Ach, gäbs doch nur ein Richtiges im Falschen!

von Theresa Luise Gindlstrasser

16. Dezember 2015. 1991 veröffentlicht, wurde Nevermind von Nirvana zu einem der wichtigsten Alben meiner, deiner, der Musikgeschichte. Auf dem Cover: ein nacktes Baby unter Wasser Richtung Dollarnote blickend. Spencer Elden, das Nirvana-Baby, ist mittlerweile volljährig und studiert irgendwas mit Kunst. Eine ganze Generation, die "Nevermind" in den CD-Regalen der Älteren entdeckt hat, ist mittlerweile volljährig und studiert, so scheint’s, irgendwas mit Kunst.

Nirvana BabyAnarchistischer Gestus

Juri Sternburg, 1983 geboren, hat, so scheint’s, nix studiert. Er macht aber was mit Kunst: 2010 war sein Theaterstück "der penner ist jetzt schon wieder woanders" zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen. Selbiger Text wurde 2011 beim Theatertreffen mit dem Förderpreis für neue Dramatik ausgezeichnet und 2012 am Maxim Gorki Theater uraufgeführt. Nun, also 2015, erschien seine Novelle "Das Nirvana Baby" beim neugegründeten Korbinian Verlag in Berlin als erste verlagseigene Publikation.

Darin nimmt Paul Bakunin die Rolle des volljährig gewordenen Nirvana-Babys für sich in Anspruch. Schon der Name des Protagonisten suggeriert die Frage nach einem zeitgenössischen anarchistischen Gestus. 24 Jahre nach "Nevermind", 24 Jahre nachdem Spencer Elden in kapitalismuskritischer Pose ikonisiert wurde, wandelt dieser Paul durch Berlin und sieht: "Hunderte von Zielen, unzählige Legitimationen. Niemand weiß, was er zuerst auswählen soll." Dass er Amok laufen will und wird und dass er dazu ein Bekenner-Schreiben verfassen muss, steht ihm fest in seinen unübersichtlichen Weltschmerz geschrieben.

Wo anfangen mit meinem Amok?

In einer Zeit in der wir "mehr Freunde an das iPhone verloren [haben] als an das Kokain", also 2015, wo jede Kapitalismuskritik um die eigenen Verstrickungen ins Kritisierte wissen muss, weiß Paul, weil ihn dieses Wissen lähmt, noch nicht mal wo anfangen mit seinem Amok. In einem Kronland des Kapitalismus lebend, findet "er seine neuen AirMax-Sneakers schön", sagt zynische Sachen wie "Yolocaust" und spricht "von den Opfern der imperialistischen Gewalt, den Unsäglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt, den Lügen der Herrschenden, der Gentrifizierung, dem korrupten System, dem Drogenkrieg in Mexiko, den unzähligen Toten im Mittelmeer" und es fiele ihm gewiss nicht schwer, diese lange Reihe der Misshelligkeiten ins Unendliche fortzuführen.

Auf jeder Seite seufzt das Buch, so scheint’s: Ach, 1991! Verweile doch! Du bist so überschaubar! Der Elite, deren Teil er ist, will Paul richtige Gewalt antun. In einer Explosion möge jede eigene Verstrickung ins Kritisierte zerbersten. Seinen Amoklauf knüpft er an die Bedingung eines Bekenner-Schreibens. An dieser Bedingung drängt sich eine zweite Sinnebene des Buches in den Vordergrund. Es geht nämlich um Kunstproduktion und deren Verhältnis zum anarchistischen Gestus. Die vielen wirren Erzählperspektiven und Zeitebenen klären sich am Ende in der Schilderung eines Ichs, das auf einer Veranda in Venedig die Arbeit an einer Erzählung über einen Amoklauf zur Seite legt, um selbst in dieser Weise aktiv zu werden.

Spärliche Strahlkraft

"Das Nirvana Baby" probiert keinen zeitgenössischen anarchistischen Gestus, sondern ist ein Versuch in Sachen Kulturindustrie. Wer irgendwas mit Kunst macht, ist nicht schon aktivistisch. Und wer irgendwas wie Aktivismus macht, ist deshalb nicht frei von Verstrickungen ins Kritisierte. Dass diese Tatsache lähmt und dass es mal anders gewesen war, ist eine der großen zeitgenössischen Erzählungen. Erst im letzten Satz, also als Moral von der Geschicht’, formuliert Juri Sternburg mit einem Zitat von Giovanni Papini die Wahnidee, die dieser Erzählung zu Grunde liegt: "Das Weltall zerfällt in zwei Teile. Ich und der Rest." Das stimmt heute nicht, war auch 1991 nicht wahr und trotzdem macht Verantwortlichkeit nicht handlungsunfähig. Diese Pointe kommt reichlich spät. Spärlich auch bleibt ihre Strahlkraft im Zusammenhang mit dem Lähmungs-Gelaber und der Amok-Koketterie davor.

 

Juri Sternburg
Das Nirvana-Baby
Korbinian Verlag, Berlin 2015, 80 Seiten, 10 Euro.

 

 

Kommentare  
Buchkritik Nirvana Baby: unfaire Kritik
Juri Sternburg schreibt die Nachtkritik-Rezensentin der Hochkultur, habe 'so scheint’s, nix studiert'. Hmmm, das sagt uns zwar wenig über den Autor, aber viel über die Kritikerin, die auch schon anfügt, der Autor mache 'aber was mit Kunst'. Gut, spätestens hier wird klar, die Dame mag das Buch nicht und wird deshalb unfair. Denn Sternburg hat nicht nur 2 Preise für Theaterstücke erhalten, er schreibt seit Jahren regelmäßig Kolumnen für die taz, Vice, Hate-Magazin u.a. Er macht also nichts mit Kunst, sondern er lebt von seiner Arbeit - und das, wenn die Rezensentin Recht hat, auch noch ohne studiert zu haben. Unverschämtheit. Und so wird das Buch wird entsprechend der Einleitung besprochen; mit viel Ressentiment, doch ohne viel verstanden zu haben. Deshalb hier eine kurze Zusammenfassung, was mich als Leser neben einem tollen Gefühl für Sprache und Tempo an 'Das Nirvana-Baby' begeistert hat und warum ich das Buch für mehr als aktuell halte (für Theresa Luise Gindlstrasser extra so formuliert, dass es auch Akademiker verstehen können):
>Juri Sternburg zeigt, wie die pervormative Oberfläche der kapitalistischen Wirklichkeit ein echtes Erfahren verhindert und in jene Depersonalisierung mündet, die Menschen veranlasst zu glauben, dass Terror die Welt retten könnte. Er beschreibt nicht die Suche nach Identität, sondern den multiplen Charakter als Überlebensstrategie eines Protagonisten, für den weniger das Motiv, als der Anschlag an sich zählt.
'Das Nirvana-Baby' erzählt von einer Generation, die nicht mehr ‚Fänger im Roggen’, vielleicht aber ‚Bomber im Roggen’ sein will. <
PS: Warum, Frau Gindlstrasser, setzen europäische Wohlstandsjugendliche ihr 'Lähmungs-Gelaber' und ihre 'Amok-Koketterie' in die Tat um und gehen zum IS?
Nirvana Baby: der Verlag spricht
Wieso ist das eine Wahnidee. Das ist pure kosmische Realität: wie immer die Teile von Allem aussehen mögen, am Ende sind es genau zwei: ein Ich und der Rest.
Im Prinzip ist mir jedes Buch und ist mir jeder Verlag symathisch, das/der einen Seitenumfang von 80 Seiten behaupteter Literatur nicht "Roman" oder "Erzählung", sondern "Novelle" nennt. Mal sehen, wie lange der das durchhält ohne von der Konkurrenz abgewatscht zu werden dafür. Kurze Prosa als Sammlung? - Nein, das geht gar nicht, wenn Sie nicht wenigstens schon mit einem Roman sich einen wirklich ordentlichen namen gemacht haben - Stücke? Mit so vielen und komischen Personen und sie haben nicht wenigstens schon den Büchner-Preis bekommen? Nein geht leider heute gar nicht mehr. Einen Roman? Ja, wenn Sie wenigstens schon Bühnenerfolge mit ihren Stücken vorweisen könnten! Oder wenigstens das Lektorat selbst finanzierten! Veeröffentlichen? Bei uns? - Im Prinzip ALLES, was Sie wollen, wenn Sie das selbst finanzieren - es muss ja niemand wissen! Was soll das heißen, Sie seien dann doch eigentlich selbst der Verlag??? - Werden Sie mal nicht frech, ja: sie bekommen doch etwas dafür! - Sie bezahlen unseren guten Namen, um sich als Marke zu kreieren! Vollkommen allein, also FREI! - das wollen Sie doch sein, oder? Freier Autor?! - Und unter uns: sonst nimmt Ihnen ohnehin keiner Ihre Literatur als Literatur ab - Unfrei als Autor geht von dem was alles nicht geht am allerwenigsten!
Buchkritik Nirvana Baby: Rechtschreibdiagnose
Es ist gut, dass dieser Verlag (#1) nicht schreibt!
Buchkritik Nirvana Baby: Antwort der Rezensentin
Hmmm, ich glaube eigentlich nicht, dass ein absolviertes Studium über einen Text entscheidet. Aber ich glaube, dass Juri Sternburg eine Biographie hat. Und, "so scheint's", weil das Internet ja manchmal voller Tücken ist und die Rezensentin Unrecht nicht ausschließen wollte, hat Juri Sternburg nicht studiert.
Aber zur Frage: "Warum [...] setzen europäische Wohlstandsjugendliche ihr 'Lähmungs-Gelaber' und ihre 'Amok-Koketterie' in die Tat um und gehen zum IS?". Ich glaube, die Antwort, die "Das Nirvana Baby" im Bezug auf diese Frage versucht, liegt im (von mir als Pointe bezeichneten) letzten Satz der Novelle, also dem Verhältnis des Zitates von Papini zum Gesamttext.
Buchkritik Nirvana Baby: #2 war gemeint
Und es ist noch besser, wenn ich nicht zähle! - Natürlich war #2! gemeint...
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