The Fairy Queen - Calixto Bieito inszeniert Henry Purcells Semi-Oper kostümbunt in Stuttgart
Hirschgeweih auf der Dornenkrone
von Verena Großkreutz
Stuttgart, 31. Januar 2016. Ausziehen, anziehen, umziehen! Männer rein in die Frauenklamotten: Stilettos, Perücken, Röcke. Frauen raus aus denselben bis auf die Unterwäsche. Dann alle rein ins Tier-Outfit, ob Fuchs, Wolf oder Vogel. Hirschgeweih aufgesetzt! Eine Affenhorde stürmt die Bühne. Hauptsache animalisch. So ist sie halt, die Sexualität. Calixto Bieito inszeniert am Stuttgarter Schauspielhaus Henry Purcells Semi-Oper "The Fairy Queen" von 1692 – frei nach Shakespeares "Sommernachtstraum" – als ein grell-buntes, schön obszönes Musical-Theater – wie es seine Art ist. Fröhlich werden Kostüme und damit Identitäten gewechselt. Wer ist wer? Wer treibt's mit wem? Wer hat die reizendste Unterwäsche und wer den schönsten Arsch? Egal. Sie küssen sich, jeder jeden, sie zittern vor Lust, fallen übereinander her, sie kopulieren, sie prügeln sich.
Im Sog bunter Bilder, greller Outfits
Ein sich mehr und mehr enthemmendes Hochzeitsfest, das im Foyer des Schauspielhauses mit einer chaotischen kirchlichen Zeremonie und einem Besäufnis seinen Anfang nimmt, entlädt sich in einer schwülen Nacht, die die Sinne vernebelt und Triebe wuchern lässt. Dass Lysander und Hermia das Brautpaar sind, wird zunehmend egal. Ohnehin verlieren Oberon und Titania, das Feenkönigspaar, bald die Kontrolle übers Geschehen. Titania lässt sich ja selbst von der Lust in Gestalt eines knackigen Knaben leiten und reizt damit Oberon bis aufs Blut.
Drinnen auf der Drehbühne ist ein halbkreisförmiges Metallgestell montiert, das vom Staatsorchester in Barockbesetzung in Beschlag genommen ist. Die Musik steht im Mittelpunkt, nicht das Schauspiel. Eigentlich ist "The Fairy Queen" aber ein Zwitter: eine Semi-Oper, eine spezielle englische Gattung des 17. Jahrhunderts. Ein Schauspiel, in das umfangreiche musikalische Szenen (sogenannte Masques) eingebaut sind. Man führt sowas hierzulande meist konzertant auf: zwischen den musikalischen Nummern rezitiert dann ein/e Schauspieler*in die Inhaltsangaben der Schauspielszenen. Für eine Bühnenversion fehlt meist der Mut.
Außer Kontrolle
Bieito stellt sich dieser Aufgabe, allerdings lassen er und seine Dramaturgen nicht viel übrig vom Sprechanteil der "Sommernachtstraum"-Bearbeitung, weshalb die Inszenierung kaum Handlung hat, eigentlich besteht sie nur aus ein bisschen Paargeplänkel. Wer seinen Shakespeare nicht kennt, der versteht hier nur Bahnhof, da Purcells Musik davon kein Wort vertont. Die Musiknummern bestehen ausschließlich aus Reflektierendem über Liebe und Triebe, Allegorien und Atmosphärischem – von der Nacht bis zu den Jahreszeiten.
Liebesgehörnt in Shakespeares und Calixto Bieitos Wald © Julian Röder
Aber man wird auch so hineingerissen in den Sog bunter Bilder, greller Outfits, mitreißender Musik, die Christian Curnyn vom Cembalo aus leitet. Er unterstreicht den rauen, folkloristischen Charme der Musik mehr, als es Barock-Puristen lieb sein dürfte. Viel Tanzmusik hält den Abend in Fluss: Während das Orchester fetzig in die Saiten haut, wird vorne in grünem Licht und Kunstnebel ständig gehüpft und gesprungen, weniger in ausbaldowerten Choreographien als vielmehr Freestyle. Der Staatsopernchor zeigt wieder mal, das er alles gleichzeitig kann: singen, springen, spielen. Ob er nun "Flutschfinger"-Eis lutscht, Oberon mit Marshmallows torpediert oder sich mit den anderen zu Kuschel- und Grapsch-Säulen formiert.
Alles in einer Nacht
"Eine bezaubernde Nacht schenkt mehr Lust als hundert glückliche Tage", verkündet eine Leuchtschrift. Weil der Abend eine Koproduktion zwischen dem Stuttgarter Schauspiel und der Staatsoper ist, teilen sich Sänger*innen und Schauspielensemble die Gesangsnummern. Das funktioniert erstaunlich gut. Etwa im Sexy-Turtel-Duett zwischen Tenor Mark Milhofer und Demetrius-Darsteller Johann Jürgens, der dem virtuosen, charismatischen Sing-Profi einen gut geerdeten Bariton entgegensetzen kann.
Zeigen und gesehen werden in The Shopping, nein The Fairy Queen © Julian Röder
Im Sog der Bilder verschwinden Shakespeares Protagonisten. Die Rest-Titania akquieriert ihren Esel aus dem Publikum, bevor sie selbst einer wird, mit Strumpfmasken-Eselsohren blind über die Bühne torkelt und mit jedem knutschen will, während sie Oberon, der eifersüchtige Gatte, mit einem Margeritenzweig peitscht. Dass das tölpelhaft-niedliche Wesen mit blauem Feder-Schweif und grüner Zunge (Maja Beckmann), das Oberon mal die Glatze poliert, mal das Stahlgerüst herauf- und herunterklettert oder dem Publikum den Mittelfínger zeigt, Puck ist und welche Funktion er hat, dürfte auch nicht jedem klar werden.
Schwerhöriger Gott
Aber egal. Dafür gibt es allerlei Assoziatives: Ein mysteriöses Mädchen-Zwillingspaar scheint dem Film "Shining" entsprungen und lässt im Duett die bunten Luftballons platzen. Eine alte Frau in Brautkleid kontrapunktiert die Lamento-Arie der Hermia: Die Vergänglichkeit wirft ihre Schatten. Phoebus singt seine Winter-Arie mit einer Dornenkrone, auf der ein Hirschgeweih thront. Liebe bedeutet eben auch viel, viel Leid. "Die Nacht" singt ihr Lied von den "murmelnden Bächen" im Leuchtbirnchen-BH. "Ohne mich kann Liebe nicht bestehen", trällert "Die Verschwiegenheit", auf deren Rücken vier blutige Striemen prangen. Von der verlorenen Unschuld der Menschheit kündet einer im Flokati-Tütü mit Eselsohren und Huf-Stilettos.
Das könnte endlos so weitergehen, käme nicht irgendwann der große Kater: die Melancholie. "Nur der blöde Gott der Ehe ist schwerhörig! Wir wecken ihn mit einem Zauberspruch", heißt es gegen Ende des umjubelten Abends – nicht Bieitos bester, aber ein sehr unterhaltsamer.
The Fairy Queen
von Henry Purcell
Semi-Oper nach William Shakespeares "Ein Sommernachtstraum" gesprochen auf Deutsch, gesungen auf Englisch, Stuttgarter Fassung unter Verwendung der deutschen Übersetzung von Jürgen Gosch, Angela Schanelec und Wolfgang Wiens
Regie: Calixto Bieito, Musikalische Leitung: Christian Curnyn, Bühne: Susanne Gschwender, Kostüme: Anja Rabes, Licht: Reinhard Traub, Choreografie: Beate Vollack, Chor: Johannes Knecht, Dramaturgie: Patrick Hahn, Bernd Isele.
Mit: Maja Beckmann, Lauryna Bendziunaite, Manolo Bertling, Susanne Böwe, Mirella Bunoaica, Josefin Feiler, Caroline Junghanns, Johann Jürgens, Frank Laske, Mark Milhofer, Hanna Plaß, Arnaud Richard, Alexander Sprague, Michael Stiller, Staatsopernchor Stuttgart, Staatsorchester Stuttgart.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.staatstheater-stuttgart.de
"Ein perfekter Zeitvertreib", "Es ist unfassbar" — Judith von Sternburg von der Frankfurter Rundschau (1.2.2016) fühlte sich gut unterhalten. "Und wie köstlich gesungen wird beim Abtanzen und Rumküssen, beim Albern- und Frech-, beim Halbnackt und Totalbeknacktsein." Insbesondere lobt von Sternburg den Chor, er sei "ganz bei der Sache". Am Ende jubelt das Publikum und von Sternburg stimmt mit ein: "Völlig unreif, aber ausgereift."
Susanne Benda von den Stuttgarter Nachrichten (2.2.2016) sah einen "bilderreichen Abend mit Stärken und Durchhängern". "Das kichert, das huscht, das trippelt aufgeregt treppauf, treppab." Benda sah in Stuttgart eine "quicklebendige, farbenpralle, dauerbeschwingte und sehr präzise Darbietung, die Purcells Klangfantasie, seinen Witz, seine feinen Charakterzeichnungen wie auch die Schönheit und Einprägsamkeit seiner Melodien hör- und spürbar macht.", gleichzeitig aber "dunkel, bedrohlich" von den "Schattenseiten" und der "Lust der Liebe" erzählt. Allerdings hat Benda auch einige Längen bemerkt: "Selbst dem findigen Liebesbildererfinder Bieito (gehen) irgendwann Puste und Fantasie (aus)." Nach dem Schlussapplaus fragt Benda sich schließlich "leise gähnend, was uns das ganze lange Spiel eigentlich sagen wollte."
Otto Paul Burkhardt sah für Tagblatt (2.2.2016) in Stuttgart "auf der Drehbühne ein großes, allumfassendes Fest.", das "zunehmend— aber auch vorhersehbar außer Kontrolle" gerät. Er befürwortet das "humorig-deftige Schauspiel" und den "teils punkrockig choreographierte(n) Barock-Chor", bemerkt aber auch "eine Regie, die nicht wehtut."
"Calixto Bieito (…) erhebt die Logik des Traums zum dramaturgischen Prinzip und setzt den Zuschauer einer rasanten, sich jeder rationalen Logik entziehenden Bilderwelt in einem extrem aufwendigen Masken- und Kostümfest aus", schreibt Lotte Thaler in der FAZ (3.2.2016). "Wort und Musik, Sprache und Gesang, Tanz, Gestik, Mimik – alles dient dem einen Thema: der Erotik mit ihren bizarren Erscheinungsformen." Ohne Szenen, "die auch schon vor Köln in den Bereich 'sexuelle Belästigung' fielen", gehe es bei Bieito nicht. "Aber je weiter der Abend, der kreischend laut im Foyer des Schauspielhauses beginnt, fortschreitet, desto verträumter scheint der Regisseur zu werden."
Bieito "beschwöre mit leichtester Musicalhand die von William Shakespeare im 'Sommernachtstraum' aufbereiteten Geschlechterwirrnisse", findet Reinhard Brembeck in der Süddeutschen Zeitung (5.2.2016). "Bieito & Curnyn vermessen das Weltreich der Erotik, das einerseits an die Klamotte grenzt, andererseits an den Hades" und vermeiden "zum Glück eine "griffige These zum Thema Liebe" zu äußern. "Es wird nur ausgestellt, was lustvoll möglich ist in diesem Land der unbegrenzten Möglichkeiten."
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Später stellte sich freilich heraus, dass das Teil des Schauspiels war. Dieses stammt politisch aus der englischen Restaurationsperiode, kunstgeschichtlich der Barockzeit. Damit ist das Theaterstück als idealer Höhepunkt der Stuttgarter Intendanz von A. Petras wohl gedacht. Historisch legitimierter sinnfreier Firlefanz, aber von guten SchauspielerInnen unterhaltsam aufgeführt. Das sexuell freizügige, traumhafte Stück hat sicher historisch seine Verdienste, denn warum soll es nicht auch mal im Theater zugehen wie sonst nur im Fernsehen bei den vielen Comedy-Sendungen. Und Entlastung von Aufklärung zu Gunsten spielerischer Unterhaltung darf, Dada sei gelobt, auch mal sein. Freilich passt das hier zu gut in eine Tendenz der Refeudalisierung der bürgerlichen Verhältnisse (Eigentumsverteilung) und der versuchten Neuausrichtung des kulturellen Staatsapparates. (Man denke an Frau Lange in der Staatsgalerie.) Apropos: anwesend waren der Oberbürger, der Kultur-Staatssekretär, der auch für die trübe Entwicklung in der Staatsgalerie mitverantwortlich sein dürfte, und der Meister aller Kettensägen. (Bitte zu verzeihen, die die ich nicht kenne oder übersehen habe!) Ob ihnen die Security am Eingang geschuldet war?
Übrigens gab es auch schöne Momente in dem Stück: So als die SchaupielerInnen uns, dem Premierenpublikum, den Mittelfinger gezeigt haben, ohne dass es, wie das sonst so folgt, eine Anzeige etc. gab. Ob das ein Moment der Selbsterkenntnis war?
Wie auch immer, nach dem Theater gab es die Premierenfeier, aber wohl nicht viel zu feiern, Party gab es ja genug auf der Bühne. Und so gingen die meisten, um das Eintrittsgeld erleichtert, so sie welches zahlen mussten, und um nichts klüger nach Hause.
www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/tagestipps/185078/index.html
Doch sind die perpetuierenden Liebesverwirrungen, meist angestiftet durch den allgegenwärtigen Puck (phänomenal Maja Beckmann!) voller verstörender Dramatik. Denn Liebe ist ja bekanntlich auch Leiden. Davon weiss vor allem die schöne Helena (grossartig dargestellt von Hanna Plaß!) ein Lied zu singen.
Aber die dramatische Handlung hat auch ihre Ruhepunkte. Und das leistet die wundervolle Musik von Purcell. Sie schreitet immer wieder ein, sie kommentiert. Und sie versteht. Und sie vermittelt. „Lasst mich weinen, ewig weinen.“ Der Klagegesang (von Josefine Feiler in fast überirdischer Schönheit gesungen!) reflektiert nicht nur den eigenen Partnerverlust, sondern auch den der Helena. Sodass die Parawelten der Musik noch einmal ganz neue Dimensionen ins Theater hereinbringen!
Wo sich die Grenzen von Oper und Schauspiel in so wundervoller Harmonie verschmelzen wie an diesem Abend, ja, da wünscht man sich natürlich weitere Unternehmungen dieser Art.