Brechtspaces, oder: Whatever one fights, one is.

von copy & waste

22. Dezember 2015. Konflikte und Kämpfe können dort wiederaufgenommen werden, wo sie unterbrochen wurden. Aber man kann sie auch zu einem früheren Zeitpunkt wiederaufgreifen oder neu beginnen lassen, ohne dass man das Bedürfnis nach Kontinuität verspürte. Oder man kann ganz weit nach hinten treten und sehen, dass sie gar nicht unterbrochen WAREN, dass man das die ganze Zeit nur dachte und sich irgendwie ablenken ließ, von irgendwelchen Gesten, von Typen, die auf Dinge zeigten, Dinge, die sich in Bewegung wähnten, ohne es zu sein.

Die beispiellose Enteignung zum Beispiel, die in den vergangenen 33 Jahren Neoliberalismus systematisch betrieben wurde, kannte ja keine Unterbrechung. Doch irgendwann, so 1990 oder 1991ff., ja, in den bunten Neunzigern, war man abgelenkt und wippte bei der Love Parade oder vorm VIVA-Fernseher und konzentrierte sich viel zu spät [wieder] darauf, was da ablief.

Brecht weiterdenken – ein Versuch

Als im November 2014 die Berliner Mauer aus Licht wieder aufgebaut wurde [aber nur vorübergehend!], damit alle – diejenigen, die sie noch erlebt hatten, und diejenigen, die nicht – sich an sie erinnern konnten [aber nur vorübergehend!], dachten wir gerade am Kottbusser Tor über Enteignung nach, genauer: über Privatisierung von Sozialem Wohnungsbau.

Unser "Nasty Peace" fand als Teil eines Projekts statt, das das English Theatre Berlin | International Performing Arts Center initiiert hatte: 25 Jahre Mauerfall or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Ossis/Wessis. Grundlage war dabei das Stück "Berlin Circle" des US-Historikers Charles Mee, das im November 1989 spielt und wiederum auf Brechts Kaukasischem Kreidekreis basiert.

Uns interessierte zugegebenermaßen Brecht von Anfang an mehr als die amerikanische Aktualisierung durch Charles Mee, eine Überschreibung, die den Plot überschreibt, aber deren Form selbst Brecht nicht weiterdenkt. Das wollten wir wenigstens versuchen.

Kann Frieden fies, dreckig oder arschig sein?

Wie versteht man aber diese Heldinnenreise der Grusche, die ein Kind, das sie nicht geboren hat, retten will? Wie kann jemand, der im Theater sitzt und ihr zuschaut, das verstehen, in diesen, unseren Tagen? Wie können wir das Material, das so ein Text bildet, besichtigen, ohne es zu beaufsichtigen? Vielleicht, indem wir die Reise in reale Räume verlegen, indem die Zuschauer*innen eben Grusche werden.
Unser Abend hieß also "Nasty Peace". You’re such a nasty piece of work!, heißt so viel wie: Du bist ein Arschloch, oder auch: Du bist ne Dreckschleuder. Aber kann Frieden überhaupt fies, dreckig oder arschig sein? Oh yes, kann er. Denn auch im Frieden sind sie da, die Kämpfe. Kämpfe um Besitzverhältnisse.

Deshalb geht Nasty Peace so los: Es wird versteigert. Und zwar ganz Kreuzberg 36. Die Zuschauer können mitbieten, beziehungsweise: Ihnen wird per Kopfhörer eingeflüstert, was sie zu bieten haben. Doch ein unsichtbarer Investor schnappt ihnen alles vor der Nase weg, und so werden sie in den Berliner Winter entlassen und durch dasselbe Areal gelenkt, das ihnen gerade entgangen ist.
Neben den Kommandos für den Walk hören sie ein Hörspiel, in dem sich Schnipsel von Brecht und Charles Mee, von politischen Analysen, von Nachrichtensendungen und Interviews überlagern. Einerseits die große Weltgeschichte, andererseits die noch größeren Geschichten über diese Gegend. Die reichhaltige Historie, die am Kottbusser Tor überall existiert, und die man nicht immer sehen, aber immer noch hörbar machen kann, hier, wo immer so unterschiedliche Milieus aufeinandertrafen. Anfang der Achtziger zum Beispiel lebten hier Hausbesetzer, Migranten der ersten und zweiten Generation und alte Arbeiterschaft.

Bis in die Körperzellen des Einzelnen

Was aber veränderte sich hier seit 1989? Wie erlebten die Migranten diese Zeit, in der ihnen auf einmal gesagt wurde, sie könnten jetzt wieder zurückgehen in ihre alte Heimat? Und was ist heute? Zum Beispiel steigen unaufhörlich die Mieten – wogegen die die Mieterinitiative Kotti & Co seit Frühjahr 2012 auf einem Platz permanent protestiert.

Es geht also um die Privatisierung von Wohnungsbau in Berlin und über Privatisierung des öffentlichen, kollektiven Seins überhaupt seit der sogenannten "Wende", jener Umwendung zu einer Ordnung des Privaten, die von der Regierung Kohl beherzt und herzlos zugleich durchgesetzt, von der Treuhandanstalt vorgemacht und von der Regierung Schröder bis in die Körperzellen des Einzelnen hineingetragen wurde.

Aber weg von den biologischen Zellen, hin zu den räumlichen: Bei Brecht ist es die Frage, welche Mutter für das Kind gut ist. Bei uns die Frage, wer für die Häuser gut ist: die Menschen, die in ihnen – wie in den Sozialwohnungen am Kotti – schon seit Jahrzehnten leben und dort ihre Heimat gefunden haben, oder Investmentgesellschaften, die die Substanz verrotten lassen, um Rendite einzustreichen.

Das Publikum sieht, wie es (noch) ist, und hört, wie es bald sein könnte. Und erfährt auch, daß Menschen sich dagegen stemmen, zum Beispiel eben Kotti & Co, vor deren Protesthütte, dem Gecekondu, unsere Schauspieler ein Singspiel à la Brecht aufführen. Doch währenddessen wird die Großgruppe von dreißig Personen in Kleingruppen à sechs aufgesplittet. Und schon wird es ambivalenter: Das Gefühl, nur noch als Kollektiv wahrgenommen zu werden. Und, im Hintergrund, die Alltagserfahrung: Das Gefühl, nicht mehr als Kollektiv wahrgenommen zu werden.

Was man liebt, das ist man auch

Jede dieser Kleingruppen findet nun einen Weg über das restliche Areal. Über den Hochbahnhof Kottbusser Tor und ein Hostel, in dem Hipstertouristen in der Lobby rumhängen, über dunkle Ecken am Kreuzberger Zentrum und einen Kinderspielplatz mit Monstergraffito, über den früheren Mieterladen Dresdener Straße gelangen sie schließlich ins WestGermany, eine ehemalige Zahnarztpraxis, heute Kunstraum und im Rahmen von Nasty Peace: Suppenküche, wo alle bei Kerzenschein und nach einem Tischgebet über Enteignung eine warme Mahlzeit erwartet.

Die Überlagerung von Raum und Text während des Walks: für manche kein Problem, für manche überfordernd, da die geballte Ladung Stadt am Kotti vielleicht schon genug ist. Na joa. Da kann man auch weghören, und die Gedanken können mal über was anderes nachdenken.

Wir näherten uns Brecht in "Nasty Peace" also einerseits site-specific, indem wir seinen Text mit Räumen zusammendachten, in denen die Grundfrage des Kreidekreis auch heute noch virulent ist: Das Kind, um das es geht, war bei uns nicht nur ein Kind, sondern u.a. auch ein Wohnkomplex, der einstmals städtisch war und in private Hände fiel und dort verfiel. Aber ich sag euch: Was immer man liebt, das ist man auch.

Einen Text nutzen, um einen Raum auszulegen

Und: Was immer man bekämpft, das ist man AUCH. Und deshalb eben war "Nasty Peace" nicht nur site-specific, sondern auch fight-specific. Die spezifischen Kämpfe vor Ort wurden für uns gerade mit Hilfe Brechts beschreibbar. Also nicht einfach: WAS denken wir über Brecht oder mit Brecht, sondern WIE? Wie immer man liebt, so ist man auch.

Was also machen: Die Überschreibung überschreiben? Oder: die Überschreibung umschreiben? Nein: die Überschreibung umschreiben, umkreisen, und zwar mit der Bewegung unserer Zuschauer unter den Kopfhörern. Brecht-Exegese: einen Text nutzen, um einen Raum – in diesem Fall ein ganzes städtisches Areal – auszulegen. Und, andersrum, dieses Areal dazu nutzen, den Text auszulegen, mit dem Teppich des Hostels, mit dem Glas des Hochbahnhofs, den Kacheln und dem Beton des Kreuzberger Zentrums. Und dann wieder andersrum und von vorn.

Exegese: Wie verstehen wir den alten Anti-Gentrifizierungs-Slogan "Wir bleiben alle"? Geht es darum, daß wir alle bleiben, also: jede*r von uns? Oder darum, daß wir ALLE sind und bleiben, also: alle, leer, ausgepowered durch diesen fiesen Frieden, der keiner ist? Fight-specific könnte also heißen –.

HÖR JETZ AUF, SONST BOX ICH DICH MIT MEINEN AUGEN.

 

copy & waste ist ein Theaterkollektiv mit Sitz in Berlin. Gegründet 2007 von Jörg Albrecht (Autor) und Steffen Klewar (Regisseur und Schauspieler), entwerfen copy & waste seitdem intermediale Theaterabende und Performances, in denen es um die Veränderung der Städte im 21. Jahrhundert geht, um die immer diffusere Grenze zwischen Fact und Fiction. Das Team besteht in wechselnden Konstellationen aus Schauspielern, Videokünstlern, Musikern/Sounddesignern, Bühnenbildnern, Dramaturgen und Arbeitern anderer Disziplinen.

copyandwaste.de

 

Hier die anderen Beiträge zur Ausschreibung: von Ligna, Alexander Karschnia, Kevin Rittberger, friendly fire und Ivo Eichhorn.