Showdown auf dem Polizeirevier

von Martin Pesl

Wien, 28. Januar 2016. War er's oder nicht? Voilà, ein Kriminalstück! Im Akademietheater! Mit Sätzen aus Polizeiserien: "Sie haben kein Recht, mich hier festzuhalten!" oder "Diese Geschichte von Ihnen ... die geht nicht auf." Theaterfremde Sehgewohnheiten schlagen ein. Da hat ein Polizist einen Verdächtigen zu Tode geprügelt: einen mutmaßlichen Kinderschänder. Die Geschehnisse werden aufgerollt. Spannend! Aber dann auch wieder nicht. "Diese Geschichte von Ihnen" verunsichert schon dadurch, dass nicht klar ist, mit welcher Brille sie gesehen werden will.

Auf "James Bond" folgt der Bühnen-Krimi

Jedenfalls handelt es sich um einen Breth-Abend und somit um ein Figurenpsychogramm. In den ersten zwei Bildern wird der Vorfall besprochen, das dritte zeigt ihn in der Rückblende. Der Autor John Hopkins war ein Mann des Films. 1968 schrieb er nach TV- und Kino-Scripts (unter anderem für einen James Bond) mit "This Story of Yours" erstmals ein Bühnenstück. Sein Text besteht wie ein Drehbuch aus unzähligen Regieanweisungen und nicht fertig ausgesprochenen Gedanken.

An dessen deutschsprachige Erstaufführung erinnerte sich Andrea Breth noch lebhaft, als sie beschloss, nach dem "Hamlet" für August Diehl einem weiteren ihrer Lieblingsburgschauspieler ein sicheres Vehikel zu Ruhm und Lob zu schenken – im Gegenzug für härteste, physische Arbeit freilich. Nicholas Ofczarek muss drei Stunden lang Leid demonstrieren: Er schwitzt, stolpert, rotzt, prügelt, spricht und spielt klein und doch hörbar und zeigt eindringlich, wie sein Sergeant Johnson unter dem Druck von 20 Jahren widrigen Polizeialltags die Nerven verliert. Ohne Zweifel nutzt Ofczarek, der in Wien das Prädikat "Publikumsliebling" trägt, sehr eindrucksvoll die Gelegenheit, nach ein paar komödiantisch polternden Säuferrollen wieder ernst zu werden (durchaus weiterhin alkoholisch).

DieseGeschichte2 560 BerndUhlig uNoch qualmt er ein wenig, bald wird er Dampf ablassen: Der Polizist Johnson (Nicholas Ofczarek) verhört den mutmaßlichen Kinderschänder Baxter (August Diehl) © Bernd Uhlig

Umso mehr, da jedes der drei Bilder ihn mit einem neuen Dialogpartner konfrontiert wie mit einem Gegner im Boxring. Es beginnt daheim in Johnsons Wohnzimmer. Hier erinnert Martin Zehetgrubers Möblage mit schmerzhaft biederen Brauntönen daran, dass das Stück ein halbes Jahrhundert alt ist. Verschärfend kommen eine Armee an Porzellanfiguren und Johnsons Frau Maureen in blauem Bademantel und Lockenwicklern hinzu. Andrea Clausen gibt sich zurückhaltend und bleibt dadurch etwas blass. Roland Koch hingegen übernimmt im zweiten Bild schauspielerisch das Ruder. Als Chefinspektor betont er, dass er mit dem Vorfall ja nichts zu tun hat und einfach nur die Fakten prüfen will. Damit gibt er dem längst aus der Sachlichkeit gerutschten Johnson den Rest. Ein ältlicher Bürokollege (stumm, aber bedeutungsvoll: Benjamin Cabuk) kann nur hilflos zusehen.

Verhörduelle mit Kampfkunsteinlagen

Erst nach zwei Stunden und einer Pause kriegt das Publikum seinen anderen Liebling zu sehen: August Diehl ist Kenneth Baxter, der Verhörte, der die Wunden des sich ohnehin schon danebenbenehmenden Polizisten erkennt und so lange in ihnen herumstochert, bis dessen Schläge tödlich werden (hier hatte der Kampfchoreograf am meisten zu tun). Diehl schafft es, Defensive mit Sadismus zu kombinieren, und wird so zu Ofczareks ebenbürtigem Gegenspieler in diesem seltsam antizipierten Showdown.

Die Frage, ob Baxter nun schuldig ist, lassen er und Breth aber offen (bei Hopkins ist relativ klar, dass nicht). Auch bei diesem Stoff lässt Andrea Breth das Theater nicht aus seiner Verantwortung als moralische Anstalt: Falls er's war, wären wir dann versucht, Johnsons Handeln eher zu billigen, zumal wir schon vielfach gehört haben, dass ihm sein toter Vater, seine unsexy Gattin und ein grausiger Beruf schwer zu schaffen machen?

Auflösung gibt's jedenfalls keine, auch nicht für das kleine Zusatzrätsel des Bühnenbildners: Was will er damit sagen, dass auf der Polizeiwache offensichtlich gerade Bauarbeiten im Gange sind, die Böden mit Pappe beklebt, die Scheiben durch Folie ersetzt sind? So bleibt man – ohrenbetäubendem Publikums-Jubel zum Trotz – dann doch etwas unbefriedigt zurück. Man hat detailgenau gearbeitetes Schauspiel gesehen, wurde auch angestoßen, über Polizeigewalt nachzudenken. Allerdings hat die hier mit aktuellen Fällen wie etwa aus den USA nur sehr am Rande zu tun. Diese Geschichte mit dem als Polizeifilm getarnten Well-Made-Psycho-Kammerspiel auf der großen Bühne ... die geht nicht so recht auf.

 

Diese Geschichte von Ihnen
von John Hopkins
Deutsch von Michael Eberth
Regie: Andrea Breth, Bühne: Martin Zehetgruber, Kostüme: Moidele Bickel, Musik: Bert Wrede, Licht: Friedrich Rom, Kampfchoreografie: Martin Woldan, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Benjamin Cabuk, Andrea Clausen, August Diehl, Roland Koch, Nicholas Ofczarek.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

"Ein Stück, das in Küchenpsychologie badet und mit Gewaltszenen provoziert, die einem heutigen Publikum, das ganz anderes gewohnt ist als heftiges Theatergeschubse, harmlos vorkommen müssen. Wie kann das heute noch funktionieren?", fragt Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen (30.1.2016). Es funktioniere "vor allem, weil vier grandiose Schauspieler (...) diesen Abend zu einem Theaterereignis machen, das man lange nicht vergessen wird." Andrea Breth gelinge "eine Inszenierung, die wie aus der Zeit gefallen wirkt mit ihrer ruhigen Konzentration auf die Figuren und ihre Konflikte". Ofczarek etwa spiele virtuos den Polizisten, "der den Vergewaltiger beneidet, weil der erlebt, was er selbst sich nur vorzustellen traut. Ofczareks explodierende Gewaltbereitschaft, seine Weinerlichkeit und schmierige Jovialität treffen im dritten Akt auf August Diehls brillante Verkörperung von Baxter, der genießt, was er erleidet."

Andrea Breth zeige an diesem Abend, "was Theater – im ureigenen Sinn – kann", schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (30.1.2016). "Und zwar: Vorgänge durchleuchten, Gewissheiten hinterfragen, Abgründe öffnen. Was wissen wir schon von anderen Menschen, was von uns selbst? Die Figuren auf der Bühne führen es vor: kaum etwas. Aber sie lassen uns teilhaben an der unwillentlichen Erforschung ihres Ichs, die statt der Lösung des Falls anderes zutage fördert." Wenn Andrea Breth Hopkins' Stück inszeniere, "geht sie zur Sache wie ein Meisterdetektiv: unvoreingenommen." Indem sie den Text auskultiere, verschaffe sie "jedem Detail seinen Platz". Im Stück heiße es einmal auf die Frage "Täter oder Opfer?": "Es ist kompliziert." Bei Andrea Breth werde "das Komplizierte evident. Mehr verlangt niemand vom Theater."

Andrea Breth habe "zu keinem Augenblick in den Text eingegriffen. Ihr Theater wertet nicht, schmäht niemanden, bläht sich nicht besserwisserisch auf", meint Ronald Pohl im Standard (30.1.2015). Begeistert äußert sich Pohl vor allem über den "kontrolliert rasenden Berserker Nicholas Ofczarek". Sein Polizist sei "ein naher Verwandter des großen Ajas, des rasenden, nicht zu befriedenden Kriegers aus der Tragödie des Sophokles." Breth habe "den Kriegsschauplatz der Seele mit äußerster Geduld bis in die letzte Ritze hinein ausgeleuchtet. Ihre Inszenierung von 'Diese Geschichte von Ihnen' ist das Geniewerk einer völlig konkurrenzlosen, auf keinerlei 'Sensation' schielenden Choreografin von Leid, Elend und Unverstand."

Der Brite John Hopkins habe "mit seinem Debüt-Drama 1968 eine magnetische Mischung aus Thriller und Psychostudie geschaffen", schreibt Norbert Mayer in der Presse (30.1.2016). Und Andrea Breth habe "das auf einer Bühne Mögliche aus diesem Seelendrama herausgeholt – ein Crescendo, mit Ofczarek stets im Mittelpunkt. Er vollbringt eine gewaltige Leistung, auch physisch. Drei Stunden arbeitet er sich mit wachsender Intensität an je einem Partner ab – bis zur Schmerzgrenze." Das Finale sei "eine Folge von Verdrängung und Gewalt, in der sich zwei Stars [neben Ofczarek noch August Diehl] zu außerordentlichen Leistungen peitschen. Besser geht es fast nicht."

Breth verweigere dem Stück "jede Schnelligkeit und letztlich auch die Krimispannung", sagt Hartmut Krug auf Deutschlandfunk (Zugriff 30.1.2016). Sie male "vor allem die Haltungen und die Psychologien der Figuren präzise und langwierig aus, wodurch allerdings die über dreistündige Inszenierung immer mal wieder so redundant wie bedeutungsvoll durchhängt. Anstelle einer kriminalistischen Spannung" entdecke Breth "vor allem das bewegte existenzielle Seelendrama. Das aber nur funktioniert, weil sie außergewöhnliche Schauspieler zur Verfügung hat." Nicholas Ofczarek etwa. Es sei überragend, wie er "so massig wie kräftig, so gewalttätig aufbrausend wie in sich zusammenfallend, so selbstbewusst wie verzweifelt als Sergeant Johnson" agiere.

"Man spürt die handwerkliche Verschworenheit, das mannschaftliche Einverständnis der Schauspieler – ihren Ehrgeiz, die Entstehung und Ausbreitung von Gewalt anschaulich zu machen", beschreibt Peter Kümmel in der Zeit (4.2.2016) den Abend. Vor allem Nicholas Ofczarek und August Diehl glaube man "jederzeit, dass sie viel aufs Spiel setzen; man glaubt ihnen aber nicht unbedingt, was sie spielen". Andrea Breth habe ein vergessenes Gebrauchstheaterstück gehoben, um mit dessen Figuren den menschlichen Hunger nach Anerkennung  und Vergeltung zu erforschen. "Vielleicht glaubt  man nicht alles, was auf  der Bühne behauptet  wird – aber wie es behauptet wird, ist sehenswert und fesselnd."

 

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