Von anfänglichster Verlassenheit

von Gerhard Preußer

Essen, 4. Dezember 2015. Was ist ein erwachsener Mensch? Ein Mensch, der sich seiner Unabhängigkeit bewusst ist, der sich sicher ist, durch seine Vernunft sich selbst lenken zu können. Caspar Hauser – der Junge, der 1828 plötzlich in Nürnberg auf dem Unschlittplatz stand, nur einen Satz sprechen konnte und offensichtlich jahrelang in bewegungsloser Dunkelhaft gelebt hatte – ist der Testfall für dieses Selbstverständnis. Alle bestimmen über ihn, reden auf ihn ein, erziehen an ihm herum mit dem Ziel, ihn zu einem autonomen Ich zu machen.

Faszinosum

Seit fast 200 Jahren fasziniert diese Figur die Öffentlichkeit und die Kunst aus unterschiedlichsten Gründen: Als Kriminalfall – war Hauser ein Betrüger oder ein entführter Prinz? Als pädagogisches Experiment – wie findet Sprachentwicklung statt? Als sozialpsychologisches Fallbeispiel – wie entsteht ein bürgerliches Individuum? Peter Handkes "Kaspar" demonstrierte 1967, wie ein Mensch durch Sprache beherrschbar wird. Werner Herzogs Film Jeder für sich und Gott gegen alle zeigte uns 1974 die Schönheit der unbegriffenen Welt des Sprachlosen und Alvis Hermanis' Züricher Kaspar Hauser-Inszenierung im letzten Jahr bewies durch gewitzte Umkehrung, dass nicht der wilde Findling absonderlich ist, sondern die Gesellschaft, die ihn integrieren will.

CasparHauser3 560 ThiloBeu uSilvia Weiskopf als Caspar Hauser  © Thilo Beu

Die Wassermann-Version

Das Regie- und Bühnenbildduo polasek&grau greift in seiner Inszenierung in der Casa des Essener Schauspiels auf Jakob Wassermanns Roman "Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens" von 1908 zurück. In diesem wird die Geschichte ganz in die konventionellen (allerdings im Stil von Thomas Mann leicht ironisierten) narrativen Muster integriert: Außensicht, Innensicht, Erzählerkommentar. Mit Hilfe der Prinzentheorie, – der Spekulation, Caspar könnte der beiseite geschaffte Thronfolger des Großherzogs von Baden sein, – und mit etwas Phantasie lassen sich die zahlreich überlieferten Dokumente zu einem wunderbaren Krimi im düsteren Spitzelmilieu der Metternich-Ära kombinieren. Dunkle Mächte greifen nach Kaspar, eine engherzige, bigotte Gesellschaft richtet den Unschuldigen zugrunde. Seine verspätete Sozialisation wird an dem ödipalen Familienmodell gemessen. Ersatzväter hat er genug. Wassermanns Caspar fragt nie nach seinem leiblichen Vater. Es bleibt die unstillbare Sehnsucht nach der unbekannten Mutter, bis er schließlich von einem gedungenen Mörder aus der Welt geschafft wird.

Wozu Frauenzimmer?

polasek&grau übernehmen dieses narrative Muster einschließlich des orientierenden Erzählers, aber ohne die Prinzentheorie, das heißt: ohne die Spannungsmomente der unbekannten Agenten und Dunkelmänner und garnieren es mit einigen Dialogtexten aus Werner Herzogs Film. Der Erzähler und die zahlreichen Caspar umlauernden Figuren werden auf zwei Schauspieler (Jens Winterstein, Stefan Diekmann) und eine Schauspielerin (Ines Krug) verteilt. Im Zentrum aber steht, hum-pelt, lallt fragend, blickt staunend – Caspar als Frau (Silvia Weiskopf). Diese Besetzungsentscheidung könnte Wassermanns patriarchalisches Familienkonzept auf die Probe stellen. "Wozu sind eigentlich die Frauenzimmer gut?" fragt Caspar. Wozu ist diese Besetzungsentscheidung gut, muss man zurückfragen. Sie bleibt folgenlos. Die Männerkleidung, in die dieser werdende Mensch gesteckt wird, hat nur eben die pas-senden Abnäher. Caspar ist ein neutrales Wesen, erkennbar weiblichen Geschlechts.

Elend der Eindeutigkeit

Seine Geschichte wird sorgfältig, Episode für Episode erzählt. Wer sie noch nicht kennt, wird gut informiert. Um seine Bedeutung als Stellvertreter für alle vernunftlosen Unangepassten zu dokumentieren, wird seinen Tagebuchtexten ein Gedicht des schizophrenen Dichters Ernst Herbeck untergeschmuggelt. Für seine Zurückgebliebenheit in der Spiegelphase der Ich-Findung steht eine kreisrunde Wasserfläche, in der er erst eine Mondspiegelung, dann sein eigenes Spiegelbild bestaunt und schließlich Sehnsuchtspapierschiffchen fahren lässt. Für die triste Phantastik steht ein blattloser Baum mit goldenen Glöckchen. Und für die existenzielle Unbehaustheit des Menschen, für die "anfänglichste Verlassenheit" des Kaspar-Hauser-Komplexes (Mitscherlich) steht das universale Elendssymbol: Schnee. Egal ob vom Frühling oder Herbst die Rede ist, immer fallen ein paar verlassene Schneeflocken. Nur die Musik erlöst für einen Moment von der Eindeutigkeit: Nach dem Streit um die Herausgabe seines Tagebuchs finden sich alle vier Darsteller im Halbdunkel zusammen und singen mehrstimmig a capella ein schwizerdütsches Lied: "I has vergesse". Hier bricht die Inszenierung aus dem gezähmten Fluss der Wassermannschen Erzählung aus und findet eine eigene Ebene analoger Zeichen für Caspars Schicksal: ein Mensch ohne Vergangenheit.

 

Caspar Hauser
nach dem Roman "Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens" von Jakob Wassermann, Bühnenfassung von polasek&grau
Inszenierung: Jana Milena Polasek, Bühne: Stefanie Grau, Kostüme: Natalia Nordheimer, Musik und Komposition: Helena Daehler, Moritz Vontobel, Dramaturgie: Florian Heller.
Mit: Silvia Weiskopf, Ines Krug, Jens Winterstein, Stefan Diekmann.
Dauer: 1 Stunde, 40 Minuten

www.schauspiel-essen.de

 

Kritikenrundschau

Auf Radio WDR 3 berichtete Ulrike Gondorf über die Essener Premiere. Hier zum Nachhören.

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