Auf der Suche nach dem endgültigen Geschlechtsakt

von Andreas Wicke

Göttingen, 20. November 2015. Die Phallen? Die Phalli? Die Phalusse? Alle drei Pluralbildungen lässt der Duden zu, und bereits zur Beschreibung des Plakats, mit dem das Deutsche Theater Göttingen für Rebekka Kricheldorfs "In der Fremde" einlädt, braucht man eine dieser Formen. Apropos Formen, auf den zweiten Blick erkennt man dann auch noch umgedrehte Herzchen. Liebe oder Sex? Während die Dichter der Romantik unter dem Titel "In der Fremde" die grundsätzliche Unbehaustheit des Menschen diskutieren, erkundet Rebekka Kricheldorf die Fremde als einen Ort, an dem sich sexuelle Identitäten und Hierarchien neu definieren und dechiffrieren, aber auch neu perspektivieren lassen.

Es geht um Sex-Tourismus und Prostitution, um die Fragen nach der ganz großen Liebe und dem endgültigen Geschlechtsakt. "Dieser ganze bundesrepublikanische Respekt-Sex", sagt beispielsweise Maja, "dieses ganze ganzheitliche, die Gesamt-Persönlichkeit umfassende Liebesspiel, dieses ganze Geficke auf Augenhöhe ist von sämtlichen Holzwegen zur Lust der allerwurmstichigste." Rita hingegen wird noch deutlicher: "Der deutsche Mann ist erotisch eine Fehlbesetzung."

Textliche Kopf- und Körperhygiene

Der Text scheint allen neueren Kulturtheorien Stoff zu bieten, vom "Kolonial-Ramsch" der ersten Regieanweisung bis zur gendertheoretischen Neudefinition: "Eine Feministin ist eine Frau, die auf ihre Muschi hört." Nihilisten ("Das heutige Nichts ist ein bekifftes Nichts") und Intertextualitätstheoretiker ("Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Das ist keine Pfeife") werden üppig gemästet, und selbst der Trivialitätsdiskurs bekommt kleine postmoderne Häppchen kredenzt: "Hedwig Courths-Mahler hätts nicht schöner sagen können."

Und ja, zugegeben, der Text hat komische Momente und Sprachwitz, etwa wenn die als Schlampe beschimpfte Maja nüchtern nachfragt: "Meinst du Schlampe jetzt im sexuellen oder mehr im hauswirtschaftlich-körperhygienischen Sinne?" Vor allem eine Formulierung aber hat das Zeug zum Bonmot der Literaturkritik, Franzi sagt: "Und wenn ihr Reiseführer erscheint, bin ich die Erste, die ihn nicht liest."

Fremde1 560 Georges Pauly uAus dem Geschlechtsleben der Großstädter: man meets woman an der Großstadtbar, v.l.n.r. mit Gerd Zinck, Gabriel von Berlepsch, Rebecca Klingenberg, Elisabeth Hoppe  © Georges Pauly

Dennoch kratzt der Text an der Oberfläche, die Satirikerin Rebekka Kricheldorf, die Sprach- und Gesellschaftskritikerin, die ihre Themen in Stücken wie zuletzt "Robert Redfords Hände selig" (2010) oder "Homo Empathicus" (2014) klug, konsequent und innovativ angeht, bleibt hier unentschlossen und bisweilen geschwätzig. Die Bildungszitate und Anspielungen verdichten das Textgewebe nicht, sondern wirken aufgesetzt oder schaffen eine lediglich punktuelle Komik.

Überlebens-Ratgeber

Dass der Abend trotzdem nicht langweilt und man sich einhundert Minuten recht gut unterhalten fühlt, ist zu einem großen Teil den Darstellerinnen Rebecca Klingenberg und Elisabeth Hoppe sowie den Darstellern Gabriel von Berlepsch und Gerd Zinck zu verdanken, die in jeweils drei bis vier Rollen schlüpfen. Dass dabei die Geschlechtergrenzen überschritten werden – Rebecca Klingenberg etwa spielt Lester den Barmann, Rosie die Barfrau, Sven den Cocktailmixer und die Feministin Maja – ist im Text vorgegeben, steigert allerdings das Spiel mit Rollenerwartungen und Geschlechtscharakteren nicht. Gerade die gendergeswitchten Figuren bleiben in der Darstellung eher matt.

Gleichwohl gewinnt der Abend immer mehr an Tempo, indem die Schauspielerinnen und Schauspieler nach und nach in ihren Rollen ankommen. Für die komische Wirkung muss insbesondere Rebecca Klingenberg hervorgehoben werden, die als Feministin Maja ihre theoretischen Postulate sprachlich und darstellerisch raffiniert gegen die Enttäuschungen ihres Sexuallebens auszuspielen weiß. Eines ihrer Projekte ist ein Reiseführer für Frauen: "Das wird der ultimative Überlebens-Ratgeber für die Frau in der Fremde. Wie bewege ich mich als lustorientiertes Wesen ohne Penis in patriarchal verseuchten Macho-Kulturen, ohne [eins] aufs Maul zu kriegen?"

Blues an der Jukebox

Erich Sidler, Intendant des Deutschen Theater Göttingen, konzentriert seine unprätentiöse Regie ganz auf das Figurenensemble, der Raum bleibt weitgehend unverändert. Egal um welche Fremde es geht, ob "Interzone/Paranoia City" oder "Nirgendwo in Mexiko", immer stehen die Schauspielerinnen und Schauspieler an derselben Bar vor demselben Bambusvorhang neben derselben Jukebox. Und während die großen Geschlechterkämpfe meist verbal ausgetragen werden, ist es diese Jukebox, die man treten darf, ja, treten muss, wenn sie ihr Lied spielen soll. Und was sie den geplatzten Illusionen und frustrierten Individuen entgegenhält, ist – zumindest zu Beginn und am Ende – das Ideal der großen Liebe: "Can't Help Falling In Love".

Trotz einer umsichtigen und konsequenten Inszenierung sowie eines harmonisch miteinander agierenden Ensembles bleibt am Schluss dieses vom Deutschen Theater Göttingen in Auftrag gegebenen Stückes allerdings die Frage, ob es wirklich Neuigkeiten gibt über das Verhältnis von Sex, Macht und Geld, über die Lust der Frau und die Macht des Phallus – wenigstens gibt der Duden für den Genitiv Singular nur diese eine Möglichkeit vor.

In der Fremde
von Rebekka Kricheldorf
Uraufführung
Regie: Erich Sidler, Bühne und Kostüme: Gregor Müller, Dramaturgie: Matthias Heid.
Mit: Gabriel von Berlepsch, Elisabeth Hoppe, Rebecca Klingenberg, Gerd Zinck.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, ohne Pause

www.dt-goettingen.de

 

Kritikenrundschau

Sexualität sei das zentrale Thema des Stücks, und "schrille Typen" versammle das Stück, "die vor allem eines sind: belanglos", so Peter Krüger-Lenz im Göttinger Tageblatt (23.11.2015). Was verhandelt werde, sei derart speziell, dass die Figuren als Bedeutungsträger nicht taugen. "Sidler hat all das zu einem fließenden Theaterabend aneinandergefügt und dabei sehr gewissenhaft Regie geführt." Doch die Inszenierung kranke auch an einer Unentscheidenheit, "viel Trash trifft auf Wirklichkeitsnähe, beides zusammen verträgt sich nicht gut".

Auch wenn die Dialoge "pointiert" sind, Kricheldorfs Analyse "gewohnt messerscharf"und ihr "Blick für Dramenstoffe "nach wie vor "großartig" sei, gibt Bettina Fraschke in der Hessische Niedersächsische Allgemeine (23.11.2015) zu bedenken, könnten alle verhandelten Aspekte des "tollen Themas" "möglicherweise" auch in "eine Rahmenstory gepackt werden". Der Abend zerfranse etwa ob der vielen Spielorte. "Auch dass die vier Darsteller fortwährend die Geschlechterrollen wechseln, fügt dem Stoff eigentlich nichts hinzu.". Dennoch überzeugten "vor allem die Frauen" mit "großartigen Figurenzeichnungen".

Kricheldorf zeigte, "wie sehr sich koloniale Strukturen in unsere Körper eingeschrieben haben, die sich zuweilen als erstaunlich rassistisch und frauenfeindlich entpuppen", schreibt Anna Steinbauer in der Süddeutschen Zeitung (25.11.2015). "Und dass Kapitalismus, Liebe, Konsum nach denselben Mechanismen funktionieren: Jugend und Schönheit gegen Finanzkraft und Sicherheit." Über die Inszenierung sagt Steinbauer nichts.

 

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