Die digitale Bühne ist eröffnet

von Sascha Ehlert

Berlin, 8. Februar 2016. Brennende Türme, brennende Fahnen, Abu Ghraib. Burkas, maskierte Kriegsmänner, Schwarz-Weiß-Aufnahmen von einem Bombenangriff: Willkommen in der Welt der Familien Montague und Capulet. Was für ein bedrückender Einstieg! Manuel Braun heißt der Regisseur (arbeitete bisher unter anderem am Münchner Volkstheater) und Videokünstler, der mit seiner "Romeo und Julia"-Inszenierung die Stimmung von der ersten Szene an tief in den dunklen Keller drückt. Betende Muslime, gehängte Simpsons, dazwischen ein Satz: "She loved him and he loved her, but it wasn't that simple." Und die Wiener Sängerin Anja Soap & Skin singt über eine elektronisch-melancholische Ambient-Produktion des Berliner Musikers Apparat: "Neither ever, nor ever, goodbye, goodbye", derweil man im Browser hinauf und hinab scrollt.

Nein, vor uns liegt keine Bühne, und neben uns sitzen keine anderen Menschen. Um uns herum befinden sich nichts als ein 1,40 m-Bett und der weißlich schimmernde Laptop; darauf geöffnet: romeojuliablog.tumblr.com. Was ist das, was wir hier vor uns haben? Ist es Theater? Muss man es gesehen haben?

Shakespeare inspiriert assoziative Bildwelten

Um seine Vision auf den Bildschirm zu bringen, hat sich Manuel Braun einer Plattform bedient, deren Stern sich seit einiger Zeit im Sinkflug befindet: Tumblr. Vor wenigen Jahren galt das Portal noch als kleine Revolution: Ohne Rücksicht auf Urheberrechte konnte dort jeder binnen Minuten einen Blog online schalten und mit Bildern, Videos und Texten von überallher befüllen. Die meisten nutzten Tumblr als eine Art Lifestyle-Accessoire, als eine Mischung aus Foto- und Poesiealbum. Mittels zusammengeklaubter Bildchen (besonders beliebt: Nacktheit, Drogen, Waffen, Essen, Katzen) verlängerte man seine Identität viel stylischer ins Netz, als das mittels eines drögen Facebook-Profils möglich war. Aber dann kam Instagram und lenkte den Fokus unserer Online-Bilderwut mehr in Richtung einer realitätsnahen, tagesaktuellen Dokumentation des eigenen Alltags.

RJTumblr 560 ScreenshotSo sieht es aus, das Tumblr-Theater – Screenshot

Braun zeigt nun sozusagen im Retro-Stil zunächst mittels stilsicher gepickter Bildchen Lord Capulet als Macht- und Geld-fixierten Oligarchen mit den Gesichtszügen von Wladimir Putin. In Szene IV machen sich dann Romeo, Mercutio und Benvolio auf dem Weg zum Haus der Capulets, was freilich nur mit einer Zeile Text angedeutet wird. Wer Shakespeares Stück nicht kennt, wird hier kaum mehr als eine fragmentarisch angedeutete Handlung erkennen. Anstatt um die Geschichte geht es konsequenterweise auch vor allem um das Erschaffen einer assoziativen Bildwelt. Wenn die Montague-Jünglinge zur als exzessiv-dekadentes Roter-Teppich-Event dargestellten Capulet-Feier ziehen, dann zeigt Braun coole Typen, die coole Dinge tun: Bong rauchen, Wodka trinken, bunte Party-Pillen einwerfen. Einen stimmungsvollen Sog entwickeln Collagen wie diese aber erst durch das Zusammenspiel mit der hervorragenden Auswahl an Musikstücken zwischen Pop und Elektronik.

Auf ins Post-Internet-Theater

Das Tumblr-Stück ist durchzogen mit guten Ideen: das Aufeinandertreffen der beiden Liebenden auf einem Balkon zum Beispiel inszeniert Braun ganz ohne Bild, nur in Ton: Ein Klavier klimpert, während Romeo und Julia einander in verschiedenen Sprachen und Stimmen anschmachten, gepflückt aus einer Vielzahl verschiedener "Romeo und Julia"-Inszenierungen aus aller Welt. Szenen-übergreifend ist das Bild- und Ton-Potpourri vielleicht kein visuell und inhaltlich komplett stringentes Werk, liefert aber dafür eine komplexe, vielschichtige Zusammenstellung von Bildern aus unserer Gegenwart, die vor allem in den düsteren Momenten des Stücks eindringlich wird, je länger man in den einzelnen Szenen verweilt.

Muss man das also gesehen haben? Ja, sollte man. Immerhin denkt beispielsweise der designierte Castorf-Beerber Chris Dercon seine "volksbühne berlin" längst inklusive einer rein digitalen Bühne. Er wird nicht der einzige bleiben, der sich um eine Art Post-Internet-Theater bemüht. Das Internet als Ausdrucksmittel-Plattform treibt die Theaterwelt um, ob sie nun will oder nicht.

Romeo und Julia
nach William Shakespeare
Konzept: Manuel Braun

romeojuliablog.tumblr.com

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