Pränataler Totentanz

von Michael Bartsch

Leipzig, 20. Februar 2016. Wieder geht es um ein Familienthema, um die ersten und letzten Dinge des Lebens. Ein Kind soll geboren werden, das wegen eines Chromosomendefektes, einer seltenen Art von Trisomie, nur ein sehr kurzes Leben erwartet. Der Stücktitel "Drei sind wir" setzt das Dreifachchromosom mit dem belasteten Dreieck Vater-Mutter-Kind in Beziehung. Wie schon sein Erstling Und dann, für den er unter anderem den Mülheimer Dramatikerpreis erhielt, wird auch Wolfram Hölls drittes Stück am Schauspiel Leipzig zur Uraufführung gebracht – ein Auftragswerk.

Poesie bis in den Wetterbericht

Den Plot muss sich der Zuschauer zuvor angelesen haben, von der Bühne erfährt er es bestenfalls enigmatisch verschlüsselt. Kryptisch bleibt schon im Stück, warum die Familie mit dem erwarteten Problemkind ausgerechnet nach Kanada auswandert. Nicht zu viel grübeln, wirken lassen? Auf eine überrumpelnde Wirkung setzt noch mehr als die Textvorlage die Uraufführungs-Regie von Thirza Bruncken. Die auf vier Akteure reduzierten Sprecher, keiner Stück-Person schlüssig zuzuordnen, feuern poetische Salven, inszenieren Sprache, suggerieren Wortartistik. Beim genaueren Hinhören werden ziemlich banale Dinge vermittelt, wenn auch auf artifizielle Weise. Was man über Angeln, Familiendias, Verwandtenbesuche, den amerikanischen Winter, zu verkaufende Häuser und so weiter erfahren soll, wird geschickt zerhackt, gesplittet und in Silbenspiele und Mehrfachwiederholungen gekleidet. "Wir üben uns im besitzen, … ersetzen, … entsetzen" ist ein Beispiel.

drei sind wir11 560 Rolf Arnold uDrei von vieren: Bettina Schmidt, Anna Keil, Sebastian Tessenow © Rolf Arnold

Einige wirklich anrührende Passagen – etwa die er Beschreibung des Kindes – gehen in Brunckens Inszenierung ziemlich unter. Die Spieler berichten, reflektieren und leben ihre Zustände und ihre Betroffenheit aus, ohne deren Ursache zu benennen. Das tun sie allerdings in einer packenden Weise. Das voraussichtliche Schicksal des Kindes wird geradezu in einem Danse macabre zelebriert. Hart am Kipppunkt zur Albernheit, während sonst Abschieds- und Verlustängste, Verzweiflung, versuchte Rückkehr zu eigener Lebensfreude und Leidenschaft dominieren. Besonders die beiden Frauen steigern sich in hysterische Anfälle oder versinken in kleinkindliche Weinkrämpfe. Schließlich will dann nicht einmal mehr der Totentanz gelingen.

Außen Pelz, innen Verzweiflung

Unter diesem Aspekt des Ringens mit dem Tod erscheint die Inszenierung schlüssig. Aus dem schicksalhaften leeren, aber hermetischen Bühnenraum gibt es kein Entrinnen. Die Tür, mehrfach einen Spalt geöffnet, erscheint wie ein magischer Vorhang. Nur einen Spiegel hat Bühnenbildner Christoph Ernst angebracht. Sätze werden wie durch eine Leitungsstörung unterbrochen, zuweilen übertönt Rauschen und bedrohliches Brummen die Textverständlichkeit. Flackerlicht wirkt wie ein strafender Blitz von oben. Die auffallend korrekte, ja festliche Kleidung der Spieler, später die Benutzung von teuren Pelzen als Wohlstandsindikatoren kollidiert mit dem offensichtlichen Seelenzustand.

Das Kleinkind, ohnehin nur im Echo seiner vermutlichen Eltern und Verwandten indirekt präsent, stirbt wahrscheinlich. Jedenfalls legt der Originaltext diese Ahnung nahe, wenn am Haus in Kanada am Ende das Schild "à louer" befestigt wird. Das geschieht übrigens im Frühling in dem nach Jahreszeiten chronologisch aufgebauten Text. In der Inszenierung wird gar nichts aufgelöst. Sie kulminiert in einem schwarzweiß-konturierten Video-Winter irgendwo im Norden, dem die Sprecher mit einem rührenden versuchten Nestbau aus Nerzen etwas entgegenzusetzen versuchen. Ein Kind ist in diesem Knäuel nicht zu finden. Hat es je existiert? Abbruch, Black.

Die vier Schauspieler geben alles. Es bleibt aber der Eindruck, dass hier mit einem existenziellen Thema ziemlich manieriert umgegangen worden ist.

Drei sind wir
von Wolfram Höll
Uraufführung
Regie: Thirza Bruncken, Bühne und Kostüme: Christoph Ernst.
Mit: Anna Keil, Bettina Schmidt, Julius Bornmann, Sebastian Tessenow.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

Ob die Regie von Thirza Bruncken die Tiefen des Texte auslotet, dürfe man bezweifeln, schreibt Dimo Riess in der Leipziger Volkszeitung (22.2.2016). "Kein Fünkchen Leben" sei hinter den "kunstvoll versteinerten Mienen" der Schauspieler*innen zu finden. Die Inszenierung entscheide sich dagegen, das erzählerische Moment aus Hölls Stück herauszuarbeiten, bleibe lieber vage und setze darauf, "Seelenzustände auszustellen".

"Es ist ein wirklich ärgerlicher Abend", wird Hartmut Krug im Deutschlandfunk (21.2.2016) deutlich. Thirza Bruncken habe aus dem Sprachstück ein performatives Bewegungsstück gemacht und bringe es damit um. "Zwar beeindruckt eine Zeit lang der Furor, mit dem sich die Darsteller zwar in keine Rollen, aber dafür unentwegt gegen Wände und Mitspieler oder auf den Boden werfen", so Krug. Doch das gestisch-mimische Repertoire bleibe dabei beschränkt. Als Zuschauer ertappe man sich dabei, dass man in der gefühlt unendlich langen, aber nur 80 Minuten dauernden Inszenierung immer wieder aussteigt. "Denn die von philosophischer Lektüre allzu beschwerte Inszenierung bringt Hölls Stück um seinen Sinn und seine Sinnlichkeit, ohne eine überzeugende eigene Sinnlichkeit zu entwickeln."

Hölls "Textkaskaden" erschwerten für das Publikum den Zugang zur Erzählung und ihren Protagonisten, "doch ein Gefühl wird deutlich", bilanziert Thilo Körting auf Radio Mephisto (22.2.2016). Das setze sich auch in der Bildlichkeit der Inszenierung fort. Die Schauspieler seien kraftvoll, wie sie dem Takt von Text und Bewegung folgen. Trotzdem wirkte insgesamt "alles (...) wenig überzeugend und unzusammenhängend" auf Körting: "Der Text wird zwar eindrucksvoll performt, doch gleichzeitig nur runtergerattert." Es flimmerten darin weder die gewünschten Figuren auf, noch scheine es der Text dieser vier Gestalten zu sein. "Thirza Bruncken benutzt den Text, arbeitet aber nicht damit."

"Dieser Bühnenmanierismus" lässt Mounia Meiborg ziemlich kalt. "Der Text erzählt von einem Paar, das sich in einer existenziellen Situation die größtmögliche Freiheit nimmt. Die Inszenierung erzählt von gesellschaftlichen Zwängen, die höchstens mit den Großeltern der jungen Leute (die am Rande vorkommen) zu tun haben", schreibt Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (29.2.2016). "Natürlich könnte man jetzt höhere Interpretationskünste anwenden: Ist der Schuhkarton-Raum nicht ebenso ausweglos wie der Tod? Und sind Hölls Figuren nicht auch irgendwie fremdbestimmt? Nein, eigentlich nicht." Das formale Korsett, in das die Regisseurin Thirza Bruncken das Stück pressen will, passe einfach nicht.

Thirza Bruncken zelebriere nicht brav den Text, sondern fahre "mit der ganzen Wucht ihrer szenischen Phantasie hinein", schreibt Joachim Lange in der Freien Presse (15.2.2016). Und mache ein "artistisches Faszinosum" aus Hölls Stück mit "abgerüstetem, spröde poetischem Jelinek-Sound".

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