Digitale Überlebens-Übungen

von Sascha Ehlert

Berlin, 8. Februar 2016. Der Herr der Fliegen meets Minecraft? Oh my! Also ein postmodern zerlaufender Abend, an dem alles durcheinander geht und man ohne Gamer-Wissen chancenlos im Nichts-Verstehen versinkt? Nein, eigentlich nicht. Was Robert Lehniger hier gemeinsam mit den Darstellern des Jungen Deutschen Theaters inszeniert, ist im Kern gar nicht so verspielt oder verspult, wie man, je nach Standpunkt, hoffen beziehungsweise fürchten könnte.

Bevor man dies erkennt, gilt es allerdings zunächst mal jene Oberfläche zu durchdringen, die sich zu Beginn vor einem auftürmt: Auf der Bühne sitzt mehr als ein Dutzend junger Menschen, gruppiert um eine handvoll Tablet-Computer. Als die Kinder sich von ihren Bildschirmen loseisen, erkennen sie, dass sie sich auf einer Insel befinden. Parallel dazu läuft das Tablet-Spiel auch auf einer Hälfte der zweigeteilten Leinwand, die über dem Geschehen thront. Auf dieser tapsen und springen naiv-niedliche, Lego-ähnliche Figürchen durch eine Lego-mäßige Bauklötzchen-Welt. Das ist Minecraft, gespielt von mittlerweile mehr als 70 Millionen Menschen, eines der erfolgreichsten Pop-kulturellen Phänomene der letzten Jahre.

Baukasten-Welt

Genau wie auch William Goldings Roman "Herr der Fliegen" basiert "Minecraft" auf einer "Robinson Crusoe"-Erfahrung: es geht um das Leben auf einer einsamen Insel, fernab der Gesellschaft. Nur ist der Spieler hier nicht nur der Gestrandete, sondern gleichzeitig der Erschaffer, der Gott einer von unendlich vielen möglichen Welten. Diese kann er über das Internet auch anderen Spielern zur Verfügung stellen. "Minecraft" ist ein Baukasten – aber auch eine Spielwiese: Innerhalb der Grenzen dieser Welt ist alles erlaubt. Man kann mit den anderen Spielern friedlich zusammen leben, sie aber auch drangsalieren oder töten. In einem der Spielmodi, dem sogenannten "Survival Mode", den diese Inszenierung im Titel trägt, geht es ums bloße Überleben.

herr der fliegen1 560 Arno Declair xRobinson-Insel im Open-World-Videospiel in "Herr der Fliegen" © Arno Declair

Auch auf der Bühne wird aus der Freude darüber, plötzlich in einer Welt zu leben, in der die Vorschriften der Eltern nicht mehr gelten, schnell Ernst: Essen muss her, also müssen ein paar Lego-Schweine dran glauben. Das Geschehen stellt Robert Lehniger nun auf mehreren Ebenen dar: Seine Schauspieler trampeln und tanzen. Auf der rechten Leinwandhälfte wird die Jagd auf die armen Schweine via "Minecraft" gezeigt, auf der linken zitiert eine der SchauspielerInnen vor schwarzer Leinwand aus Goldings Text.

Kalkulierte Opfer

Dasselbe Bilddrittel wird mehrmals dazu genutzt, die Schauspieler hinter den Figuren sprechen zu lassen. Wenn diese aus dem Off darüber reden, wie sie beim ausgiebigen Minecraft-Spielen ihr eigenes Gewaltpotential entdeckten, dann ist das eine kluge Referenz an die kommentierten Film-Fassungen, die man heute standardmäßig im Bonusmaterial gekaufter DVDs findet. Nur schade, dass das Stück dieses spannende Element mittendrin scheinbar einfach vergisst. Ähnlich ergeht es Minecraft.

herr der fliegen2 560 Arno Declair xV.l.n.r.: Léon Romeike, Lenz Lengers, Kya-Celina Barucki © Arno Declair

Während die Gemeinschaft der Kinder ab der Hälfte des Stücks immer mehr in eine eskalierende Gewaltspirale abrutscht, konzentriert sich das Geschehen stärker auf die Bühne. Minecraft sieht man kaum noch, die anfängliche visuelle Reizüberflutung gerät ins Hintertreffen. Das Spiel ist vorbei, der Herr der Fliegen kommt: Auf der Leinwand surren Fliegen, und das "Tier" lässt die Kinder ihre schlimmsten Seiten zeigen: Erst töten sie aus Versehen im Rausch der Angst einen der ihren. Das nächste Kind wird bereits ein kalkuliertes Gewalt-Opfer, kurz vor Schluss entbrennt eine Menschenjagd.

Ist digital besser?

In Goldings Romanvorlage taucht, bevor der dritte Tod geschehen kann, ein Kriegsschiff auf. Ein Erwachsener geht an Land, das tödliche "Spiel" endet, und die Kinder erwachen aus ihrem sehr realen Alptraum in der "Zivilisation". Dort erwartet sie allerdings nur mehr Gewalt: der Krieg. Lehnigers überzeugende Jungschauspieler (besonders fantastisch: Léon Romeike als androgyner David Bowie-Wiedergänger!) hingegen warten vergeblich auf das Auftauchen dieses Deus ex machina: "Sollte jetzt nicht der Marineoffizier kommen?", fragt einer von ihnen. Zum Glück ist am Ende doch alles nur ein Spiel: "Wir können doch einfach den Server neu starten."

Ein wenig unentschlossen kann man diesen Schluss, aber auch die Inszenierung als Ganzes finden. Schade ist es, dass die zwei Leinwandhälften letzten Endes die Erzählweise nicht wirklich durchdringen, sondern nur Gesagtes illustrieren. Die faszinierende Möglichkeit, mithilfe von Videospielen eigene Geschichten und Welten zu erfinden, bleibt weitgehend ungenutzt, da Lehniger sich allzu eng an seiner Romanvorlage entlang hangelt. Minecraft wird zum bloßen Vehikel für Zeitgeistigkeit degradiert, zu einer optischen Spielerei für Eingeweihte. Wer die Faszination des Mediums Videospiel vor diesem Abend nicht verstanden hatte, bleibt auch nach dem Genuss von "Herr der Fliegen: survival mode" außen vor.

 

Herr der Fliegen: survival mode
nach William Golding
Regie / Video: Robert Lehniger, Ausstattung: Irene Ip, Musik: Markus Hübner, Choreografie: Emmanuel Obeya, Mitarbeit Video: Yannik Böhmer, Game Programmierung: Jasper Swart (mezen Medienkompetenzzentrum Pankow), Dramaturgie: Birgit Lengers.
Mit: Kya-Celina Barucki, Emmi Büter, Mina Christ, Philipp Djokic, Helen Kaschtalinski, Lenz Lengers, Gynian Machacek, Jochanah Mahnke, Jakob Mandler, Artur Matzat, Ishini Rathnayake, Carlotta Rohn, Léon Romeike, Emil von Schönfels, Langston Uibel, Annika Westphal.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 


Kritikenrundschau

"Eine sehenswerte erste Inszenierung des Video-Spezialisten Robert Lehniger" hat Ute Büsing vom Inforadio des rbb (9.2.2016) am Jungen DT verfolgt. "Starker Tobak für ein Jugendtheater" sei das Ganze in seiner Gewaltthematisierung. "Auf der analytischen Ebene wird in groß projizierten Einspielern einerseits das Suchtpotenzial solcher Spiele wie Minecraft herausgearbeitet und andererseits "das Böse", das schon in Kindern und Jugendlichen Platz nimmt, offen angesprochen. Die animalische Lust auf Mordbrennerei ist kein Privileg der Erwachsenen."

In einer "Welt der vernetzten Kinderzimmer" fand sich Alexander Kohlmann wieder und berichtet davon im Gespräch für den Deutschlandfunk (9.2.2016). Die jungen Akteure spielten auf der Bühne "wahnsinnig toll den Roman“, während in der Pixelwelt von "Minecraft" auf den Bildschirmen das Geschehen gespiegelt werde. Beide Ebenen fänden mit zunehmender Dauer des Abends zusammen und dann zeige die Inszenierung, "dass die digitale Welt zurückschlägt auf die tatsächliche". Das Ganze sei "eine tolle Parabel" dafür, dass das, was Menschen im Internet ausleben, "ein Teil des Menschseins ist".

 

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