Wir nennen es Oper

von Sabine Leucht

München, 29. Januar 2016. Das temporäre "Opernhaus" der Münchner Kammerspiele hat seine erste Premiere in die kleinste von drei möglichen Spielstätten gepresst. Das Orchester und die riesigen Chöre, ja der ganze Bombast von Vincenzo Bellinis 1831 uraufgeführter Oper "La Sonnambula", werden in der Kammer 3 von mehreren Tasteninstrumenten respektive Zuspielungen vertrieben.

Jedem das, was er kann

Eine Schallplatte dreht sich in einem mit trockenheitsresistenten Pflanzen möblierten Glashaus, in dem auch Yuka Yanagiharas Amina sitzt und ihre erste Arie offenbar noch üben muss. Man muss schon genau hinschauen, um zu sehen, ob die aus ihrem eigenen Mund kommt oder von der Stimme aus dem Off. Faktisch überlappen sich beide Quellen, wobei die Live-Sängerin einige Höhen und Koloraturen der Konserve überlässt. Doch ob sie das wirklich gemusst hätte, ist im weiteren Verlauf des Abends fraglich. Zwar ist die Japanerin kein Belcanto-Star à la Maria Callas oder Edita Gruberova. Doch was nicht geht, kann man hier ganz leicht lassen. Denn das demokratisch-humanistische Prinzip, das sich in zu vielen bisherigen Inszenierungen der noch jungen Ära Lilienthal darin erschöpft, dass einzelne Schauspieler etwas nicht können und die anderen es aus Solidarität oder Understatement auch nicht mehr versuchen, geht hier erstmals auf.

Aus der Art, wie Hassan Akkouch sein "Prendi!" in der Verlobungsszene zerdehnt, spricht nicht die sonst ortbare Wurstigkeit. David Marton setzt seine im Ganzen sechs (!) Darsteller/Musiker schlicht so ein, dass jeder genau das macht, was er kann. Und aus dem, was er nicht kann, dreht ihm der Regisseur eine Szene: Einmal singt Akkouch als Elvino mit so dünnem Stimmchen, dass ihm Jelena Kuljić mehrfach ein Glas Wasser reicht. Und sie rückt ihm dabei so offensiv auf die Pelle, dass darin schon alle Aspekte der Sehnsucht stecken, die ihre Lisa auf den Jungen wirft, der eben im Begriff ist sich mit Amina zu verloben.

LaSonnambula1 560 Christian Friedlaender uWer im Glashaus sitzt, sollte mit leisen Tönen um sich werfen: Paul Brody, Jelena Kuljić, Yuka Yanagihara, Hassan Akkouch, Michael Wilhelmi, Daniel Dorsch © Christian Friedländer

Die romantische Geschichte von der großen Liebe, die der Ausflug der schlafwandelnden Schönen ins Bett eines Bewunderers zerstört, bis sie ein zweiter Ausflug wieder kitten kann, lässt Marton im Wesentlichen auch so ablaufen. Er wirft ihr aber ein paar abstruse Theoriebausteine zwischen die Beine, in denen es um die Braut als Motor, in Abwandlung von Deleuze/Guattari um eine "Junggesellenmaschine", das "Magnetoverlangen" oder körperliche "Demultiplikation" geht.

Michael Wilhelmi verfertigt die ersten dieser Bausteine noch vor dem Aufgang des vorderen von zwei in Volants gelegten Glitzervorhängen und umhüllt sie stets mit den Worten "Wo waren wir stehen geblieben?" und "Das muss ich weiterentwickeln". Ansonsten bedient und traktiert Wilhelmi den Flügel oder andere Tasten – bis hin zu denen des Spielgerätes, das zuweilen das Grundgedudel für eine der famosen Jazznummern von Kuljić und sogar für Aminas Arien gibt. Das passt erstaunlich gut zusammen und ist auch deshalb staunenswert, weil der Ursound immer durchklingt – bis auf eine Chopin-Improvisation ist hier alles im Grunde Bellini.

Mix it like Marthaler

Marton, der ja schon lange am liebsten an unpassenden Orten scheinbar festzementierte Gefüge dekonstruiert und alle möglichen Musikstile miteinander und mit Schauspiel sampelt, hat hier einen bis in die kleinsten Bewegungen hinein musikalischen Abend geschaffen. Etwas marthalerisch kommt er daher, wenn Daniel Dorsch anfangs selbstversunken sogar den Staub auf dem Boden dirigiert. Oder wenn die ganze Gesellschaft sich seitwärtsruckelnd hinter ein fransiges Loch in der Bühnenrückwand schiebt und synchron die Köpfe reckt, um die vermeintlich brüskierte Amina zu sehen. Deren Somnambulismus ist so verhalten inszeniert, dass man ihr Auftauchen im falschen Bett auch als Ausweichbewegung vor der sich anpirschenden Realität der Liebe in den immerwährenden Traum von ihren Möglichkeitsformen deuten kann. Zumal sie den Rodolfo Paul Brodys, der seine Gesangspartien ganz seiner Trompete überlässt, weit interessierter fixiert als er sie.

Martons Inszenierung reißt Assoziationsräume auf und bläst Luft in die pausenlosen Melodien der "Sonnambula". Und Sprache. Musik, ob rein instrumental, leise geraunt oder geflüstert, operntauglich schön oder leidenschaftlich geröhrt, ist hier ein Kommunikationsmittel unter anderen, das sich jeder für sich und mit seinen Fähigkeiten erobern darf. Sie lässt sich in heterogenen Schichten übereinanderlegen oder der Geliebten von den Lippen küssen und geht auch durch ein paar falsche Töne nicht kaputt. Die Hybris, mit der Matthias Lilienthal bei seinem Amtsantritt den großen Institutionen der Klassik-Metropole mit seinem "Opernhaus" Konkurrenz androhte, ist hiermit vergessen. Der Abend ist zartes, raues und kluges Theater. Und hat – so der Eindruck nach der Premiere – auch einigen Opernkennern ein Lächeln entlockt.

 

La Sonnambula
Nach der Oper in zwei Akten von Vincenzo Bellini und Felice Romani
Regie: David Marton, Musikalische Bearbeitung: Ensemble, Bühne: Christian Friedländer, Kostüme: Pola Kardum, Licht: Arndt Rössler, Dramaturgie: Barbara Engelhardt, Katinka Deecke.
Mit: Hassan Akkouch, Paul Brody, Daniel Dorsch, Jelena Kuljić, Michael Wilhelmi, Yuka Yanagihara.
Dauer: 1 Stunde, 45 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

  

Kritikenrundschau

"Die Münchner Kammerspiele haben ihre erste rundum gelungene Inszenierung herausgebracht, seit Matthias Lilienthal dort Intendant ist", lobt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (31.1.2016). Obwohl er sich "offenbar nicht entscheiden (kann), was er machen will, Oper oder Schauspiel", gelingt ihm die Neu-Interpretation von Bellinis "Sonnambula". Das liegt vor allem an den Schauspielern. Unter anderem an der japanischen Sopranistin "Yuka Yanagihara, die fabelhaft Aminas Arien singt," und an dem Trompeter Paul Brody, "der hier als sehr britisch anmutender Rodolfo herumirrlichtert und alles, was seine Figur sänge, mit der Trompete spielt." Zweierlei Dinge sind laut Tholl an dieser Inszenierung großartig: "Erstens, wie Marton im plastischen, dreidimensionalen Opernlicht von Arndt Rössler die Figuren und ihre Träume miteinander verbindet, jede Konstellation, jedes Handeln in Wehmut und Sehnsucht plausibel macht (..) und zweitens: die Musik." Sein Fazit: "Vielleicht werden die (Münchner Kammerspiele) so immerhin das beste kleinste Opernhaus der Stadt."

Malve Gradinger findet in der OVB (1.2.2016), das in David Martons "Sonnambula" "unendlich viel – liebevolle! – Arbeit" steckt. "Hinreißendes Musiktheater: intelligent, humorvoll, poetisch – und musikalisch nie oberflächlich", schreibt sie. "Gestern und jetzt, das ist bei Marton nicht weit voneinander entfernt."Nach dieser Kreation sei man schon gespannt, was Marton demnächst mit Mozarts "Die Hochzeit des Figaro" vorhabe. So jedenfalls hat das neue "Opernhaus" der Kammerspiele Zukunft, mutmaßt Gradinger.

Robert Braunmüller beginnt seine Besprechung in der Abendzeitung (31.1.2016) mit einer Finte: "Der Abend ist überflüssig. Weder 'Mein Kampf', noch die Flüchtlingsfrage oder sonst eine hochwichtige politische Aktualität werden hier verhandelt." Eigentlich findet nämlich auch Braunmüller: "Endlich ist der Knoten an den Kammerspielen geplatzt." Mit einem Satz des Bildhauers Auguste Rodin sagt er: "Schöner als eine schöne Sache ist die Ruine einer schönen Sache" und lobt Martons "charmante Dekonstruktion" der "Sonnambula".

"Wir sehen einen Aufwand, den wir mit bloßem Ohr nicht hören können, ahnen die Tüftelei hinter dem Auf- und Abschwellen, das Aufziehen und Abschnurren auf dem Grund des Fließens", schreibt Patrick Bahners in der FAZ (3.2.2015). "Das Wunder dieses Abends" sei, "dass die Musik das Drama hervorbringt, indem sie sich im Kreis dreht, wie die Platte auf dem Teller".

Für Annette Walter funktioniert es in der taz (3.2.2016) "wunderbar", "wie Marton die tragische Geschichte mal poetisch, mal überdreht inszeniert und so eine kurzweilige Antithese zum Perfektionismus der Opernwelt erschafft".

Martons "Somnambula" "tupfte eine Oper hin wie ein bescheidenes Aquarellbild", wird Jan Küveler in der Welt (3.2.2016) poetisch: "Und aus allen Weißräumen, allen wie zufälligen Verläufen entstand ein Zauber, der im Kanon am Ende komplett wurde. Ein großartiger Abend, der von dem Gebirge, in dem er spielte, nichts wissen wollte und in einen leichten Himmel aufflog."

 

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