Prophezeiung

von Teresa Präauer

Erwähnungen des Wortes Prophezeiung auf nachtkritik.de bisher: 32 Mal

5. Januar 2016. Angesichts der Lektüre eines aktuellen Interviews mit Bob Wilson im britischen Guardian kann ich nicht anders, als das neue Kolumnenjahr auf nachtkritik.de mit einem Close Reading zu eröffnen. Nachdem Bob Wilson in diesem Interview selbst die Kunst der Prophezeiung praktiziert, möge Folgendes nun mit dem Habitus des Ausblicks aufs noch frische Jahr gelesen werden. Vorausgeschickt sei allerdings, dass die mediale Berichterstattung mitunter dazu neigt, Aussagen ihrer Interviewpartner verkürzt oder vereinfacht darzustellen – freilich als Serviceleistung für den Leser und die Leserin, die "in unserer schnelllebigen Zeit" komplexer Inhalte gar nicht mehr habhaft werden können –, wir wissen also nicht, ob Bob Wilson tatsächlich so geweissagt hat, als er, in Linz/Oberösterreich seine Inszenierung von Verdis "La Traviata" probend, den Guardian an der Strippe hatte. Doch womöglich hielt er sich, auch eingedenk der Telefonkosten, an den Neujahrsvorsatz: "Keep it simple."

Das geniale Schweigen der Lady Gaga

Lady Gaga sei ein "Genie", hat Bob Wilson angeblich, den Telefonhörer in Linz ans Ohr gepresst, gegenüber dem Guardian verlautbart. Bob hat mit ihr vor 2 Jahren eine "Serie von Videoporträts" gedreht, in denen sie stundenlang still stehen oder sitzen musste. Bob erlangte dabei angeblich "Klarheit" über Lady Gagas "Fähigkeit zu tiefem Gefühl". Gerade in ihrem bewegungslosen Stummsein hat die Lady ihn, so lese ich diese Aussage, beeindruckt. Was ihn wiederum zum Weiterplaudern animiert: "Die Konzentration, die Kraft, die sie hat, sie ist total." Und nun setzt Bob die Frage nach: "Würde Meryl Streep das tun? Würde es Nicole Kidman? Kann es Madonna?" Und Bob, weiterhin im beredten Modus apodiktischer Spekulation, hat auch darauf eine Antwort für den Guardian: "I don't know."

kolumne teresa2Nun wissen wir nicht, ob Bob Wilson Zeit findet, neben seinen Proben in Linz auch nebenan ins Kunstmuseum „Lentos“ zu gehen, um sich dort die Video-Installation "Mother" (2005) der Künstlerin Candice Breitz anzusehen, in der Meryl Streep neben anderen Kolleginnen aus Hollywood mütterliche Sätze spricht und haus- und ehefrauliche Gesten performt. Würde Bob uns stattdessen noch mehr von seiner Arbeit mit Lady Gaga berichten? Ja, er würde. Denn noch einmal hat er mit ihr zusammengearbeitet – hierzu überliefert der Guardian auch eine beinah mystische Zeitangabe: "Later that year, at 4 pm in a recording studio" –, und diesmal durfte Lady Gaga dabei sogar verbal tätig werden. Denn Wilson ließ sie in einer Art von Mantra folgende Wörter wiederholen: "Koitus, Christus, Ejakulation". Ich wiederhole, in einer Art von Mantra: Später im selben Jahr, um 4 Uhr Nachmittags in einem Aufnahmestudio, Koitus, Christus, Ejakulation.

Die Broadway-Formel

"This kid speaks text like a machine gun. (...) She should do Medea." Ja, wieso eigentlich nicht? Das Kid gibt die Medea, Bob den Kreon, Meryl Streep tachiniert, Tom Waits macht die Musik dazu und der Guardian berichtet. Damit nicht genug. "Ein paar Tage später", vielleicht war es wieder 4 Uhr nachmittags, rief Lady Gaga bei Bob Wilson, der gut im Telefonieren ist, an. "Sag mir etwas übers Theater", sagte sie. Und er sagte: "Nun, weißt du, Gaga, denk an die erste Sekunde, und an die letzte." Und dann wieder sie: "Okay, danke, das ist alles, was ich wissen musste." Dann, "zwei Wochen später", noch einmal dasselbe: "Bob, kannst du mir noch etwas übers Theater sagen?" Und er: "Die Broadway-Formel ist, du startest stark und endest groß." Die Essenz dieser beiden Erfolgsformeln aus dem Munde Robert Wilsons hat Lady Gaga, unsere Gaga!, dazu angespornt, sich eine Eröffnungsnummer für die MTV-Awards auszudenken, in welcher sie mit vier ins Kleid eingenähten Flugdrohnen über die Bühne propellern würde. Wegen Sicherheitsbedenken wurde aus diesem Kostüm und der bereits getätigten Investition von 1,5 Millionen Dollar dann leider nichts, stattdessen startete Lady Gaga ihren Auftritt mit einem Nonnenkostüm und endete nackt. Koitus, Christus, Ejakulation!

Nun, Kids, ich hatte Prophezeiungen versprochen. Also, liebes Wilson-Orakel, streck deine Oktopusfühler aus und sag uns, was wird bleiben, was wird gehn? Heiner Müller?! "Müller wird in 50 Jahren weiterhin produziert werden." Marina Abramović?! Marina wird "eine Fußnote" sein. "Ich denke viel darüber nach, dass das, was meine Generation produziert hat, in 50 Jahren nicht mehr gesehen wird. Es war dazu nicht angelegt. Ich glaube nicht, dass Marinas Arbeit bleiben wird. Nein, keinesfalls." Und dann macht er sichs, gleich ist das Telefonat vorüber, noch einfach: Shakespeares "Hamlet" wird bleiben, Büchners "Woyzeck". Und Marina? Marina wird eben nicht bleiben, Marina wird eine Fußnote sein in 50 Jahren. Sollte Ihre Kolumnistin das noch erleben, liebe Leserinnen und Leser, wird sie an dieser Stelle, im altmodischen Internet, darüber berichten. Happy New Year!

Und jetzt setzen wir hier noch eine Fußnote für unseren freundlichen Telefonisten.1


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1 Robert "Bob" Wilson, *1941, US-amerikanischer Theaterregisseur: "The responsibility of the artist is not to give answers. It is to ask questions."



teresa praeauerTeresa Präauer ist Autorin und Zeichnerin in Wien. Sie schreibt regelmäßig für Zeitungen und Magazine zu Theater, Kunst, Literatur, Mode und Pop. Ihre Bücher erscheinen im Wallstein Verlag, als Taschenbücher bei S. Fischer, und wurden vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien der Künstlerroman "Johnny und Jean", nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015. In ihrer Kolumne "Zeug & Stücke" denkt sie über die Einzelteile nach, aus denen Theater sich zusammensetzt.



Zuletzt schrieb Teresa Präauer in ihrer Kolumne "Zeug & Stücke" über Hosenrollen, übers Heimkommen, über amerikanische Newbies in Iowa City, das Wir, Masken und Smartphone-Fotografie auf der Bühne, über Aussprache, Schauspieler-Memoiren, Cosplayers auf der Leipziger Buchmesse und funkelnden Glitzer-Staub im Theater.

 

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