Ödipus – einer von uns

von Jürgen Reuß

Basel, 5. Februar 2016. Mitten auf der Bühne ein wandloses Schlafzimmer in gediegenem bürgerlichen Holzlook. Links eine Scheinwerferwand, rechts eine Ventilatorenwand, hinten das dunkle Nichts. Iokaste sitzt am Tisch, macht sich Apfelschnitze, ein letztes, öde gedehntes Nachtmahl, bevor sie den Schlafanzug anzieht und ins Bett geht. Ödipus kommt heim. Auch er schlüpft aus gedecktem Angestelltenzivil in den Pyjama. Er hat Schlafstörungen, die Arbeit belastet ihn, er hat Alpträume. Iokaste liest ihm – sehr lange – Oscar Wildes "Importance of Being Earnest" vor. Szenen einer langjährigen Ehe. Ödipus goes bürgerlich in der Sophokles-Umarbeitung von Antonio Latella und Federico Bellini, die im Basler Schauspielhaus uraufgeführt wurde.

Autoren-Regisseur Latella will offenbar, dass Ödipus einer von uns ist. Nachdem Freud den antiken König als Komplex eingebürgert hat, müsste man doch auch den ganzen Sophokles in ein Schlafzimmer packen können. Da sind wir alle gleich, und auch der König trägt dort keine Krone. Die Alpträume verdrängter Schuld, die unterdrückte Eifersucht, weil die Ehefrau zuvor schon einen anderen hatte, die Boten, Diener, Seher, Politiker, die das Geschehen von draußen hineintragen und schließlich auch noch die Elemente, die sich gegen das Paar verschworen haben – ihnen allen sind Iokaste und Ödipus in ihrem wandlosen Schlafzimmer schutzlos bis zur Selbstzerfleischung ausgeliefert.

Grundkonflikt im Ehebett

Es ist ein interessantes Experiment, das Tragödiengeschehen auf einem Ehebett zu verdichten. In diesem geschrumpften Umfeld wird alles zum Verweis auf den Grundkonflikt. Wenn Iokaste Ödipus zum Einschlafen Oscar Wilde vorliest, wiederholt sich die Tragödie des ausgesetzten Kindes als Komödie. Die Alpträume manifestieren sich in einem nackten Mann mal mit, mal ohne Fell, der im rechten Bühnennichts des Imaginären neben dem Schlafgemach einen Kinderwagen schiebt. Später gesellt sich ein Musiker dazu, der schicksalhaft trompetet. Irgendwann kommt von der Ventilatorenwand ein Sturm auf, das erste Element bläst die Vergangenheit unaufhaltsam ins Ehebett.

oedipus3 560 Sandra Then uSchlaflos in Basel: Michael Wächter (Ödipus) und Barbara Horvath (Iokaste). © Sandra Then

Von der rechten, der Scheinwerferseite dringt die Realität ein. Kreon berichtet über seine Regierungsgeschäfte, für die der Herrschertypus Ödipus eh ausgedient hat. Der Seher Teiresias orakelt emotional aufheizend statt der Aufklärung dienend vor sich hin. Ein überwiegend stummer Diener wacht über das Geschehen und entpuppt sich zum Schluss als einziger, der von Beginn an alles wusste. Und dazwischen ringen, lieben, schreien, toben und nerven Michael Wächter als Ödipus und Barbara Horvath als Iokaste unter beachtlichem Körpereinsatz.

Ein Ehekrieg zwischen den Elementen

Mal meint man, in Dario Fos "Offene Zweierbeziehung" hineingerutscht zu sein, mal in ibsenhafte Selbstzerfleischungskriminalistik. Dann ergießt sich das zweite Element in Strömen über das Bett. Die bürgerliche Fassade wird weggespült. Der Irrsinn zieht ein und rüttelt in Person von Iokaste an den Möbeln. Aber das Mobiliar ist so unverrückbar wie das Schicksal. Unter der dünnen Schicht des gemütlichen Ambientes liegt nicht wie unter dem Pflaster der Strand, sondern das Element Erde selbst, wie Iokaste in den Schubladen wühlend beweist. Jetzt, wo Ödipus erkennt, dass er die ganze Zeit mit seiner Mutter gevögelt hat, kann er sie endlich in archaisch-entfesselter Sexwut zu Tode vergewaltigen. Der nackte Mann hat sich derweil ein à la Schellen-Ursli auf Kuhglocken aufgepimptes Narrengewand angelegt, ist auf die Seite der Realität gewechselt und scheppert wie ein Aufziehaffe – ein schönes, jahreszeitlich passendes Deutungsangebot fürs Fastnachtstreiben?

Kinderwagen in Flammen

Nachdem sich Ödipus geblendet hat, erteilt der treue Diener, der nun einen Namen bekommt und damit sein Sklavendasein beendet, ihm Unterricht in Griechisch, oder ist es Esperanto? Nach ein paar Minuten Sprachkurs lässt das letzte Element den Kinderwagen in Flammen aufgehen
Was war das? Ging es etwa die ganze Zeit um Europa, das sein demokratisches Erbe irgendwann in seiner Einigungsgeschichte ermordet hat, und sich nun unter ödipalen Höllenqualen in Kreons Finanzunion transformiert?

Antonio Latella hat viel in seinen "Ödipus" reingepackt, die Schauspielerinnen haben beeindruckend geackert, es wurden durchaus interessante Fährten gelegt, aber richtig stimmig will sich die Übertragung des antiken Stoffes ins moderne Schlafzimmer nicht zusammenfügen. Das Theater Basel zu europäisieren, hat Intendant Andreas Beck angekündigt. Vielleicht ist ein deutungsoffener Flickenteppich wie der von Latella die passende Antwort auf diese Herausforderung. Solange die Baustellen sichtbar sind, ist der Anreiz weiterzuarbeiten höher.

 

Ödipus
Schauspiel nach Sophokles in einer Bearbeitung von Antonio Latella und Federico Bellini
Regie: Antonio Latella, Bühne und Kostüme: Simona D'Amico, Simone Mannino, Musik: Franco Visioli, Dramaturgie: Ewald Palmetshofer, Federico Bellini.
Mit: Michele Andrei, Martin Hug, Barbara Horvath, Thomas Reisinger, Michael Wächter, Simon Zagermann, Trompeter: Matteo Pennese.

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

"Latella ist zwar ideenreich, er entwickelt auch stimmige Bilder", schreibt Dominique Spirgi in der Tageswoche (8.2.2016), es blieben aber Einzelmomente, "die dem Regiekonzept nicht die generelle Plausibilität verleihen, die es nötig hätte". "Herab gestuft auf die private Ebene" entwickele der Abend seine Längen, so Spirgi: "Und die mythologischen sowie mystischen Einsprengsel, etwa der wilde Tanz des Hirten im Glockenkostüm, wirken aufgesetzt." Das sei bedauerlich, "denn einmal mehr ist ein Schauspielensemble zu erleben, das imstande ist, Grosses zu leisten."

Einen "zwiespältigen Abend" hat auch Alfred Schlienger gesehen und schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (8.2.2016): "Die Regie von Antonio Latella schwankt sichtlich zwischen grossem Kino und kammerspielartiger Betulichkeit, zwischen Exzess und Langeweile." Zudem werde "viel und einförmig geschrien", man vermisst eine differenzierte Sprachregie. Auch wenn der Abend im Kern Sophokles treu bleibe, erzählt er dessen Geschichte ohne klaren Spannungsbogen. "Überdrehte Dramatik untergräbt die Tragik und wirkt letztlich seltsam unterkühlt."

"Unter den widrigen Umständen einer missglückten Tragödienneufassung schlagen sich die Hauptdarsteller tapfer", schreibt Stephan Reuter in der Basler Zeitung (8.2.2016). Doch dieser "Ödipus" schrumpfe auf Szenen einer Ehe zusammen. Auch wenn am Ende die Wahrheit wie ein Wolkenbruch herausplatze, "ist das längst keine Staatsaffäre mehr. Nur nackte Privatsache. Und dafür hätte es Sophokles nicht gebraucht." 

 

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