Und ewig buckelt der Kötermensch

von Sascha Westphal

Wesel, 29. Januar 2016. Das Wasser, das der kleinen norwegischen Küstenstadt Karlskrona Sicherheit und Wohlstand bringen soll, ist verseucht. Fäulnisbakterien sickern durch die Erde in die Leitungen und vergiften, was eigentlich heilen soll. Nur ist die Bedrohung unsichtbar und damit eben auch leicht zu leugnen. Aber es ist längst nicht nur das Wasser, das seine Reinheit verloren hat. Auch die Wahrheit, auf die der Badearzt Doktor Thomas Stockmann mit so großer Vehemenz pocht, erweist sich schon bald als ein ganz leicht zu trübendes Gut. Was zunächst noch klar und unbestreitbar erscheint, kann einen Augenblick später schon keinen Bestand mehr haben.

Thomas Stockmann kann die Wahrheit über die Heilquelle und damit auch über seine Stadt zwar für sich beanspruchen. Aber in einer Welt, in der jeder seine eigenen Interessen hat, gibt es nichts Absolutes mehr. Selbst Fakten lassen sich unterschiedlich interpretieren, gerade wie es jedem Einzelnen passt, und so wird aus der Wahrheit schnell nur eine weitere Meinung in einem disparaten Chor von Ansichten und Standpunkten. Recht hat, wer die Interessen der Menge bedient.

Stockmanns Hasstirade

Auch in Moritz Peters' bewundernswert sachlicher Inszenierung von Rainer Erlers Neufassung des "Volksfeinds" kommt der Moment, in dem sich der Badearzt vergisst. Zlatko Maltar, der Thomas Stockmann bis dahin als idealistischen Mann porträtiert hat, verrennt sich in seiner Enttäuschung und Wut und verfällt in eine wahre Hasstirade, die es so in Erlers Fassung gar nicht gibt. Er, der Mann der Wissenschaft, die für ihn immer ein Garant der Wahrheit war, handelt nun nach dem gleichen Muster wie seine Gegenspieler. Er benutzt die Erkenntnisse und Forschungen der Naturwissenschaft für eine mehr als zweifelhafte Analogie. Wenn er die Menschen wie Hunde betrachtet und sie in zwei Kategorien, die "Rassemenschen" und die "Kötermenschen" einteilt, dann erliegt er wie alle anderen, sein Bruder Thorsten, der Journalist Hovstadt und der Verleger Björnson, der Versuchung, Meinung und Wahrheit gleichzusetzen.Volksfeind3 560 Martin Buettner uMenschen aus Karlskrona, die ihre Wahrheit für sich gepachtet haben © Martin Büttner

So bekommt die berühmt-berüchtigte Szene in dieser Produktion des kleinsten nordrhein-westfälischen Landestheaters, das im November vergangenen Jahres nach der Ankündigung des Landkreises Wesel, sich aus dem Landestheater-Verein komplett zurückzuziehen, vor dem Aus stand und auch heute noch nicht mit absoluter Sicherheit gerettet ist, eine andere Bedeutung. Sie erzählt nicht mehr nur von der Radikalisierung eines Schwärmers, sondern verweist auf die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Wahrheit und Politik. In dem Moment, in dem der Arzt und Wissenschaftler mit seinen Erkenntnissen an die Öffentlichkeit geht, wird er zum Politiker.

Wer kontrolliert hier wen?

Ausgehend von Hannah Arendts Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Politik und Michel Foucaults Idee der Parrhesia verdichtet Moritz Peters Ibsens Abrechnung mit der bürgerlichen Gesellschaft zu einem philosophischen Diskurs. Oft steht sein Ensemble auf Jörg Zysiks Bühne – sie erinnert an eine Welle, die gleich alle unter sich begraben wird – nahe der Rampe und spricht direkt ins Publikum. Hier ist jeder eine Insel, und jeder hat die Wahrheit für sich gepachtet.

Nur wenn Thomas Stockmann mal wieder zu sehr auf seinem Standpunkt beharrt, erwacht Christoph Bahrs Thorsten aus seiner inneren wie äußeren Erstarrung. Die Entrüstung scheint in diesen Momenten seine Glieder und Gesichtszüge zu lockern, aus dem Abziehbild eines gewieften politischen Taktikers wird ein Mensch, der auch mal die Kontrolle verlieren kann. Das Bild, das die Stützen der Gesellschaft von Karlskrona nach Außen hin projizieren wollen, hat sich ihrer bemächtigt. Also schleicht Carlo Sohns Björnson ständig katzbuckelnd und intrigierend über die Bühne, ohne je zur Karikatur zu werden. Alle sind sie Opfer der Verhältnisse, die sie glauben, zu kontrollieren, von denen sie in Wirklichkeit aber kontrolliert werden.

Getrübte Wahrheiten

Zwischen den Szenen fallen die Protagonisten immer wieder aus ihren Rollen und treten an die an den Seiten der Bühne stehenden Mikrophone. Das Drama weicht dann der Reflexion. Das Stück bekommt eine zweite Ebene. Ein wunderbar gedankenklarer Dialog zwischen Spiel und Diskurs entwickelt sich. Peters stellt komplexe philosophische Fragen auf eine pragmatische, leicht zugängliche Weise zur Diskussion. Natürlich lässt sich der Konflikt zwischen Politik und Wahrheit nicht lösen: Am Ende bleibt alles offen. Aber zumindest hört Thomas Stockmann auf zu reden und beginnt zu handeln. Er tropft eine chemische Substanz in ein Gefäß mit Wasser, das sich daraufhin violett verfärbt. Eine Trübung, aber auch ein erster Schritt zu einer neuen Klarheit.

 

Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen
in einer Neufassung von Rainer Erler
Regie: Moritz Peters, Bühne und Kostüme: Jörg Zysik, Dramaturgie: Nadja Blank.
Mit: Zlatko Maltar, Christoph Bahr, Lara Christine Schmidt, Thomas Hatzmann, Arno Kempf, Carlo Sohn.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.burghofbuehne-dinslaken.de

 

Kritikenrundschau

Gastregisseur Moritz Peters inszeniere das Stück über Fakten und Meinungen, Interessen, Macht und Geld als "politisch-philosophische Debatte", schreibt Bettina Schack auf rp-online (1.2.2016). Per Loop-Technik werde in Peters Inszenierung, "die sich durch formale Klarheit und Konzentration auf den Text auszeichnet, aus der Hetze des Bürgermeisters Volkes Stimme". Die dickste Kröte, die man an diesem überzeugenden, engagierten Theaterabend schlucken müsse, sei der Hintergrund des "Volksfeind" selbst: "Die essayistische Neufassung stammt von Rainer Erler, die scheinbar so tagesaktuelle Handlung und die Aussage dahinter schrieb Henrik Ibsen 1882. Es ist eine alte Geschichte und immer wieder neu."

 

Kommentare  
Ein Volksfeind, Dinslaken: Kritik?
tolle Zusammenfassung. wo ist die Kritik?
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