Leichter Hauch von Paranoia

von Christian Rakow

Berlin, 12. November 2015. Salopp und schlunzgewitzt (wie sonst!) kommt Jürgen Kuttner mit Sonnenbrille und Hawaiihemd eingangs zum Publikum vor und kredenzt sein Intro wie einen Cocktail am Pool: "Was hat euch eigentlich hier her gebracht?" Aber weil Kuttner schon leise zu den folgenden Gerichtsprozessen überleitet, in denen viel gefragt und wenig auf Antworten gewartet wird, muss niemand aus den Zuschauerreihen das Wort ergreifen.

Antworten kann man natürlich trotzdem: Mich zum Beispiel hat das Regie-Duo Tom Kühnel / Jürgen Kuttner in die Kammerspiele des Deutschen Theaters gebracht, das hier seit mehreren Spielzeiten nun schon so etwas wie eine Archäologie des 20. Jahrhunderts betreibt: Landvermessungen und Ausgrabungen zwischen Zarismus, Kommunismus und Kapitalismus. Auf den Ruhrfestspielen und in Hannover haben sie zuletzt mit Heiner Müllers Der Auftrag ein großes Revolutionärs-Varieté aus den Tiefen der Zeit geborgen. Auch ein Grund wiederzukommen. Und dann spielt bei Kühnel / Kuttner natürlich regelmäßig der rauschbärtige und rauschsinnige Michael Schweighöfer als veritable Inkarnation von Karl Marx. Wer, wenn nicht er, könnte den "Karl Marx der Musik" verkörpern, also Hanns Eisler, gemäß der Anrede, die der amerikanische Untersuchungsausschuss "für unamerikanische Umtriebe" (vulgo die McCarthy-Gerichtsbarkeit) im Jahr 1947 für Eisler wählte.

Familienaufstellung zwischen McCarthy und Stalin

Hanns Eisler 1947/48 vor dem McCarthy-Ausschuss. Quelle: Rongart / Youtube"Eine Familienaufstellung" haben Kühnel / Kuttner ihre Stückentwicklung "Eisler on the Beach" genannt. Und wahrlich, diese drei Eisler-Geschwister könnten eine Therapie zur Versöhnung gut gebrauchen. Ruth Fischer, 1924 kurzzeitig Vorsitzende der KPD, liefert in den USA ihren Bruder Gerhart Eisler, mit dem sie seit 1926 zerstritten ist, an die McCarthy-Justiz aus. 1947 tritt sie als Zeugin gegen Gerhart auf, dem sie unterstellt, Untergrundarbeit für Stalin zu betreiben. Hanns, der zu Gerhart hält, rückt mit ins Visier der US-Ermittler. Nach seiner Ausweisung aus den USA und Gerharts Flucht machen die Brüder Karriere in der DDR: der Arbeiterlieder-Komponist, Schönberg-Schüler und Brecht-Intimus Hanns als Tonsetzer der DDR-Nationalhymne, Gerhart als ZK-Funktionär und Rundfunkleiter. Ruth (von Stalins Justiz 1936 in Abwesenheit zum Tode verurteilt) widmet sich in den Staaten dem Kampf gegen den Stalinismus.

Kühnel / Kuttner bestreiten ihren Abend zu großen Teilen aus Verhörmitschnitten von Hanns Eisler vor dem US-Untersuchungsausschuss. Immer wieder die Fragen: Waren Sie Mitglied der Kommunistischen Partei? Immer wieder die skurrile Wieselei des Musikers der Brecht'schen "Maßnahme": Nein, er habe nie Liedgut komponiert, das er als revolutionär oder kommunistisch einstufen würde. Die Befragungen verlegen Kühnel/Kuttner mal in ein Hotelzimmer, wo sich ein Paar die Sätze zuhaucht (filmreif: Maren Eggert, Ole Lagerpusch), mal in einen American Diner (mit einer famosen Simone von Zglinicki als Spitzel von schwachem Begriff), jeweils Gemälden von Edward Hopper nachempfunden.

Hopper ist der Maler, der Hitchcock inspirierte. Aber psychotisch oder unheimlich wird es im DT nicht wirklich. Im Geiste der Familienaufstellung gibt sich der Abend betont harmlos. Die jungen Spieler Maren Eggert (als Ruth), Daniel Hoevels (als Gerhart) und Ole Lagerpusch (als Hanns) haben jeweils ein älteres Doppel zur Korrespondenz: Simone von Zglinicki, Jörg Pose und – eben – Michael Schweighöfer als launigen Hanns Eisler im Marx-Look.

Eisler3 560 ArnoDeclair hVorne am Mikro performt Ole Lagerpusch als Hanns Eisler, während seine Kollegen hinten im Hopper-Double chillen. Links: die "Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot" © Arno Declair

Zarter Musical-Schmelz

Wenn regelmäßig die wundervoll kantigen Lieder von Eisler erklingen, dann müssen vor allem die Jüngeren ran – und das Ganze gleitet in zarten mikroportgestützten Musical-Schmelz ab. Da wäre unter der Mitwirkung der energetischen Berliner Blasmusik-Combo "Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot", links und rechts des Showbühnenrahmens, eigentlich mehr zu holen gewesen. Mehr Schrägheit allemal.

So dreht sich die große Hollywood-Backstage-Bühne mit ihren diversen Räumen gemütlich hin und her, wirft Hopper-Bilder aus, lehrt Eisler-Basics, was verdienstvoll ist, und ein wenig, ein ganz klein wenig, weht auch etwas von der kalten Kriegsparanoia der Amerikaner heran. Ein leichter Luftzug von Paranoia, keine eisige Böe. Es ist ein Abend, von dem gilt, was Eisler über Malibu sagt: "Man leidet ja ungeheuer in diesem ozeanischen Klima an einer fehlenden Konzentration. Es ist einfach alles zu lau und zu milde (...). Mein Freund Brecht meint auch: 'Da darf man sich auf keinen Fall gehenlassen, wenn die Luft so milde ist.'"

 

Eisler on the Beach
Eine kommunistische Familienaufstellung mit Musik
von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner
Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Maren Eggert, Daniel Hoevels, Jürgen Kuttner, Ole Lagerpusch, Jörg Pose, Michael Schweighöfer, Simone von Zglinicki, Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot (Live-Musik), Marlene Blumert (Live-Video).
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Die Anspielung im Titel dieses Abends verweist (natürlich) auf den Klassiker von Philipp Glass und Robert Wilson Einstein on the Beach, den nachtkritik.de beim Berliner Gastspiel im März 2014 besprach.

Kritikenrundschau

Die "Ausgrabungen" von Jürgen Kuttner und Tom Kühnel verbänden "echtes Interesse mit kluger Ironie", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (14.11.2015). "Eisler on the beach" sei eine "raffinierte Collage". Die Schauspieler*innen findet Laudenbach gut bis "großartig". Einen "seltsamen Kontrast" bildeten die Emigranten, die es bühnebildmäßig "in Gemälde von Edward Hopper verschlagen" habe. In "der US-Moderne" wirkten die Intellektuellen aus dem "alten Europa wie Überbleibsel einer untergegangenen Welt". Ein gelungenes Bild für die Isolation und Unbehaustheit des Exils", findet Laudenbach.

Auf René Hamann von der taz (14.11.2015) "wirkt die Szenerie historisch sehr, sehr weit entfernt." Die Bühne findet er "überzeugend bis großartig", die Schauspieler*innen sind für ihn "die Säule des Stücks". Aber der inhaltliche Ertrag? "Warum das 2015 jenseits der geschichtlichen Aufklärung noch von Interesse sein soll, bleibt unklar." Kühnel/Kuttner hätten "brillante Ideen, was die Umsetzung angeht (die Kostüme von Daniela Selig seien auch noch genannt), konzentrieren sich aber auf einen Nebenaspekt. Und Eislers Musik hat inzwischen reichlich Staub angesetzt."

"Der Kommunismus soll Kunst werden, nicht die Kunst Kommunismus.“ So analysiert Dirk Pilz in der Berliner Zeitung und online auch in der Frankfurter Rundschau (14.11.2015) die Struktur dieses Kühnel-Kuttner-Abends. Doch "was bringt dieser Versuch einer Dialektik überkreuz? Nichts. Nur die Erkenntnis, dass der Kommunismus Idee bleibt, eine schöne vielleicht, aber keine, die sich einfach oder schwer machen ließe". Der Abend besitze eine prima Optik und "es wird immerfort das historische Material in Kunstklammern gesetzt, mit Theatermitteln bepudert, mit Lustbarkeiten aufgeschäumt". Alles im allem: "Ein fortwährend lärmendes Augenzwinkern", eine Verabschiedung des Kommunismus ins Museum.

Kühnel und Kuttner jagten die Eisler-Geschwister "mit dem Maximum an Entertainment, das die Kalten Kriegstage aufzubieten haben, durch die US-amerikanische Kulturikonographie", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (14.11.2015). Die Kritikerin würdigt die Leistungen der Spieler*innen, bremst aber im Finale des Textes die Euphorie: "Wer sich aus dieser vielversprechenden ‚Familienaufstellung‘ einen etwas konturschärferen – oder gar irgendwie subkutanen – Ertrag gewünscht hätte“ werde sich am DT "schnell ein bisschen deplatziert fühlen". Der Abend sei "ein Historien-Jux – und will genau das sein".

 

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