenes beisteuert und auch als Dirigent agiert, sind Optimisten: Sie glauben an die lebensbejahende Kraft der Kunst, die in der Lage ist, auch das engste Korsett, wenn nicht abzuschütteln, so sich doch in ihm autonom breit zu machen, sich zu behaupten, wie ein kleines Nest des Widerstands in einer Welt des Todes. Der einsame Spiele findet sich wieder als Teil dieses Lebensflusses, darf die geliebte Posaune, mit der er selbst ins Bett ging, wie seine Frau erzählt, ein letztes Mal halten, und geht dann still und beiläufig ab. Die Musik, jenes Gustav Holsts geht weiter, eine kosmische Ewigkeit, die den Tod beweint und das Leben umarmt. Wie dieser Abend. Keine zwei Stunden lang und doch pures Theaterglück, das nachhallt. “Man darf nicht aufhören zu spielen”, sagt Opbrouck einmal. Als wäre das möglich.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/07/07/nicht-aufhoren-zu-spielen/
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