Die Jungs machen halt die Drecksarbeit

von Steffen Becker

Tübingen, 16. Januar 2016. "Das Böse triumphiert allein dadurch, dass gute Menschen nichts unternehmen", zitieren die Darsteller des NSU-Rechercheprojekts "Auch Deutsche unter den Opfern" den Philosophen Edmund Burke. Hm, was kann man also tun im Angesicht einer rechtsextremen Terrorserie, die das Vertrauen in den Staat erschüttert hat? Regisseurin Sapir Heller entscheidet sich im Zimmertheater Tübingen, ihre drei Schauspieler tanzen zu lassen: Aerobic zum Schlager-Evergreen Ein bisschen Frieden. "Und jetzt Five, Six, Seven, Eight – Keep smiling", feuert Katrin Kaspar ihre Mitspieler Philipp Lind und Paul Schaeffer an. Aber war da nicht was? Richtig: Passend zum Refrain erscheint Beate Zschäpe auf der Leinwand – eine Zufallsaufnahme aus der Zeit im Untergrund zeigt sie beim Gruppenfitness an der Ostsee. Tja, auch böse Menschen bewegen sich rhythmisch. Und Zschäpe sieht dabei völlig normal aus. Schnitt.

"Beaaate!"

Als Beate Zschäpe im November 2015 eine Aussage ankündigt, sind die Beobachter elektrisiert. Alle Geheimnisse, die man ihr zugeschrieben hat, stehen vor der Enthüllung. Philipp Lind zeigt Bilder von seiner strapaziösen Wallfahrt zum Prozess – mit der Rettungsdecke vor dem Oberlandesgericht – und schildert die Verlesung ihrer "Ich habe nichts gewusst"-Aussage. "Beaaate" wispert er und es klingt, als werte er das als Offenbarung. Dieses mysteriöse Wesen, in deren Schweigen alle so viel hineinprojiziert haben, muss einfach etwas Bedeutungsvolles gesagt haben, es kann gar nicht anders sein.

AuchDeutsche 560 StefanLoebe uLet's talk NSU: Katrin Kaspar, Philipp Lind, Paul Schaeffer © Stefan Loeber

Diese Zschäpe-Kontraste gehören zu den skurrilsten Momenten in dieser an schrägen Einfällen nicht armen Inszenierung. Sie unterstreichen einerseits den Work in Progress-Charakter des Recherche-Projekts von Tuğsal Moğul – zur Uraufführung des Stücks war von einer Aussage der Angeklagten noch keine Rede. Sie werfen auch ein Schlaglicht auf unser aller Fokussierung auf den Münchner Prozess und dessen fast schon hysterische öffentliche Begleitung – was hat Zschäpe an, was sagt ihre Körpersprache, wie geht das Drama mit ihren Anwälten aus, ...

Dabei geht es doch eigentlich um etwas anderes. Zu Beginn zählen die Darsteller die Opfer, die Tatorte, die Befunde auf. Türkische Namen, die man sich nicht merken kann, hier ein Schädelweichteilsteckschuss, dort die Aussprengung des oberen linken Schneidezahns durch die Kugel aus der Ceska. Das ist Bürokratie, die Opfer tot und damit längst nicht so spannend wie die Täter und das Drumherum mit Aktenschreddern, V-Leuten, Ku-Klux-Klan-Polizisten.

Softporno mit Fremd-DNA

Auch Regisseurin Heller setzt in ihrer Inszenierung auf das Terror-Trio als Kristallationspunkt. Aus den Wänden ragen Fahrradhälften – wie Beweistücke, die zusammengehören, in der vorliegenden Form aber nicht zusammenpassen. Die Darsteller tragen Fahrrad-Outfits, wie sie die Täter bei der Flucht von den Tatorten anhatten – man assoziiert automatisch Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe mit ihnen. Auch wenn sie nie als diese sprechen, sondern als Erzähler, Kommentatoren, sie selbst, Angela Merkel, Soko-Leiter, etc. Dafür verknoten sie sich zu Beginn in wechselnden Konstellationen und verschmelzen schließlich zur Einheit.

AuchDeutsche 560a StefanLoebe uSkandalrequisit Fahrrad. Auf dem Video: Katrin Kaspar, Philipp Lind, Paul Schaeffer © Stefan Loeber

Im weiteren Verlauf ist die ganze Performance stark sexuell aufgeladen. Man flirtet, fasst sich und die anderen an. Die Hintergründe zu einer Phantomspur erzählt Katrin Kaspar, als hätten mit Fremd-DNA verunreinigten Polizei-Wattestäbchen Softpornoqualitäten (zumindest ist die Handlung ähnlich absurd). Der Gedankensprung zu Zschäpe und ihren wechselnden Beziehungskisten sowohl zu Böhnhardt als auch zu Mundlos liegt jeweils auf der Hand. In Hellers Interpretation wäre dann Zschäpe die dominante Figur gewesen.

Zumindest ist Katrin Kaspar klar das Zentrum der Inszenierung. Sie gibt die Anweisungen, die den Abend vorantreiben, sie ist Dreh- und Angelpunkt auch der Interaktion zwischen den Männern, sie hat den meisten Raum, die größte Bandbreite und als Darstellerin auch die stärkste Bühnenpräsenz – ob als Domina, als Aktenrezitatorin oder als bayerischer Fahnder vor dem OLG. Die Jungs machen halt die Drecksarbeit. Immerhin dürfen sie sich auch mal küssen. Womit wir wieder beim Sex wären.

Verstörende Wirkung

Die erotische Aufladung des Spiels kann man auch als Zitat der Erregung sehen, die der NSU-Skandal ausgelöst hat. Eine aufgescheuchte Öffentlichkeit ist elektrisiert vom Verschwörungs-Potential, das sich auftut. Auf einmal scheint es möglich, dass der Staat eine rechte Terrorgruppe gedeckt hat, wenn nicht gar über das V-Leute-Unwesen mitfinanziert hat. Akten werden vernichtet, Zeugen sterben überraschend an unerkannten Krankheiten, ein Verfassungsschützer sitzt an einem Tatort, will aber nichts mitbekommen haben – all die offenen Fragen, die Unglaublichkeiten der NSU-Geschichte werden im Zimmertheater symbolisch auf einer Stange im Zentrum aufgespießt.

Für das Gerichtsverfahren gegen Beate Zschäpe spielen sie keine Rolle. Während sie ein Urteil aus Mangel an Beweisen gegen Beate Zschäpe formulieren, umkreisen die Darsteller die Skandalrequisiten mit zwei Fahrrädern, fest montiert und damit unfähig, zum Kern vorzudringen. Ein Bild, das das ungute Gefühl, dass einen beim Stichwort NSU ohnehin befällt, bis zur Klimax steigert. Man verlässt die laute, schrille und atemlose Inszenierung verstört – mit dem Eindruck, dass genau das den Vorgängen angemessen ist.

P.S.: Wer sich über den Titel wundert: Zum Stück gehört auch eine Aufzählung aller Opfer rechtsextremer Angriffe von 1990 bis 2011. In Tübingen wird dazu ein Netz über die ganze Bühne geknüpft. Dabei sind "Auch Deutsche unter den Opfern".

 

Auch Deutsche unter den Opfern
von Tuğsal Moğul
Regie: Sapir Heller, Bühne & Kostüme: Ursula Gaisböck, Dramaturgie: Sandra Schumacher, Michael Hanisch.
Mit: Katrin Kaspar, Paul Schaeffer, Philipp Lind.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.zimmertheater-tuebingen.de

 

Kritikenrundschau

Sapir Hellers "äußerst sehenswerte" Inszenierung arbeite "mit intelligenter Beobachtungsgabe und Spiellust statt mit moraltriefendem Betroffenheitsfuror", schreibt Wilhelm Triebold im Schwäbischen Tagblatt (18.1.2016). "Von dieser jungen Regisseurin möchte man bald gerne wieder was sehen."

"Einen ziemlich kurzweiligen" Theaterabend hat auch Armin Knauer gehabt und schreibt im Reutlinger General-Anzeiger (18.1.2016): "Hellers Kunstgriff ist es, aus der nackten Fakten-Collage einen makabren Totentanz des Scheiterns zu machen. Das unfassbare Versagen staatlicher Organe bis hin zu den Machenschaften des Verfassungsschutzes wird hier verwoben zu einem obszönen Tanz des Versagens." Wie "intensiv und auf den Punkt" die Darsteller dabei agierten, gebe dem Abend "seinen eigentlichen Drive". Dass sich gegen Ende des Stücks "immer mehr die allumfassende Verschwörungstheorie" andeute, bringe zwar Spannung in Gestalt eines Grusel-Effekts in die Aufführung. "Aber ob einen das nun der viel beschworenen Wahrheit so viel näher bringt, ist dann doch seinerseits die Frage."

Sapir Heller habe den Stoff "auf bemerkenswerte und eigenwillige Weise" inszeniert, findet auch Kathrin Kipp in der Südwest Presse (18.1.2016). Oft seien es naheliegende Gimmicks, mit denen die Geschichtsstunde präsentiert werde, oft inszeniere man aber auch in Rätseln. "Das wiederum entspricht so ziemlich dem Ermittlungsstand in der Sache: Vieles ist offensichtlich, vieles wird aber auch zukünftig rätselhaft bleiben."

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