Presseschau vom 5. Januar 2016 – In der Schweizer Sonntagszeitung kritisiert Doku-Theatermacher Milo Rau die europäische "Wohlfühl-Ethik"

Schluss mit den Bittschriften, raus auf die Straße!

5. Januar 2016. In der Schweizer Sonntagszeitung (27.12.2015) wettert der Recherche-Theatermacher Milo Rau gegen den von ihm so genannten "zynischen Humanismus" in Europa. Es ist ein Humanismus, der in unpolitischer Weise eine "Wohlfühl-Ethik" auslebt. Der zynische Humanist "kritisiert die unmenschliche Grenzpolitik der EU, setzt auf nachhaltigen Konsum und adoptiert Genozid-Opfer". Aber, so Rau, die "grossen Fragen bleiben ungestellt, die wirklichen Verantwortlichkeiten verschwinden hinter dem Instant-Ergebnis des Helfens". Was auf der Strecke bleibe, sei der "gesellschaftliche Wandel".

Im Kern zielt die Kritik auf die Verwandlung realer Aktionen in symbolische: Jede "Change.org-Petition, die von den Ungarn eine Lockerung ihrer Immigrationspolitik oder von einem arabischen Königshaus mehr Meinungsfreiheit fordert, verschiebt eine realpolitische Debatte in den virtuellen Raum. Die Französische Revolution brach aus, als sich die Franzosen entschlossen, nicht länger Bittschriften an ihren König zu verfassen, sondern ihre Forderungen ins Parlament und dann auf die Strasse zu tragen. Wie Teenager, die zu viele Pornos geguckt und dadurch asexuell geworden sind, sind wir unpolitisch geworden, weil wir zu viel symbolisches Engagement konsumiert haben."

"Ich bin ein Arschloch!"

Im Dienste einer Repolitisierung, die auf Handeln abzielt, formuliert Rau fünf Merksätze. Der erste: "Ich profitiere von der Ungerechtigkeit der Welt! Ich bin ein Arschloch!"; der zweite: "Wir können nicht gut und zugleich reich sein. Humanität zahlt sich nicht aus. Wer das Richtige tun will, muss Kosten in Kauf nehmen." Menschlichkeit "kostet unseren Reichtum", sagt Rau mit Blick auf den Wohlstand der Schweiz.

In der dritten These fordert er eine emotionale Berührtheit angesichts der globalen Schrecken: Es geht um "das Leiden von fünf Milliarden Menschen, die nicht das Glück hatten, auf dieser Seite des Grenzzauns geboren zu werden". Rau: "Versuchen wir, uns ihr Schicksal vorzustellen. Es uns lebendig vorzustellen. Denn wenn wir es nicht tun können, sollten wir das Denken ganz sein lassen."

Der vierte Satz ("Werden wir Weltbürger!") fordert eine Revitalisierung des humanistischen Erbes, das über oberflächliche Karitas-Hilfe im Stile einer Marie-Antoinette hinausgeht. "Dem Humanismus des 18. Jahrhunderts treu zu bleiben, würde im 21.  Jahrhundert bedeuten, in einer globalen Revolution die europäischen Aussengrenzen niederzureissen. Das ist keine irre marxistische Utopie, sondern angesichts der Globalisierung der Wirtschaft das Mindeste, was wir tun könnten."

Der fünfte Gedanke resümiert das Programm in einer Forderung mit maximaler Brennweite: "Retten wir gemeinsam die Welt!"

(chr)

7. Januar 2016. Die Flüchtlingskatastrophe, "in den Medien als Geburtshelferin einer Politik der schönen und großen Gesten gefeiert", markiere "in Wahrheit den Beginn der letzten Etappe auf dem Weg in die Postpolitik", legt Milo Rau zwei Tage später in der ZEIT nach und bezieht sich dort auch auf seine bevorstehende Premiere von "Mitleid" an der Berliner Schaubühne. Die Ikone des toten Ailans an der Mittelmeerküste sei jener katastrophal späte Moment, "in dem Europa sich mit dem eigentlichen Wesen seines Reichtums konfrontiert sieht". Sich des "Problems der Flüchtlinge" mit einer weiteren Ethikdebatte anzunehmen sei deshalb nicht nur unpolitisch. "Im Endeffekt ist es auch, so fürchte ich, antiutopisch. Denn was diese Menschen brauchen, ist nicht Charity, es sind Solidarität und Gerechtigkeit."

Rau kritisiert das "unverschleierte Nützlichkeitsargument" in der Debatte, den "zynischen Humanismus" und fordert angesichts des Versagens staatlicher Institutionen stattdessen eine "Poesie des Herzens, des Verstandes und der Tat". Was genau das sein soll, versucht er so zu umreißen: "Warum immer diese selbst auferlegte Zurückhaltung, diese Angst, noch mehr Schaden anzurichten? Warum sollten wir Zöglinge des europäischen Bildungsbürgertums uns nicht für einmal dem magischen Denken hingeben, dass 'nur jene Lanze die Wunde schließt, die sie geöffnet hat' – um Wagners Parsifal zu paraphrasieren? Warum sollten wir nicht, wenn auch nur für eine Saison, die alte Schlingensief-Rolle der ironischen Negation aufgeben und, sagen wir es offen: staatstragend arbeiten?"

Wider die kapitalische Fabel

Rau fordert einerseits eine klare Positionierung (gegen Pegida und Co.), andererseits eine Ablehnung der bestehenden Wirtschaftsordnung: "Hören wir also auf, ein weiteres Jahr der kapitalistischen Fabel zu glauben, dass es immer so weitergehen kann – nur irgendwie weniger tödlich für die Verlierer des Systems, irgendwie weniger peinlich für die Gewinner, irgendwie sauberer für den Planeten. Entwickeln wir, nachdem wir uns der imperialen Innenpolitik gewidmet haben, einen wahrhaft globalen Realismus. Einen Realismus, der nicht nur die Menschen sichtbar macht, die es bis an die Gestade Griechenlands und Italiens geschafft haben. Sondern auch jene, die außerhalb des Fokus der europäischen Mitleidindustrie leben: jene Rechtlosen und Unsichtbaren, die, um ein schreckliches Wort von Hegel aufzunehmen, 'keine Geschichte haben'. Denn wenn die gefühlte Apokalypse des vergangenen Jahres etwas gebracht hat, dann Folgendes: Sie hat auch dem Letzten unter uns die Wahrheit über das System enthüllt, in dem wir leben."

(geka)

 

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