Nische oder Netiquette!

von Andreas Horbelt

2. April 2008. Ein berühmter Cartoon aus dem Magazin The New Yorker, schon 1993 erschienen, zeigt zwei Hunde vor einem Computer. Der eine sagt zum anderen: "On the internet, nobody knows you're a dog."

Auch heute noch kann man sich in Teilen des Internets weitgehend anonym bewegen. Wer weiß schon, ob hinter der jungen Psychologin Eliza aus dem Chatroom nicht in Wirklichkeit eine rüstige ältere Dame steckt? Oder ein 58-jähriger Bergarbeiter aus dem Saarland? Oder gar ein cleverer Roboter, programmiert um den Turing-Test zu bestehen, die Meisterschaft der künstlichen Intelligenzen? Wer kann auf Anhieb beurteilen, ob der Sebastian Hartmann aus dem nachtkritik-Forum der echte Sebastian Hartmann ist oder nicht? Und wäre es nicht vielleicht sogar möglich, dass Al Gore und George W. Bush, die im Jahr 2000 in einem Chatroom auftauchten, die echten US-Präsidentschaftskandidaten waren?

Sogar die eigene Identität wird zur Rolle

In Chatrooms, Wikis und Diskussionsforen, in Blogs, Fotocommunities, Videoportalen und Onlinespielen, bei Auktionen und digitalen Partnervermittlungen, in den textbasierten Formen der Internetkommunikation tummeln sich Nutzer anonym oder mit einem "Nickname", der keine Rückschlüsse auf ihre reale Identität zulässt. Denn solange die Kommunikation rein textlich abläuft, gibt es erst einmal wenige Möglichkeiten, auf die reale Identität eines Nutzers zu schließen. Er hat jederzeit die volle Kontrolle darüber, welche Informationen er preisgibt. Denn das geschriebene Wort wird durch nichts kontextualisiert: Der Körper des Schreibenden, eigentlich ein entscheidender Bedeutungsträger für die Kommunikation, bleibt verborgen.

Die schriftliche Kommunikation im Netz erinnert damit an ein Puppenspiel. Hier zeigen sich keine Menschen, sondern ihre digitalen Handpuppen, ihre Fernlinge. Alle sind Akteure und Zuschauer gleichermaßen, sitzen vor ihren Rechnern, lassen ihre Puppen sprechen, und beobachten gleichzeitig das Puppenspiel der anderen. Eine hochgradig theatrale Situation.

Dabei gilt: Wer schreibt, der spielt – ob er will oder nicht. Natürlich kann sich Herr Meier in einem Diskussionsforum als "HerrMeier" einloggen. Da aber die anderen Nutzer diese Wahrhaftigkeit nicht als solche erkennen können, bleibt für sie unklar, ob HerrMeier ein Nickname ist oder der tatsächliche Name des Users. Die eigene Identität wird zwangsläufig zur Rolle.

Auswahl zwischen fünfzehn Geschlechtern

Diese theatrale Grundstimmung der textbasierten Internetkommunikation wird ganz unterschiedlich bewertet, je nach Standpunkt: Vor allem in der Anfangszeit des Internets wurde sie als große soziale Utopie gefeiert. Psychologen und Anhänger der Gender Studies sahen darin die Möglichkeit, sich (vorübergehend) vom eigenen, physischen Geschlecht und der eigenen Identität zu befreien und neue Rollen auszuprobieren.

Ein Angebot, das mannigfaltig genutzt wurde und wird: In vielen MUDs, einer Art virtuelle Realität auf Textbasis, die im ersten Jahrzehnt des Internets sehr populär waren, konnte man bei der Anmeldung nicht zwischen zwei, sondern zwischen bis zu fünfzehn Geschlechtsangaben wählen (wobei eine der möglichen Angaben "other" hieß) – ein Angebot, dass durchaus sehr ernst genommen wurde: MUDs, die bei der Registrierung lediglich die beiden bekannten Geschlechtsvarianten zuließen, wurden als rückständig und reaktionär beschimpft.

Aber es gibt auch aktuelle Beispiele: In vielen Chatrooms, in denen es um Sex geht, ist der Wechsel des Geschlechts, das so genannte "Gender Swapping", an der Tagesordnung. Obwohl solche Chatrooms hauptsächlich von Männern genutzt werden, trifft man dort  auf ein scheinbar ausgewogenes Verhältnis von männlichen und weiblichen Besuchern. Hier wird offensichtlich Theater gespielt – und alle wissen es! (Und trotzdem gilt es als ein schwerwiegender Verstoß gegen die "Netiquette", diesen Umstand zu thematisieren.)

Anonyme Beschimpfungen waren von Anfang an ein Problem

Unter dem Titel "Anonymous" haben sich Anfang des Jahres Internetaktivisten zusammengetan, um aus der Anonymität des Netzes heraus Scientology zu attackieren. Sie nutzen die diversen anonymen Foren des Internets für Bekanntmachungen und Aufrufe – und treten auch im Real Life nur maskiert auf. Und auch viele Theatermacher haben versucht, die theatrale Grundstimmung des Netzes für Theaterprojekte zu nutzen, so wie das Desktop Theater: Im besten Boalschen Sinne schickte es, wie schon erwähnt, im US-Präsidentschaftswahlkampf 2000 die beiden Kandidaten in einen Chatroom – und sorgte dort für einige Verwirrung.

Doch die Anonymität des Internets und die daraus resultierende Freiheit hat auch viele Schattenseiten: "Flamings", anonyme Beschimpfungstiraden, waren schon in den ersten Chatrooms ein massives Problem und sind es in Wikis und Diskussionsforen bis heute geblieben. Die Befreiung von der eigenen Identität hat eben nicht nur positive Auswirkungen, sondern spült auch viel Dunkles an die Oberfläche. Vielleicht gibt man sich im Gefühl der Anonymität leichter dem Hass, der Sucht und anderen Übeln hin.

Jenseits aller moralischen Überlegungen schränkt aber vor allem die zunehmende Kommerzialisierung des Internets seine theatralen Freiheiten immer weiter ein. Verlässliche Identitäten werden immer wichtiger: Wer macht schon gerne Geschäfte mit Handpuppen?

Im Wirtschaftsraum natürlich stört die Maskerade

Das Internet hat sich in den letzten Jahren vom sozio-utopischen Raum zu einer Trägerschicht der Globalisierung entwickelt, einem digitalen Wirtschaftsraum, der weitgehend nach den Regeln des "Real Life" funktioniert und in dem theatrale Spiele mit der Identität zu störenden Anachronismen werden. Und auch die neuen technischen Möglichkeiten verändern die Kommunikation im Netz: Die Zunahme der Breitbandverbindungen hat dem Netz seinen "Iconic Turn" gebracht. Bildbasierte Kommunikation ist immer weiter auf dem Vormarsch, ein Videochat lässt wenig Raum, die eigene Identität zu verschleiern.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Netz ist erwachsener geworden, aufgeräumter, verlässlicher. Und gleichzeitig immer besser kontrolliert. Und das ist für viele Anwendungen auch sinnvoll. Gleichzeitig gibt es aber noch immer viele Kommunikationsplattformen wie Wikis, Diskussionsforen oder Onlinespiele, die das freie, karnevaleske Spiel mit den Identitäten zulassen.

Schlussendlich müssen die Nutzer und Betreiber jeder einzelnen Plattform darüber entscheiden, wie viel Puppenspiel abhängig vom Zweck und dem Thema der jeweiligen Plattform akzeptabel (oder gar notwendig) ist. Wie wiegt die Gefahr eines verletzenden anonymen Flamings gegenüber der Möglichkeit, schnell und ohne Registrierung einen Kommentar zu hinterlassen? Solche Fragen muss jede Community für sich selbst beantworten, und so haben sich ganz unterschiedliche Kommunikationskulturen herausgebildet, die ganz unterschiedliche Freiheitsgrade zulassen.

Insgesamt aber ist das freie Spiel mit der Rolle auf dem Rückzug. Ließ sich einst eine theatrale Grundstimmung für das Internet konstatieren, so gilt dies heute nur noch für einzelne Nischen, die zunehmend an Bedeutung verlieren. Sollten Sie also demnächst Opfer eines üblen Flamings werden, reagieren Sie gelassen: Sie werden Zeuge einer anachronistischen theatralen Form, die es so in einigen Jahren wohl nicht mehr geben wird.

 

Andreas Horbelt, Jahrgang 1976, studierte Dramaturgie und Theaterwissenschaft in München und Wien sowie Kulturmanagement in Berlin. Seit Jahren beschäftigt er sich mit den Zusammenhängen von Theatralität und neuen Technologien. Er arbeitet als Dramaturg und Austellungskonzeptionierer. Zuletzt entwickelte er für die Berliner Kommunikations- und Designagentur TRIAD das DHL Innovation Center in Troisdorf bei Bonn.


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