Den ehrlichen, leidenden Menschen erkennen

von Hartmut Krug

Dresden, 16. Januar 2016. Lichterscheinungen und zischelnde Geräusche peinigen Fürst Myschkin, der ganz allein vor den grauen Wänden einer schmalen Bühne steht. Der Epileptiker durchlebt seinen Anfall nicht nur als Pein, sondern er fühlt Kopf und Herz bewegt von höchstem Selbstempfinden und empfindet glückhafte Harmonie. Mit diesem Glücksmoment erklärt in einer vorangestellten Eingangsszene Regisseur Matthias Hartmann das Verhalten dieses "Fürst Christus", als den Dostojewski den Protagonisten seines Romans "Der Idiot" in einem Entwurf bezeichnete und mit dem er die "Darstellung eines wahrhaft vollkommenen und schönen Menschen" versuchte.

Elegantes Erzähltheater

Wie schon Martin Wuttke 2002 bei Frank Castorf an der Berliner Volksbühne, so gibt auch der schmale und jungenshafte André Kaczmrczyk in Dresden den Myschkin nicht als auratisch leuchtendes Wesen. Sondern (etwas monoton) als eine in sich gekehrte Figur, die mit stillem Staunen und offener Freundlichkeit, ganz ohne Arg und Intrigenlust, aber mit ehrlicher Bescheidenheit den Menschen begegnet. Einen solchen Menschen können die anderen, die dem Geld und einem durch Abstammung oder Funktion bestimmtem Status nachjagen, nur abwehrend als Idioten ansehen. Der laut Walter Benjamin ein "Gravitieren aller Dinge und Menschen gegen den Einen hin" verursacht.

idiot 560 MatthiasHorn UStilles Staunen: André Kaczmarczyk (Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin) mit Lieke Hoppe (Aglaja Iwanowna Jepantschina) © Matthias Horn

Schon in der folgenden Bühnenszene, der ersten des Romans, wird diese Haltung und Wirkung von Myschkin deutlich. Der von einer vierjährigen, nicht recht erfolgreichen Kur aus der Schweiz Zurückkehrende sitzt mit nur einem kleinen Kleiderbeutel als Gepäck im Zug nach St. Petersburg und lernt Rogoschin (kraftvoll: Christian Erdmann) kennen, der nach Hause fährt, weil sein reicher Vater gestorben ist. Die beiden werden sich später immer wieder, auch als Rivalen bei der schönen Nastassja, begegnen. Einige Lichteffekte und einen Nebelwerfer, mehr braucht die Szene für die Eisenbahnfahrt nicht. Und so präzise wie spiellustige Schauspieler.

Mit ihnen entwickelt Hartmann eine besondere Art des Erzähltheaters, in dem Dostojewskis epischer Text auf eine elegante Weise zum dramatischen Erzählspiel wird. Der berichtende Text Dostojewskis wird von einer Figur gesprochen, während die Besprochenen und Vorgestellten sich einmischen, die Beschreibungen korrigieren und weiter entwickeln. Oder die Beschreibung von Ereignissen oder ihrer selbst nachspielen. Oft als übersteigert komisches Spiel des Beschriebenen. Hinreißend, wie Rosa Enskat die Lisaweta, Frau des Generals Jepantschin und Mutter dreier heiratsfähiger Töchter, spielt und zugleich spielerisch charakterisiert und ironisiert, ohne sie an platte Effekte zu verraten.

Soghafte Konzentration

Die Bühne mit ihrer hellgrauen Wand, aus der einige Zwischenwände gezogen werden können, bleibt bis auf einige Stühle fast leer für ein imponierendes Schauspielertheater des starken und homogenen Dresdner Ensembles. Fast 900 Seiten umfasst der Roman, den alle Darsteller vor den Proben lesen mussten. Aus ihren Erklärungen, was im Roman besonders interessiere, entstand die Bühnenfassung. Sie ist keine lineare Nacherzählung des Romans: Öfter wird aus der Handlung ausgestiegen, um an späterer Stelle neu anzusetzen. Natürlich ist es dennoch ein mit vier Stunden sehr langer Abend, der allerdings meist eine fast soghafte Konzentration entwickelt. Die Inszenierung verzichtet sowohl auf historisches russisches Kolorit wie auf jede Art von Aktualisierungen.

idiot 560a MatthiasHorn UHouse on Fire: Das starke Dresdner Ensemble  © Matthias Horn
Im Zentrum der Handlung über Moral und Lebenssinn steht der Streit um die schöne Nastassja, die als junges Mädchen vom Großgrundbesitzer Tozkij zur Mätresse gemacht wurde. Nun aber will dieser eine der drei Töchter des Generals Jepantschin heiraten, weshalb Nastassja an Iwolgin, Sekretär des Generals, verheiratet werden soll. Dafür werden diesem siebzigtausend Rubel versprochen. Aber auch Rogoschin ist von der Schönheit Nastassjas bezaubert und setzt für seine Werbung viel Geld aus seiner Erbschaft ein. Während Myschkin sich sowohl in die selbstbewusste Aglaja, jüngste Tochter der Jepantschins, wie auch in Nastassja verliebt hat. Er, der in Nastassja, der Frau von schlechtem Ruf, den ehrlichen, leidenden Menschen erkennt, macht ihr einen Heiratsantrag aus Mitleid. Doch sie, die ein Bewusstsein eigener Minderwertigkeit und ein selbstzerstörerischer Drang treiben, folgt Rogoschin, verlässt ihn aber später.

Genaue soziale Gestik

Wie nun die vielen Verwirrungen und Wendungen der scheiternden Liebesbeziehungen ausgemalt werden, das hat (vor allem wegen der intensiven Yohanna Schwertfeger als Nastassja) einen enormen schauspielerischen Reiz. Mit körpersprachlicher Intensität und genauer sozialer Gestik werden die Figuren auf die Bühne gestellt (man müsste eigentlich alle Schauspieler gleichermaßen hervorheben).

Ein wenig lang wird es zum Schluss allerdings, bis der Kampf zwischen Nastassja und Aglaja zugunsten Nastassjas beendet und diese mit Rogoschin von ihrer mit Myschkin angesetzten Hochzeit geflüchtet ist. Myschkin, inzwischen auch durch eine Erbschaft reich geworden, bleibt der gute Mensch, als den ihn Dostojewski vor die von Geld und Gier bestimmte Gesellschaft setzte. Am Ende der Inszenierung sitzt er mit Rogoschin im Schoß wie eine Pietà vor der von Rogoschin erstochenen Nastassja.

Es ist keine große, keine aufrüttelnde Inszenierung. Aber durchaus eine kluge Bühnenadaption eines Romans und ein wunderbarer, spielerisch klarer Schauspielerabend.

 

Der Idiot
nach dem Roman von Fjodor M. Dostojewskij
Bühnenfassung auf der Basis der Übersetzung von Swetlana Geier von Matthias Hartmann, Janine Ortiz und dem Ensemble
Regie: Matthias Hartmann, Bühne: Johannes Schütz, Kostüm: Tina Kloempken, Musik: Parviz Mir-Ali, Video: Moritz Grewenig, Licht: Michael Gööck, Dramaturgie: Janine Ortiz, Dramaturgische Mitarbeit: Nora Otte.
Mit: André Kaczmarczyk, Christian Erdmann, Yohanna Schwertfeger, Holger Hübner, Rosa Enskat, Cathleen Baumann, Lieke Hoppe, Jan Maak, Kilian Land, Rainer Philippi, Philipp Lux.
Dauer: 4 Stunden, zwei Pausen

www.staatsschauspiel-dresden.de



Kritikenrundschau

Eine "dramatisch gelungene Form mit viel Witz und Komik" habe Matthias Hartmann mit seinem Ensemble dem Dostojewski-Roman abgewonnen, berichtet Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (18.1.2016). Von der "Magie" dieses "großen" Abends schwärmt der Kritiker förmlich: "Eine Inszenierung von zauberhafter Leichtigkeit, unendlich heiter und unsagbar traurig. Ganz aufs Wort gestellt, mit Mut zu langen Monologen." Minimaler Einwand: "Die Aufführung verliert nach der zweiten Pause an Tempo und Intensität."

Ein „respektabler Anwärter für die Ehrengalerie im Dostojewski-Museum“ ist diese Inszenierung für Wieland Schwanbeck von den Dresdner Neuesten Nachrichten (18.1.2016). "Hartmanns Methode, die Darsteller sowohl zu Akteuren wie auch Erzählern und Kommentatoren ihres eigenen Schicksals zu machen, bürdet den Schauspielern neben vielem anderen auch eine kaum überwindliche Distanz zur eigenen Rolle auf, die eigentlich nur mit Humor zu kompensieren ist." Es sei mithin ein Abend für die "Komödianten" im Ensemble; nach der Pause "schält sich aus dem unterhaltsamen Reigen ein mitreißendes, immer bissigeres kleines Theaterinferno", bei dem den Kritiker bald nur die kommentierenden Musikeinspielen stören.

Eine "famose Leistung des Ensembles" verzeichnet die Kritik unter dem Kürzel gg in der Dresdner Morgenpost (18.1.2016). "Die Darsteller erzählen ihre Rollen, als würden sie aus dem Roman lesen, und sie spielen sie im steten Wechsel der Ebenen. Sie behaupten, mit ihren Figuren identisch zu sein, und nehmen doch Abstand von ihnen. Das ist allerfeinstes Regiehandwerk."

"Der Abend, der trotz seiner vier Stunden und zwei Pausen nie langatmig wird, ist erfrischend, weil sich die Schauspieler mit Wortwitz entfalten dürfen. Spektakulär ist diese Inszenierung nicht, aber sehenswert", so resümiert Gabriele Fleischer in der Freien Presse (online 17.1.2016).

"Episches Theater also, doch ohne politisch-pädagogische Dialektik wie bei Brecht, sondern von großer komödiantischer Theatralik" hat Bernhard Doppler für den Standard (18.1.2016) in Dresden erlebt. "Hartmann versteht es sehr geschickt, die Dresdner Schauspieler zu beeindruckender Spiellust zu verführen." Dostojewskis "schwerer, mit Religionsfragen ringender Romanwälzer“ werde bei Hartmann „locker-leichtes, niveauvolles Theateramüsement – mehr nicht. Warum auch nicht."

"Die straff erzählte, geschickt kompilierte Roman-Adaption ist für Dostojewski-Verhältnisse erstaunlich unterhaltsam. Die dem Boulevard nicht abgeneigte Regie mag es klar und übersichtlich. Von den Fieberzuständen der Romanvorlage ist sie jedenfalls weit entfernt." So berichtet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (online 17.1.2016). Hartmann inszeniere eine Beziehungskomödie. "Dafür, dass es sich bei Dostojewskis Roman um ein literarisches Kunstwerk mit eigener Formsprache handelt, interessiert sich diese Oberflächenregie ebenso wenig wie für den metaphysischen Thriller."

 

Kommentare  
Idiot, Dresden: langweilig
Das war einfach nur langweilig. Mehr als vier Stunden aufgesagte Texte, mal mit Ironie, ironischer Distanz gespickt. Warum man diesen Roman grad in Dresden mit diesen Mitteln der Monotonie erzählen mag, weiß wohl niemand, die Hälfte des Saals schlief, verschwand in der Pause. Öde bis dumm war's.
Idiot, Dresden: kurzweilig
Also ich weiß ja nicht, wo der obige Zuschauer war aber ich bin aus einem vollen Zuschauerraum am Ende der Vorstellung gegangen und das nach reichlich Applaus. Langeweile ist anders. 4 Stunden hätten deutlich schlimmer verbracht werden können. Ich stimme der Kritik zu: nicht besonders kritisch aber auf alle Fälle interessan und kurz-statt langweilig
Idiot, Dresden: toller Schauspielerabend
Entschuldigung, man kann ja eine Meinung zu diesem Abend haben, aber dass die Hälfte des Publikums schlief und/oder in einer der beiden Pausen verschwand, das ist eine Beobachtung, die wohl nur Ihre subjektive Kritik des Abends unterstreichen soll. Ich habe in weiten Teilen Zuschauer erlebt,die - wie auch die Kritik beschreibt - konzentriert zuhörte. Auch der Schlussapplaus war ein deutliches Zeichen der Zustimmung.
Unterstreichen würde ich allerdings auch, dass die Motivation, dieses Stück gerade jetzt zu spielen, nicht ganz klar wird.
Dennoch: ein toller Schauspielerabend!
Idiot, Dresden: stellenweise sehr lustig
Ich war zur Vorpremiere und fands toll, kurzweilig und stellenweise sehr lustig.
Idiot, Dresden: nicht die Tagesschau
Der Saal war voll bis zum Ende um dreiviertel 12, es wurde heftig und lange applaudiert, neben den Schauspieler*innen wurde auch Hartmann gefeiert.
Ich fand es richtig gut, vor allem handwerklich von allen Beteiligten, und ich weiß auch nicht, warum ein Stück immer mit aktuellster Motivation und "gerade jetzt" gespielt werden muss. Das Theater ist ja nicht die Tagesschau.
Der Idiot, Dresden: toller Abend
Ich war auch zur Vorpremiere und es war ein toller Abend. Allenfalls gegen Ende wurde es etwas lang und wirkte nicht mehr ganz so durchgearbeitet, wie der erste Teil. Wahrscheinlich ging die Probenzeit zu Ende.
Idiot, Dresden: Das ist gut!
Ha !Wahrscheinlich ging die Probenzeit zu Ende . Das ist gut!!!
Der Idiot, Dresden: kein Anbiedern
Stimme den lobenden Kommentaren zu. Ein Theater ist ein Theater und muß nicht immer nur auf aktuelle politische Fragen eingehen. Der "normale" Theatergänger ist klug genug, sich auf jedes Stück seinen Reim zu machen. Das Anbiedern an Mainstreamthemen hat mich in letzter Zeit in Dresden eher gestört.
Ich habe das Agieren der Schauspieler genossen. Nur Herrn Erdmann finde ich nicht so gut, seine Mittel scheinen mir nicht besonders variabel zu sein.
Der Idiot, Hamburg: boulevardesk und gelungen
Hartmanns boulevardesker Idiot
Das Düsseldorfer Schauspielhaus (Koproduktion Dresden) zeigte auf dem Hamburger Theaterfestival M. Hartmanns Inszenierung des Idioten nach F.J. Dostojewski. Der Roman „Der Idiot“ ist die Story des Fürsten Myschkin, der für ca. ein halbes Jahr sein Schweizer Sanatorium verlässt und in die Petersburger Gesellschaft zurück kehrt um Erbschaftsangelegenheiten zu erledigen. In seiner naiven, schüchternen, unkonventionellen Art begegnet er den Menschen in ihren persönlichen und sozialen Spannungen und Widersprüchen und ihrem daraus resultierenden Leid. Er scheitert in seinen Bemühungen, ihnen zu helfen, und versinkt wieder in seinen Zustand der geistigen Isolation. Hartmann beginnt seine Inszenierung mit einem Monolog Myschkins (André Kaczmarczyk) vor hohen, trostlos grauen Wänden einer schmalen Bühne. Myschkin beschreibt einen epileptischen Anfall, den er nicht nur als Qual, sondern auch als intensivstes Selbstempfinden und Harmonie erlebt. André Kaczmarczyk verkörpert diese Gegensäte von Leid und Glück überzeugend durch Mimik und Gestik und man erahnt bereits, dass er an diesem Abend weitere Glanz- und Höhepunkte des Abends liefern wird. Hartmann lässt die Schauspieler*innen sowohl als Erzähler und Akteure agieren und verschafft dieser Inszenierung somit einen ganz eigenen Charakter. Die Schauspieler*innen sind durch das Agieren mit ihren Figuren identisch und nehmen durch das Erzählen ihrer Aktionen, Abstand von ihren Figuren. Mit enormer körperlicher Intensität und beeindruckender Gestik bringen die Schauspieler*innen ihre Figuren auf die Bühne. Rosa Enskat beindruckt, wie sie Lisaweta spielt und zugleich charakterisiert und ironisiert, ohne sie zu verraten. Weiterhin beeindrucken insbesondere Cathleen Baumann, Christian Erdmann und Thomas Wittmann. Hier wird bereits deutlich welches Potential in der Methode des kommentierenden Erzählens und wechselseitigem Agieren liegt und welches Tor für komödiantische Leichtigkeit aufgestoßen wird. Die Inszenierung beginnt erzählend und gewinnt im Laufe des Abends immer mehr an dramatischem Spiel. Beeindruckend ist, wie dieser Dostojewskij leichtfüßig, als boulevardeskes Konversationsstück mit Witz und Ironie daherkommt und erst im Laufe des Abends immer mehr an Dramatik gewinnt. Von Dostojewskis um Religionsfragen kämpfenden Roman ist wenig in Hartmanns Inszenierung zu finden. Erst nach der Pause entwickelt sich aus dem unterhaltsamen Reigen ein bissiges, destruktives Theaterinferno. Im zweiten Teil hat André Kaczmarczyk weitere Glanzpunkte, als der in sich gekehrte Myschkin, der seinen Mitmenschen ohne Arg und Intrigenlust und mit ehrlicher Bescheidenheit begegnet. Myschkin ist der „Gutmensch“, der seinen Mitmenschen helfen möchte, aber in diesem Unterfangen scheitert. Diesem Fürsten können die anderen Personen, die dem Geld und dem durch Abstammung oder Funktion bestimmtem Status nachjagen, nur abwehrend als Sonderling und Idioten betrachten. So bleibt Myschkin letztendlich nur die Rückkehr in die Isolation, da die ihn umgebenden Menschen, aus ihrer Egozentrik heraus, nicht begreifen konnten. Ein boulevardesker Dostojewskij, der eine neue interessante Sichtweise auf diesen Roman eröffnete und in meinen Augen ein gelungenes Wagnis ist.
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