Wir Königskinder

von Eva Biringer

Berlin, 1. Dezember 2015. Darf man einen Asylsuchenden im Ping Pong niedermachen? So richtig, mit Schadenfreude und Fäuste-Recken? Oder muss man ihn netterweise gewinnen lassen? Das Performerduo Cecilie Ullerup Schmidt und Andreas Liebmann verhandelt die Flüchtlingskrise als ungewöhnliche Versuchsanordnung.

"Exodus" feiert seine Uraufführung in Berlin, bevor es zwar nicht staaten-, aber doch bundesländerübergreifend im Rahmen des Nordwind Festivals nach Hamburg und Dresden weiterzieht. "Balagan!!!" lautet das diesjährige Festivalmotto, das ist Russisch (ebenso wie der Festivalschwerpunkt) und bedeutet übersetzt "ein riesiges Durcheinander". Dafür sieht die Bühne in den Sophiensalen zunächst sehr aufgeräumt aus. In ihrem Zentrum hängt eine überdimensionale Rolle aus schwerem Stoff, die mit sichtbarem Kraftaufwand entrollt wird.

Airbnb und Asylsuche

Während sie auf diese Weise die Kapitel-Überschriften zum Vorschein bringen, erzählen beziehungsweise singen Ullerup Schmidt und Liebmann in Versform die Geschichte eines dänisch-schweizerischen Ehepaars, das mit seiner kleinen Tochter eine Bildungsreise im wörtlichen Sinn unternimmt. Bella Italia: Globalisierung ist, wenn die Gartenmöbel der sizilianischen Orangenfarm von Ikea sind und Airbnb das Vier-Sterne-Hotel ersetzt. Eher zufällig landet die etwas unbeholfen weltoffene Kleinfamilie in einer Asylunterkunft. In dieser "Mondo Nuevo" schlagen neun Nigerianer nach der Mittelmeerquerung ihre Zeit mit Grand Theft Auto tot. Das Schicksal hat Humor, sonst gäbe es dort außer einer Playstation auch eine Heizung. Erst weiß das Paar nichts mit den Geflüchteten anzufangen. Dann singen sie einander die Lieder ihrer Heimat vor. Dann spielen sie Ping Pong.

exodus2 560 NordwindFestival u"This ist the tale of the new Europeans". Die Bänkelsänger des neuen Europa: Cecilie Ullerup Schmidt und Andreas Liebmann © Dieter Hartwig

Aus zehn Runden werden hundert, dann tausend – und dieses absurde Schattenspiel ist der stärkste Moment eines starken Abends. Er punktet nicht zuletzt dank seiner sympathisch-durchgeknallten Grundidee. Vielleicht muss man Weltpolitik so begegnen: als mittelalterlicher Bänkelsänger mit Strumpfhose, Jeanspluderhose und langem Atem. Bis auf wenige Ausnahmen wird der gesamte Stücktext zur Melodie der dänischen Ballade "Kongebørnene" gesungen, begleitet von Cello, Gitarre und Blockflöte. Man muss dem Publikum nachsehen, dass es kurzatmiger ist als die Performer und nur vereinzelt die stets wiederkehrende Zeile "This is the tale of the new Europeans" mitsingt. Verinnerlicht hat es die Botschaft von "Exodus" auch so: Dass globales Handeln nicht auf der Schwelle einer Airbnb-Wohnung endet.

Lieber raus aus dem Wohlfahrtsstaat?

Die sogenannten Königskinder vergessen das mitunter. Zu leicht können sie zueinander kommen, von Zürich nach Kopenhagen nach Berlin. Streng autobiografisch fragt sich Ullerup Schmidt, ob man für einen Job im Kultursektor von Dänemark nach Deutschland ziehen darf und wie man das jemandem erklärt, der nur deswegen alles zurückließ, um am Leben zu bleiben. Und warum bleibt Liebmann nicht im Wohlfahrtsstaat Schweiz? Solche unbequemen Fragen abschließend zu klären, sprengt die Möglichkeit einer siebzigminütigen Performance. Uns EU-Bürger daran zu erinnern, dass nicht alle auf dieser Welt so hochwohlgeboren sind, hingegen nicht. Was nicht bedeutet, dass Königskinder beim Ping Pong Spielen nicht ihr Bestes geben sollen. Vielleicht läuft es ja auf ein Unentschieden hinaus.

 

Exodus
von Cecilie Ullerup Schmidt und Andreas Liebmann
Bühne und Kostüme: Manuel Gerst, Musik: Matthias Meppelink, Lichtdesign: Annegret Schalke, Dramaturgie: Tanja Diers, Produktion: Annett Hardegen, Choreografische Beratung: Tiaheswery Thiaharaja, Gesangscoaching: Johanna Peine.
Mit: Cecilie Ullerup Schmidt und Andreas Liebmann.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.nordwind-festival.de
www.sophiensaele.com

 

Wir besprachen beim Nordwind Festival bereits Antikörper, eine zentrale Produktion innerhalb des diesjährigen Russland Schwerpunkts.

 

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