Arm, aber enthusiastisch

Von Oliver Kranz

10. Dezember 2015. "Ihr nennt es Krise, wir nennen es Krieg!" – Ukrainische Theatermacher nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, Besuchern aus dem Westen die Situation ihres Landes zu schildern. Anfang Dezember reiste eine Delegation der European Theatre Convention (ETC) nach Kiew, um die dortige Theaterszene kennenzulernen. Die Zahlen sprechen für sich: In der Ukraine gibt es 137 Stadt- und Staatstheater – fast so viele wie in Deutschland (obwohl das Land wesentlich weniger Einwohner hat). Rund 30.000 Vorstellungen werden jedes Jahr geboten. Daran hat auch der Krieg in Donezk und Lugansk nichts geändert. Die Eintrittspreise sind niedrig, die Besucherzahlen hoch. Auffällig ist allerdings, dass es kaum freie Theater gibt. Da in der Ukraine öffentliche Fördergelder ausschließlich Stadt- und Staatsbühnen zufließen, können sich nur wenige freie Ensembles halten. Eines davon ist das Dakh-Theater, das in einem Plattenbau am Rande der Kiewer Innenstadt residiert.

Der Gründer Vlad Troitskyi war ursprünglich Physiker und Geschäftsmann. Aus Liebhaberei kaufte er 1992 die Räume eines verwaisten Jugendtheaters und stellte sie der freien Szene zur Verfügung. Seit 1998 führt er selbst Regie. Er gründete ein eigenes Ensemble und gehört heute zu den Protagonisten des ukrainischen Theaters. Troitskyi schreibt Stücke, inszeniert und betreibt eine eigene Theaterschule. Wer seine aktuelle Inszenierung "Der Hundekäfig" besucht, muss hinter Gittern Platz nehmen. "Mir ist wichtig, dass die Zuschauer im Theater in eine neue Welt eintauchen", erklärt der Regisseur. "Die erste Version des Stücks entstand, als Janukowytsch Präsident wurde. Da war der Käfig ein Symbol für die Situation in der Ukraine." Die Zuschauer saßen auf dem Dach des Käfigs und sahen zu, wie unter ihren Füßen Gefangene drangsaliert wurden. "Als im November 2013 die Demonstrationen auf dem Maidan begannen, haben wir beschlossen, weiter mit dem Material zu arbeiten", erinnert sich Troitskyi. "Die Schauspieler nahmen nachmittags an den Demonstrationen teil und kamen abends zur Probe".

Hundekaefig 560 OliverKranz uSzenenbild aus "Der Hundekäfig" © Oliver Kranz

Die wichtigste Änderung ist die Idee, die Zuschauer, die ursprünglich auf dem Käfig saßen, im zweiten Teil der Inszenierung drinnen zu platzieren. Die Schauspieler laufen auf dem Gitter über ihren Köpfen. "Wer bist du?", fragen sie die Besucher und leuchten ihnen mit Taschenlampen ins Gesicht. Die meisten bleiben stumm – auch wenn nach dem Verhör Bretter aufs Gitterdach gelegt werden. Die Enge im Käfig wird noch drückender. "Wir müssen selbst etwas tun und dürfen nicht auf den Staat warten", erklärt Vlad Troitskyi. "Die Menschen in der Ukraine sind nicht sehr aktiv. Normalerweise sitzen sie da und warten darauf, dass jemand anders die Entscheidungen für sie trifft." Wenn das Publikum protestiert, werden die Bretter vom Käfigdach entfernt. Doch das geschieht nur selten. Meist warten die Zuschauer ab und lauschen den Liedern, die über ihren Köpfen gesungen werden. Es sind Volksweisen, die in der Sowjetzeit verboten waren - genau wie die ukrainische Sprache. Die kommunistischen Machthaber fürchteten alles, was das Nationalgefühl der Bevölkerung gefördert hätte. Genau deshalb haben die Lieder heute eine Botschaft.

"Im Grunde ist unser ganzes Land eine Zone"

Auch im Stück "Stalker" von Pavlo Arie, das der junge Regisseur Stas Zirkov am Staatlichen Kinder- und Jugendtheater Molodij herausgebracht hat, werden Volksweisen gesungen. Es geht um eine Familie, die in der Sperrzone von Tschernobyl lebt – einen jungen Mann, seine Mutter und seine Großmutter. Die Alte ist eine erfahrene Bäuerin und hat Haus und Hof nie verlassen, der junge Mann und seine Mutter hingegen, sind in die Zone zurückgekehrt, weil sie in der Außenwelt als Freaks verspottet wurden. Zwischen den drei Generationen gibt es Reibereien, die erst sehr witzig wirken, doch in der zweiten Hälfte des Stücks wird es ernst. Der junge Mann wird im Wald erschossen, und der Polizist, der daraufhin im Haus erscheint, droht der Familie mit Repressalien, falls sie es wagen sollte, Anzeige zu erstatten. Wer illegal in der Sperrzone lebt, behauptet er, hätte keine Rechte.

"Solche Fälle hat es wirklich gegeben", erklärt Stas Zirkov. Doch ihm geht es nicht nur um Menschen, die in der Zone von Tschernobyl leben: "Im Grunde ist unser ganzes Land eine Zone. Die Ukraine ist seit 1991 unabhängig, aber erst jetzt fangen wir an darüber nachzudenken, was das heißt. Die Großmutter im Stück kann sich noch an die Zeit vor den Sowjets erinnern. Sie ist die einzige, die einen starken Willen hat. Die Generation der Mutter hat nach 1991 die Chance vertan, ein neues Land aufzubauen. Deshalb hat die nachfolgende Generation es doppelt schwer." Und das ist die Generation, mit der sich der junge Regisseur identifiziert. Er hat seine eigene freie Gruppe gegründet, das Golden Gate Theater. Da er vom Staat keinerlei Unterstützung erhält, sucht er für jedes neue Projekt Partner bei den staatlich finanzierten Theatern. Doch die haben an Koproduktionen kein Interesse.

Wo das Geld ist, fehlt die Risikobereitschaft – und umgekehrt

Die Theaterkritikerin Nadia Sokolenko aus Kiew kennt das Problem: "Bei uns gibt keinen künstlerischen Wettbewerb. Die Staatsbühnen erhalten ihre Personal- und Betriebskosten zu 100 Prozent aus dem Kulturetat. Lediglich die Produktionskosten der Neuinszenierungen müssen sie selbst erwirtschaften. Dabei wollen sie kein Risiko eingehen - sie spielen vor allem Klassiker und beschäftigen ihr festangestelltes Personal. Da Impulse von außen fehlen, schmoren sie im eigenen Saft." Das Ergebnis ist gediegene Repräsentationskunst. Das Nationaltheater Iwan Franko in Kiew zum Beispiel verfügt über ein hervorragend saniertes, klassizistisches Gebäude und hat 650 festangestellte Mitarbeiter. Doch künstlerische Experimente werden an dem Haus selten gewagt.

IwanFranko 560 wiki uDas Iwan-Franko-Theater in Kiew/„Драматичний театр імені Івана Франка“ Foto: Nick Grapsy -
Eigenes Werk. Lizenziert unter CC-BY-SA 4.0 über Wikimedia Commons

Stanislaw Moisejew ist seit drei Jahren der Künstlerische Direktor. Wenn man ihn fragt, warum das Iwan-Franko-Theater nur so wenige zeitgenössische Stücke spielt, verweist er darauf, dass er selbst schon neue Texte inszeniert hat – u.a. die Maidan-Tagebücher von Natalia Vorozhbyt. Doch das klingt wie ein Alibi. Das Stück, das auf Interviews beruht, die die ukrainische Autorin im Winter 2013/2014 mit Demonstranten auf dem Maidan führte, kam erst im Ausland auf die Bühne, ehe das Iwan-Franko-Theater nachzog. "Wenn ich mit jungen Dramatikern spreche, sage ich ihnen immer, dass sie beim Schreiben nicht an die großen Nationaltheater denken sollen", erklärt Natalia Vorozhbyt. "Wenn neue Stücke eine Chance haben, dann in der freien Szene". Sie kann nur deshalb von ihrer Arbeit leben, weil sie auch fürs Fernsehen schreibt. Die Staatstheater spielen in der Regel keine neuen Stücke, die freien Gruppen haben zu wenig Geld, um Tantiemen bezahlen zu können. Trotzdem will Natalia Vorozhbyt nicht auf ihre Theaterarbeit verzichten. "Wenn ich ein Stück schreibe", sagt sie, "habe ich viel mehr Freiheit als bei einem Drehbuch. Und die brauche ich."

Im letzten Jahr hat Vorozhbyt gemeinsam mit dem deutschen Regisseur Georg Genoux das Dokumentartheaterprojekt "Theatre of the Displaced" gestartet – wörtlich übersetzt: "Theater der Flüchtlinge" (im Frühjahr 2016 kommt es als Gastspiel ins Berliner Maxim Gorki Theater). Durch den Krieg im Osten der Ukraine mussten 1,5 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Was sie dabei erlebt haben, zeichnen die Theaterleute auf. "Es geht darum, den Menschen eine Stimme zu geben", sagt Georg Genoux. "Die Flüchtlinge erfahren in der Ukraine zwar eine beispiellose Solidarität, aber es sind trotzdem sehr harte Geschichten." Teilweise stehen Schauspieler auf der Bühne, teilweise die Flüchtlinge selbst. "Es geht um die direkte Kommunikation", erklärt der Regisseur. "Wenn die Betroffenen selbst über ihr Schicksal berichten, wirkt das ganz anders, als wenn man in den Medien davon erfährt. Die Menschen haben die Nase voll, von der Kriegspropaganda, die von allen Seiten auf sie eindröhnt. Auch deshalb ist unser Projekt so wichtig."

Wünsche und Aussichten für die Zukunft des Theaters in der Ukraine

Georg Genoux hat als Theatermacher 17 Jahre in Moskau gelebt. 2012 wurden ihm die Repressionen des Putin-Regimes zu viel (mehr zur Situation des politischen Theaters in Russland in unserem Theaterbrief aus Moskau/Juli 2014). Genoux ging erst nach Bulgarien, dann nach Kiew, wo er, wie er sagt, endlich wieder frei atmen kann. "Als Janukowytschs Polizisten auf dem Maidan die Studenten verprügelten, waren in den nächsten Tagen eine Million Menschen auf die Straßen. Ich kenne russische Künstler, die zu einem Gastspiel nach Kiew gekommen sind und jetzt gar nicht mehr von hier weg wollen, weil die Atmosphäre in Moskau so erstickend ist." In der Ukraine hingegen gibt es keine Zensur und keine politisch motivierten Gerichtsprozesse gegen Künstler. Lediglich das System der Kulturförderung müsste reformiert werden.

Maidan 560 OliverKranz uNormalität auf dem Maidan im Spätherbst 2015 © Oliver Kranz

Der Regisseur Stas Jirkov wünscht sich ein System wie in Deutschland. "Die Leitungspositionen der öffentlich geförderten Theater dürfen nur zeitlich begrenzt vergeben werden. Wer bei uns einen Posten hat, behält ihn bis an sein Lebensende." Doch das soll sich im nächsten Jahr ändern, verspricht Rostislaw Karandejew, der stellvertretende Kulturminister. Intendantenverträge sollen in der Ukraine nur noch für eine Höchstdauer von 5 Jahren abgeschlossen werden. Und auch um Auftrittsmöglichkeiten für freie Gruppen möchte er sich kümmern. Alte Kinos sollen mit EU-Mitteln umgebaut und als Theater genutzt werden.

Es wird auch darüber gesprochen, Staatstheater zu verpflichten, ihre Bühnen für freie Gruppen zur Verfügung zu stellen. Wenn das wirklich geschieht, könnte sich die Off-Szene in der Ukraine explosionsartig entwickeln. "Unsere Künstler", sagt Vlad Troitskyi vom Dakh-Theater, "haben eine ungeheure Energie. Wenn ich im Westen arbeite, merke ich oft, dass den Leuten dort Energie fehlt. Deswegen lade ich westliche Theatermacher nach Kiew ein. Wir haben zwar kein Geld, aber Enthusiasmus. Und wir sind offen für neue Arbeitsweisen." Aufbruchsstimmung – dem Krieg und der Krise zum Trotz.

 

Offenlegung: Die Reisekosten des Autors wurden teilweise von der ETC übernommen.


Mehr lesen:

Presseschau vom 3. November 2015 – die Süddeutsche Zeitung wirft einen Blick auf die Theaterszene der Ukraine