Tapetentragödie

von Kai Bremer

Osnabrück, 8. November 2015. Information ist und macht Politik. Das ist keine neue Erkenntnis, auch wenn sich die Medien der Übermittlung ändern. Friedrich Schiller stand dieser Umstand deutlich vor Augen, als er "Don Carlos" schrieb. In keinem anderen Stück der deutschen Literatur haben Briefe und der Besitz von Briefen, erlauschte Gespräche und der Versuch, Gespräche zu erlauschen, eine größere Bedeutung als in seinem "dramatischen Gedicht".

Papierkonstellationen

Informationen wurden im vorelektrischen Zeitalter zuvörderst auf Papier in Gestalt von Briefen und durch Papier – nämlich durch die tapezierten Türen und Wände – übertragen. Alexander Charim (Regie) und Ivan Bazak (Bühne und Kostüme) tragen dem bei ihrem "Don Carlos" in Osnabrück im Großen Haus Rechnung. Auf die Bühne haben sie eine nach oben nicht abgeschlossene Guckkastenbühne gestellt, hinter der eine Fototapete mit Wasserfall den Blick begrenzt.

don carlos 1 280 Markus Kruszewski uCarlos und Posa: Orlando Klaus und Stefan Haschke  © Marek Kruszewski Die Tapeten an der Guckkastenbühne deuten mal barocke Hinterzimmer an, mal sind sie in technokratischem Grau gehalten. Immer wieder werden sie abgerissen, geben Schicht für Schicht den Blick auf die sich verändernden Konstellationen frei. Zu Beginn scheinen wir gar in Carlos' Kinderzimmer versetzt, an dessen himmelblauer Wand Wölkchen, weiße Schäfchen und Entchen prangen und – Achtung Symbolik! – Goyas Monster mit dem Eulenkopf aus "El sueño de la razón produce monstruos" ("Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer") ihre Flügel ausbreiten.

Liebe zum Text

Diese erste Tapete kündigt an, was das Ziel der Inszenierung ist: eine exakte Befragung des dramatischen Textes im Hinblick auf sein ursprüngliches Anliegen und damit keine vordergründige Aktualisierung, die sich angesichts der Themen Information und Politik vielleicht angeboten hätte.

Charim und Bazak erledigen das ohne historistisches Bimbamborium (gekleidet sind die Menschen am Madrider Hofe wie moderne Monarchen und Würdenträger, die Mode ist eher italienisch als spanisch) und mit großer Liebe zum Text. Schillers 5369 Verse werden längst nicht alle gesprochen; die letzte Szene wird gar ganz gestrichen. Gleichwohl ist die Inszenierung eine Liebeserklärung an das Literaturtheater, wie man sie selbst abseits der Metropolen nur noch selten zu sehen bekommt.

don carlos 11 560 Markus Kruszewski uMarquis Posa und Königin Elisabeth: Stefan Haschke und Marie Bauer © Marek Kruszewski Obwohl das Theater Osnabrück aktuell gut besetzt ist, kommen bei Schillers Blankversen einige Schauspieler an ihre Grenzen. Dann artikuliert sich die Verzweiflung nur noch in herausgepressten oder geschrienen Worten. Anders bei Marie Bauer als Elisabeth, Orlando Claus als Titelhelden, Stefan Haschke als Posa und Stephanie Schadeweg gleich in einer ganzen Reihe von Rollen: Mit diesen Protagonisten stehen vier Schauspieler auf der Bühne, die souverän die Rhetorik und den Atem des Textes beherrschen und zugleich mit Körpersprache überzeugen.

Eboli goes youtube

Charim bringt aber nicht nur eine Tapetentragödie auf die Bühne, die in ihrer Insistenz auf dem klassischen Text den Inszenierungen von Andrea Breth in nichts nachsteht. Er zeigt zugleich, dass eine solche Theaterarbeit von Ideen profitieren kann, die in ganz anderer Theatertradition stehen. So entzieht er den eindringlichen Dialog zwischen Elisabeth und Prinzessin Eboli (Christine Diensberg) den Blicken des Publikums und verlegt ihn in den Zwischenraum zwischen Guckkastenbühne und hinterer Fototapete. Dort wird ihr Gespräch gefilmt und Castorf-/Neumann-mäßig auf die Leinwand über der Bühne projiziert. Derart unterbindet Charim jeden Einfühlungskitsch und steigert zugleich die Konzentration auf die Handlung.

Die Schauspieler wie das Regieteam erhielten für all dies zurecht langen Applaus. Nicht zu übersehen war aber auch, dass nach der Pause zahlreiche Plätze leer blieben. Nach Eindruck des Kritikers kehrten gerade die nicht zurück, die vom Theater gerne fordern, dass es den Schiller endlich mal wieder so inszenieren solle, wie der sich das gedacht habe. Charims Inszenierung hat ihre Forderung auf eine Weise erfüllt, die ihre Kleinkariertheit bloßgelegt hat.

 

Don Carlos
Dramatisches Gedicht von Friedrich Schiller
Regie: Alexander Charim, Bühne und Kostüme: Ivan Bazak, Musik: Eberhard Schneider, Dramaturgie: Maria Schneider, Sven Kleine.
Mit: Marie Bauer, Patrick Berg, Christine Diensberg, Stefan Haschke, Anne Hoffmann, Orlando Klaus, Thomas Kienast, Dennis Pörtner, Stephanie Schadeweg, Statisten.
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.theater-osnabrueck.de

 

 
Kritikenrundschau

Alexander Charim habe Schillers "Reflexionen darüber, wie und wann man eine Diktatur stürzen kann" in seiner Osnabrücker Lesart "wunderbar plausibel gemacht", schreibt Christine Adam in der Neuen Osnabrücker Zeitung (online 8.11.2015). Die Inszenierung arbeite mit "gut verständlicher Symbolik, um die Schwäche von jedem Staatswesen zu veranschaulichen, dass von der Angst regiert wird". Allerdings bemängelt die Kritikerin die Textverständlichkeit. Die Spieler wirkten mitunter "unfrei, wie im Bann der Textlast", zeigten Schwierigkeiten, "die Schiller'schen Verse deutlich zu artikulieren". Die Kritikerin empfiehlt hier Nacharbeit. "Verdient hätte es eine sonst hochkarätige Produktion."

 

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