Presseschau vom 23. Dezember 2015 – Tim Renner im Magazin Das Netz über das Digitale und den Kulturbetrieb
Das Digitale ist emotional nicht begriffen
Das Digitale ist emotional nicht begriffen
23. Dezember 2015. Schon vor knapp zwei Wochen hat Berlins Kulturstaatssekretär Tim Renner im Magazin Das Netz einen Text veröffentlicht, in dem er sich den Berührungsängsten der Kulturpolitik und des Kulturbetriebs mit der Welt des Digitalen widmet.
Renner konstatiert eine (nicht zuletzt finanzielle) "Ungleichbehandlung zwischen der digitalen und der analogen Welt, die sich auf alle Politikfelder erstreckt". Im Kulturbereich könne sie "für den Verbraucher im Alltag sehr ärgerlich sein, vor allem aber behindert sie Innovationen." Renner referiert auf den schmerzhaften, aber mittlerweile weitgehend vollzogenen Wandel in der Musikindustrie, wo er die "Hauptursache der [früheren] falschen Weichenstellungen" darin ausmacht, dass "die Topmanager den radikalen Wandel, den das Digitale mit sich bringt, emotional nicht begriffen haben". Dass "die digitale Transformation für manchen emotional unverständlich" bleibe, liege "an dem breiten Kulturbegriff, dem sie entspringt und den sie transportiert und den im deutschen Kulturbetrieb nicht jeder teilt."
Renner sieht den "eurozentristischen Kulturbegriff" schon durch Swing, Blues und Jazz und später durch die Popkultur ins Wanken geraten, Niedrigschwelligkeit habe so in die Kultur Einzug gehalten: "Kultur für die Massen, man könnte auch sagen: die Demokratisierung der Kultur." Vor 25 Jahren habe dann "die Digitalisierung vollends für die Globalisierung der Kultur" gesorgt. Indem nun "Grenzen zwischen Konsument und Produzent" zerflössen, komme es auch "automatisch zu Interdisziplinarität, mehr noch, zu einem Verschmelzen der Genres".
Die interdisziplinäre Volksbühne
Die Auseinandersetzung um die Benennung Chris Dercons als zukünftigem Intendanten der Volksbühne habe sich, so Renner, im Kern hierum gedreht: "Ein Museumsdirektor soll ein Theater leiten? Das kann doch nicht sein! Er will in einem institutionellen Rahmen, nicht nur auf Projektbasis, die Disziplinen miteinander verschränken, nicht nur mit Regisseuren und Schauspielern, sondern auch mit bildenden Künstlern, Tänzern, Musikern, Filmemachern arbeiten? Nach der Verkündung der Castorf-Nachfolge prangte der Schriftzug 'Verkauft' über dem Gebäude am Rosa-Luxemburg-Platz und offenbarte, welche Ängste bestehen, neue Prozesse zuzulassen, Hoheit und Kontrolle aufzugeben."
Der "App-Designer und die Netztheoretikerin" seien "im Organigramm eines Museums oder Theaters bislang die Ausnahme". Kultureinrichtungen müssten aber "nicht nur ihre Rolle in der vernetzten Gesellschaft neu definieren und dort um Aufmerksamkeit konkurrieren – während der Übergangsphase von der analogen zur vernetzten Gesellschaft ist ihre Aufgabe eine doppelte: Einerseits erreichen sie die jungen Generationen kaum noch, ohne auf den digitalen Kanälen präsent zu sein, andererseits müssen sie auch diejenigen mitnehmen, die sich noch gänzlich analog bewegen."
Die "Ungleichbehandlung zwischen analog und digital" mache "sich auch an dieser Stelle bemerkbar, denn die Bereitschaft der Kulturpolitik, Mittel für digitale Experimente bereitzustellen", sei gering.
(wb)
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1) Jeder Satz, der eine Formulierung a la "Kultur/Kunst/Theater MUSS..." einschließt, ist entweder naiv, dumm oder von vorgestern. Manchmal auch alles zusammen.
2) Wer heute noch von einer "Übergangsphase von analog zu digital" spricht, ist naiv, dumm oder von vorgestern. Manchmal auch alles zusammen.
3) Wer von einer "jungen Generation" ausgeht, die ihre Umwelt ausschließlich via Bildschirm und Video erfährt, ist naiv, dumm oder hat keine Kinder bzw. hatte nie mit Jugendlichen zu tun.
4) Wer eine Angst vor "neuen Prozessen" anprangert, selbst diese Prozesse aber weder benennen noch beschreiben kann ("irgendwas mit Medien" zählt nicht), macht sich unglaubwürdig.
Weitere Thesen folgen. ;-)
"Jedes Dispositiv, jede Herrschaftstechnik bringt eigene Devotionalien hervor, die zur Unterwerfung eingesetzt werden..(...). "Like" ist digitales Amen.
Byung-ChulHan
"Psychopolitik- Neoliberalismus und die neuen Machttechniken"
Nur damit ich nicht falsch verstanden werde ich bin mindestens 20 Jahre jünger als Herr Renner und ich glaube er hat einiges nicht so richtig verstanden.
Das klingt wie wenn mir Opa das Internet erklärt.
Und von so einem (…) muss sich die Volksbühnenmannschaft sagen lassen dass sie Angst vor Innovation hätte.
Was genau hat Herr Renner den schon mal innoviert?...
@Mihalis: Tim Renner liefert die von Ihnen vermissten Prozessbeschreibungen in seinem Sachbuch "Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm" ab. Bitte mal lesen und sich mit der Person auseinandersetzen.
@Adornröschen: Den Begriff "Kulturindustrialisierung" voller Abscheu und Ekel in den Mund zu nehmen, lässt nur den Schluss zu, dass Sie sich außerhalb der (subventionierten) Theaterwelt befinden. Subventionierte Theater sind inzwischen (imho) zu 95% kulturindustrielle Betriebe - obwohl ich das ausdrücklich nicht gegen die Volksbühne verstanden wissen möchte, um die es hier ja im Kern geht und für deren Neubesetzung Herr Renner schon ausreichend Prügel bezogen hat. Ich habe mich mit der VB nie intern befassen können, mit anderen (sehr) großen Häusern in D und Ö allerdings schon. Allein die alljährliche Durchschleusung tausender Schulklassen durch die Theater zur Weihnachtszeit, in welcher diese dann Zeugen von zumeist lieblos abgespulten und billig gemachten "Kinderstücken" werden müssen (und -nebenbei- der wochenlangen Versklavung von Schauspieler*innen und Bühnenpersonal beiwohnen dürfen), dient einzig und allein der monetären Auswertung derselben und liefert nur in den allerseltensten Fällen einen Gegenbeweis zum industriellen Kulturbetrieb ab.
@Aha: Jung sein schützt nicht davor, Zusammmenhänge und Argumentationen nicht zu durchblicken. Auch hier empfehle ich vorerst dringend das o.a. Buch von TR, bevor man in purer Selbstüberschätzung glaubt, man lasse sich von ihm in seinem Artikel das Internet erklären!
das Buch Kinder der Tod ist einfach nur eine verkappte Selbstbeweihräucherung , und so spannend is eine gescheiterte Manager-Autobiographie / Traumaaufarbeitung nun wirklich nicht.
Man versteht Renner, wenn man weiß, dass er das hautnah miterlebt hat. Und in dieser Branche zählte er dann wahrscheinlich zu den Progressiveren.
Aber leider hat das mit Theater nichts zu tun. Theater ist "live", lebt vom Moment, von der Magie des Augenblicks, wenn der Schauspieler auf die Bühne tritt. Diese Magie funktioniert seit Tausenden von Jahren, und sie hat mit Digitalem erst einmal gar nichts zu tun.
@Panatlantik (#6): Nicht wir sollten Renner lesen, um zu verstehen. Er sollte versuchen, Theater zu verstehen - was für einen kulturellen Zweig gilt, muss längst nicht für alle gelten.
Ich lese im Artikel drei Teile:
1. Der Wandel des Kulturbegriffs und die Rolle der Digitalisierung. Wir sind in den deutschen Kulturinstitutionen schlecht darin, die 'disruptive' Kraft der Digitalisierung auch in der Kultur zu begreifen, und daher auch, Innovationen zu schaffen. Wir geraten dadurch in Gefahr, einen noch größeren Teil der Bevölkerung für diese Institutionen (Museen, Theater, Oper, klassische Musik) zu verlieren.
Renner analysiert hier vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in der Musikindustrie mit internationalem Blick, ohne Berührungsängste was E- und U-Kultur angeht. Treffend, wie ich finde.
2. Aufruf an die Kulturpolitik. Um die Institutionen zu ertüchtigen, diesen Kampf aufzunehmen, braucht es Know-how, Zeit, Geld, Handlungsspielräume. Diese muß die Politik eröffnen, weil die Einrichtungen nicht nur sich neu ausrichten müssen, sondern auch ihr Stammpublikum nicht verlieren sollen. Doppelter Aufwand, doppelte Kosten.
3. Was macht Berlin? Verweis auf die Berliner Philharmoniker, Jüdisches Museum und 'Terminal plus' in der Volksbühne (und Lob von Dercons Arbeit an der Tate).
Ich würde gerne mal wegkommen von der Diskussion, daß Renner keine Ahnung vom Theater hat und Castorf bleiben muß, und ihn lieber mal an seinen eigenen Thesen und Taten messen. Die These von der Überforderung der Kulturinstitutionen durch digitale Disruption halte ich für richtig. Renner leitet daraus eine Handlungsempfehlung ab, auch das richtig.
Die Frage bleibt: ist was er selber tut, richtig? Ich glaube, er schwimmt (auch). 'Terminal plus' ist sein Versuch, der eigenen Handlungsempfehlung zu folgen, und ich glaube er findet ihn selber gar nicht so gut, weil hier ein großer Leuchtturm geschaffen wird, der außerdem funktionieren MUSS. Alle Betonung, die er auf Fehlertoleranz, das Recht zu scheitern lenkt, zeigt eigentlich, daß er viel lieber hunderte kleine Versuche, digitale Experimente in einem gesicherten Rahmen finanzieren würde.
Die Lücke in Berlin zwischen einer lebhaften digitalen Startup-Szene mit globalen Verbindungen und echtem Know-How und der institutionalisierten Kulturlandschaft ist riesig und tragisch. Als Politiker macht Renner das, was man als Politiker immer macht, um so eine Lücke zu schließen: er wirft Geld darauf. Ein bisschen so, wie man früher Entwicklungshilfe betrieben hat: der eine große Staudamm, der das ganze Land elektrifiziert, das eine Stahlwerk.
Wenn ich in einer Berliner Kulturinstitution arbeiten würde, würde ich das als Chance sehen: die Senatsverwaltung jede Woche mit neuen, aufregenden digitalen Projekten zuschmeissen. Es gibt sie zuhauf, es fehlt nur eine Kultur des 'fail better'. Herrn Renner beim Wort nehmen, ihn fordern. (Im Rahmen des 'Call for Ideas' im letzten Jahr fand ich die Performance schon mal nicht besonders.)
Aber leider geht die Energie in Rückzugsgefechte, in l'art pour l'art-Projekte, in bürgerliche Selbstvergewisserung, sogar hier im digitalen Medium nachtkritik. Es ist zum Verzweifeln.