Zerplatzte Hoffnungen

von Sascha Westphal

Detmold, 15. Januar 2016. Am Ende ihres Textes "für drei Spielerinnen und einen Männerchor von drei Stimmen" stellt Henriette Dushe den Regisseur vor die Wahl. Er kann dieses sechsstimmige Klagelied mit dem Chorsatz "Vollendet ist das große Werk" aus Joseph Haydns Oratorium "Die Schöpfung" ausklingen lassen. Wenn ihm das zu pathetisch erscheinen sollte, schlägt die Autorin alternativ vor, dass "der Männerchor vielleicht Schuberts 'Die Nacht'" anstimmt: "Wie schön bist du, / Freundliche Stille, himmlische Ruh'!" Malte Kreutzfeldt hat sich bei seiner Uraufführungsinszenierung für diese sehnsuchtsvollen Zeilen entschieden, und sie erklingen nicht nur am Ende, sondern auch schon gleich zu Beginn.

Das Leben ist ihnen entglitten

Stephan Clemens sitzt zunächst alleine auf einem der sechs auf der Bühne aufgereihten Stühle und starrt nur vor sich hin. Die anderen fünf Spieler*innen stehen hinter einem transparenten Vorhang, der einen Birkenwald erahnen lässt. Die Bäume sind verwischt, so als sähe man sie aus dem Fenster eines schnell vorbeirasenden Zuges. Schließlich beginnen sie, Schuberts Chorlied zu singen, und Stephan Clemens tritt nach vorne an das Mikrophon, das an der Rampe steht. Als es ihm nicht gelingt, es auf die richtige Höhe einzustellen, kniet er sich hin.

Die verkrampfte Haltung und der Zwang nun von unten nach oben zu blicken, weisen diesen Mann sofort als Ausgeschlossenen aus. Es war ein Tag, wie jeder andere, an dem ihm sein bisheriges Leben entglitten ist, und schuld war ein ganz alltäglicher Auffahrunfall. Aber etwas ist in dem Moment geschehen, in dem er mit seinem Wagen in einem Stau auf einen großen silbernen Mercedes geprallt ist. Was genau, weiß er selbst nicht. Also verbiegt sich Stephan Clemens nicht nur, er ringt auch mit und um Worte. Den anderen beiden von Roman Weltzien und Henry Kindler verkörperten Männern, die wie auch die drei Frauen mittlerweile nach vorne gekommen sind, geht es nicht anders. Auch sie haben verloren, was sie einst hatten, und versuchen nun, sich zu erinnern.

IneinemdichtenBirkenwald 560 LandestheaterSchomburg UVor vorbeirauschenden Birkenwäldern: das Ensemble des Landestheaters Detmold
© Landestheater/Schomburg

Immer wieder erklingt in der gerade einmal einstündigen Inszenierung Malte Kreutzfeldts Schuberts "Die Nacht". Die ersten Zeilen des Liedes sind das eine Leitmotiv, das sich durch dieses Spiel mit sich ständig verschiebenden, von einem zum anderen treibenden Erinnerungen durchzieht. Der Wald, der nur ein Bild auf einem Vorhang ist, und die Nacht des Vergessens, die hier sechs Personen ohne jede Hoffnung und jeden Halt suchen, sind in Kreutzfeldts Lesart des Dushe-Textes das Gegenstück zur materialistischen Wirklichkeit des frühen 21. Jahrhunderts. Die drei Frauen und die drei Männer, deren Beziehungen untereinander ähnlich fließend sind wie die Texte, die sie sprechen, sind irgendwann einfach nicht mehr mitgekommen. Die Welt hat sie abgehängt, und das Leben reduziert sich alleine auf die Frage, wie es soweit kommen konnte.

Kinder des Sozialismus

Das andere Leitmotiv des Abends ist mit den sechs nackten Glühbirnen verknüpft, die über den Stühlen hängen. Nach und nach zerplatzen sie, und niemand weiß warum. Jede mit einem kleinen Knall verlöschende Glühbirne ist eine Hoffnung, die zerschellt, oder eine Liebe, die verlorengeht. Henriette Dushes an sich schon rätselhafter, sich dem Zugriff des Lesers stets wieder entwindender Text wird in Malte Kreutzfeldts Bearbeitung noch ein wenig rätselhafter. Von den Verweisen auf die Kindheit und Jugend der drei Frauen in der DDR bleiben gerade einmal Bruchstücke übrig. Die "Junge", die "Alte" und die zwischen ihnen stehende "Wedernoch" sind zwar noch als Kinder des sozialistischen Staates zu erkennen. Aber alles Biographische verliert sich in dieser Inszenierung endgültig im Nebel.

Während Henriette Dushe fortwährend mit Andeutungen spielt – vielleicht sind die drei Frauen Schwestern, vielleicht sind sie unterschiedliche Inkarnationen ein und derselben Frau – und so für Momente ganz konkret wird, setzt Malte Kreutzfeld ganz auf Abstraktion. Das Individuelle löst sich auf. Nicht nur die Männer sind eher Teile eines Chors als Einzelne, auch Karoline Stegemanns depressiver Junger, Heidrun Schwedas aufbrausender Alter und Marie Luisa Kerkhoffs zynischer Wedernoch fällt es ungeheuer schwer, "Ich" zu sagen. Aber sie leiden anders darunter als die Männer, die Clemens, Weltzien und Klinder verkörpern, die sich noch in Wut flüchten können und auch mal die "Zeit" an sich verfluchen: "Wir scheißen auf die Zeit. Wir scheißen drauf, denn wir mögen sie nicht, die Zeit". Für die Männer bedeutet der Schmerz Gemeinsamkeit. Für die Frauen ist er eine Möglichkeit, sich zu unterscheiden. Aber weder das eine noch das andere kann diese Sechs retten. Die Glühbirnen platzen so oder so, und eine "freundliche Stille", eine "himmlische Ruh'" gibt es höchstens in dem anderen, ewigen Dunkel des Todes.

 

In einem dichten Birkenwald, Nebel
von Henriette Dushe
Uraufführung
Regie und Ausstattung: Malte Kreutzfeldt, Dramaturgie: Christian Katzschmann.
Mit: Marie Luisa Kerkhoff, Heidrun Schweda, Karoline Stegemann, Stephan Clemens, Roman Weltzien, Henry Klinder.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.landestheater-detmold.de

 


Kritikenrundschau

Barbara Luetgebrune von der Lippischen Landes-Zeitung (18.1.2016) verwundert "weder der verdiente Applaus noch die Verwirrung der Zuschauer" am Schluss. Dushes Stück "lässt alles im Ungewissen, es verweigert sich jeglicher Antwort, und ist darin so konsequent wie in der Desillusionierung, die es betreibt." Es liefere ein "düsteres Szenario". Die Inszenierung folge dem Stück in seiner Machart ebenso konsequent. "Auch hier: keine klaren Konturen."

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