Der Revisor - Sebastian Hartmann zeigt am Schauspiel Frankfurt einen klamaukigen Gogol
Wirklichkeit ad absurdum
von Grete Götze
Frankfurt am Main, 20. Februar 2016. Die Schauspieler haben sieben Quader mit jeweils einem Leuchtbuchstaben darauf hin- und her verschoben, den "Revisor" auf den Kopf gestellt, ihn durcheinander geschoben – ein Sinnbild für Sebastian Hartmanns Inszenierung der 1836 uraufgeführten Komödie Nikolai Gogols. So wie der Regisseur alle Buchstaben verschieben lässt, so wirft er die Rollen durcheinander, und so sind irgendwann auch alle Bühnen-Räume durcheinander geschoben. "Sorriev", heißt am Ende des Abends diese Inszenierung, der es egal ist, dass sie den dritten Akt nach dem vierten spielt.
Reinste Fiktionalität
Nachdem die Schauspieler die Zuschauer in den Rängen empfangen haben, stellt Sascha Nathan als Conférencier seine sieben Mitspieler vor, die wie er allesamt in Smoking und Zylinder auf einer schwarz-weiß-gestreiften Scheibe sitzen und bald gemeinsam vom Stück erzählen werden. Erst zählt er die russischen Namen von rechts nach links auf. Und dann in umgekehrter Richtung. Um ein sinnvolles Stückverständnis ringende Zuschauer sind verwirrt, der Rest ist amüsiert.
Bereits nach wenigen Minuten wird klar, dass Hartmann nicht die Geschichte des Beamten Chlestakow erzählen wird. Er berichtet nicht davon, wie der in einer russischen Kleinstadt unverhofft auf Händen getragen und beschenkt wird, weil die korrupten Dorfbewohner denken, er sei der angekündigte Revisor. Heute Abend soll keine Wirklichkeit vorgegaukelt, keine Korruption angeprangert werden. Vielmehr verweisen die Schauspieler bei jeder Gelegenheit auf die reine Fiktionalität dieser Inszenierung. Die Darsteller quatschen miteinander in ihrer Rolle als Schauspieler, nennen einander beim bürgerlichen Vornamen und treiben in Gruppen oder einzeln gehörigen Schabernack, der sich irgendwie (mal mehr, mal weniger) auf die Gogol'sche Geschichte bezieht. Der Originaltext blitzt nur in Versatzstücken auf, und der Humor ist derb, er nimmt die Sprache wörtlich: Schulinspektor Chlopow (gesprochen: Klopov) klopft sich auf den Po, die Frauen knien als Gänse auf dem Boden, wenn sie für den Gast "eine Gans machen" sollen.
Einen großen Auftritt hat Holger Stockhaus, bekannt aus komödiantischen Fernsehformaten à la "Ladykracher". In seinem Solo jongliert er blitzschnell mit Körper und Text, fällt mal in ein hessisch sprechendes Ich, dann in ein bayerisches, improvisiert eine Fliege, die ihm durch den Körper und wieder aus ihm heraus summt, und steigert sich so sehr hinein in ein Fantasierussisch im Schnelldurchlauf, dass er Szenenapplaus bekommt. "Eine verzwickte Situation" ist es für ihn, als "seine Frau" auf die Bühne kommt und sich an ihn schmiegt, immerhin wird seine Frau an diesem Abend von gleich drei Schauspielerinnen in Paillettenkleid und blonder Perücke verkörpert. Die SchauspielerInnen meistern ihre Improvisationen an diesem Abend mit großer Freude und in großem Tempo.
Pollesch-Intellektualismen in FFM
Zwei sich gegenläufig drehende Scheiben mit sechs unterschiedlich tapezierten Wänden darauf: Das Bühnenbild verschiebt sich stetig und öffnet dadurch immer wieder neue Räume. Auch der Zuschauerraum wird in dieses Kaleidoskop einbezogen. Zwischendurch wird er beleuchtet, etwa wenn Nathan per stiller Post einem Zuschauer in der ersten Reihe etwas ins Ohr flüstert und wenig später eine Frau weiter hinen fragt, was ihr denn geflüstert worden sei? "Erektion. Hat sie hier vor mir gesagt." Lachen.
Der Zuschauer ist jederzeit mit gemeint, sollen diese Stellen offenbar zeigen. Polizisten, Schuldirektoren, Bürgermeister– das Publikum spielt das Rollenspiel der Realität mit. Schön ist auch, wie Jan Breustedt nackt und mit "Frankfurt"-Lettern auf dem Rücken vor der Identität seiner hochstapelnden Stadt weg- und um die Bühne herumrennt. Dennoch hat die Inszenierung ein Problem: Bereits nach einer Viertelstunde hat man verstanden, wo sie hin will. Danach geht es allerdings noch zwei Stunden lang weiter. Schauspieler und Zuschauer spielen sich selbst und einander Rollen vor – ein abstruser Zerrspiegel der Realität entsteht.
"Das Ich ist die reinste Konstruktion!", will Hartmann uns offensichtlich verklickern. Das klingt ein wenig nach den Intellektualismen eines Pollesch, erinnert in seinem konstanten Beharren auf der Fiktionalität jedes Theaterabends, aber auch ein wenig an Bert Brecht. Das ständige "Nach-Vorne-Spielen" wiederum gemahnt an Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung". Das Ernsthafte, das wuchtige Ringen um das kritische Potenzial des Dramas allerdings juxt Hartmann in seiner Inszenierung weg – ganz anders als bei seiner Adaption von Dostojewskis "Dämonen". Der offiziell Unbequeme hat es seinen Zuschauern mit diesen teils unterhaltsamen, teils albernen Gogol-Improvisationen ziemlich bequem gemacht.
Der Revisor
nach Nikolai Gogol, deutsch von August Scholz
Regie/Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Komposition und Live-Musik: Steve Binetti, Dramaturgie: Michael Billenkamp.
Mit: Katharina Bach, Franziska Junge, Linda Pöppel, Jan Breustedt, Isaak Dentler, Max Mayer, Sascha Nathan, Holger Stockhaus.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
Kerstin Holm von der FAZ (22.2.2016) sah "ein Zirkusspiel von schicksallosen Solipsisten ohne Identität". Hartmanns Inszenierung bezaubere durch effektvolle Improvisation und Sprachkomik. "Der Leipziger Regisseur und Stückezerleger kredenzt hochkomische, virtuose Etüden (...)." Leider lasse er diese aber in "plattem Konzeptualismus auslaufen".
Marcus Hladek von der Frankfurter Neuen Presse (22.2.2016) findet: "Unendlicher Spieltrieb und Spielintelligenz prägen die Regie." Diese sei eine "Metaregie", die sich im permanenten Nacherzählen und Summieren, Weiterspinnen und Ersetzen ganzer Akte ausdrücke. "Stellenweise zieht sich die Kommentar-Bespaßung in die Länge, dafür nimmt sie den Zuschauer immer für voll. Selbst das Naive verschwindet nicht im Nichts, sondern wird eher ausgefällt und zieht sich in pures Spiel zurück." Hladek resümiert: "Eine erzkomische und 'lesbare' Inszenierung"
Johannes Breckner von der Allgemeinen Zeitung (22.2.2016) lobt Hartmanns "faszinierende Bühne (…), deren Versatzstücke immer neue Räume formen, mal psychedelisch poppig, dann in strenger Schwarzweiß-Geometrie." Mit der Inszenierung ist er dennoch nicht glücklich. "(I)n dem Maße, in dem die Regie Verunsicherung stiftet, geht ihr auch die dramatische Puste aus (...) Am Ende werden die Darsteller die Spielverweigerung spielen, die Ratlosigkeit des Theaters bekennen." Hartmann habe "zu einer Bitterkeit gefunden, die im Kontrast zu dem unterhaltsamen Start umso mehr verstört: beklemmender Ausgang eines sehr sehenswerten Abends."
Einen "140-minütigen pausenlosen Zeitvertreib, in dem menschenförmige Fliegen weggehauen, Wortspiele auf Lebensmittel Richtung Ewigkeit gehen, scharf geschossen wird, nein, doch nicht scharf, und Gender-Trash mit Schnurrbärtchen ausführlich dargeboten" hat Judith von Sternburg gesehen und schreibt in der Frankfurter Rundschau (22.2.2016): "Das könnte stundenlang so weitergehen, das müsste auch gar nicht erst angefangen haben, aber vieles ist ulkigerweise tatsächlich unwiderstehlich komisch, und die Schauspieler sind so possierlich und auch so nett angezogen." Alles bleibe in der Sphäre des Unwahrscheinlichen, Sinnlosen. "Im Großen und Ganzen sind es 70 Prozent Unterhaltung und 30 Prozent nüscht."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 24. April 2024 Deutscher Tanzpreis 2024 für Sasha Waltz
- 24. April 2024 O.E.-Hasse-Preis 2024 an Antonia Siems
- 23. April 2024 Darmstadt: Neuer Leiter für Schauspielsparte
- 22. April 2024 Weimar: Intendanz-Trio leitet ab 2025 das Nationaltheater
- 22. April 2024 Jens Harzer wechselt 2025 nach Berlin
- 21. April 2024 Grabbe-Förderpreis an Henriette Seier
- 17. April 2024 Autor und Regisseur René Pollesch in Berlin beigesetzt
- 17. April 2024 London: Die Sieger der Olivier Awards 2024
neueste kommentare >
-
Essay Berliner Theaterlandschaft Zwei andere Akzente
-
Essay Berliner Theaterlandschaft Zweifel
-
Neue Leitung Darmstadt Mehr als ein Versprechen!
-
Essay Berliner Theaterlandschaft Freie Radikale
-
Essay Berliner Theaterlandschaft Die Wagnisse
-
Neue Leitung Darmstadt Stabil geblieben
-
Deutschlandmärchen, Berlin Musical mit großen Gefühlen
-
Neue Leitung Darmstadt Saustark ohne Label
-
O.E.-Hasse-Preis 2024 Berichtigung
-
Bachmann an der Burg Klingt sympathisch
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
(...)
(Vielen Dank für den Hinweis, wir haben die Stelle korrigiert. Mit besten Grüßen aus der Redaktion, Christian Rakow)
Ist es beabsichtigt oder unbewusst, den Zuschauer über das Thema und die Richtung der Beurteilung in Unkenntnis zu halten? Auch ein theatergeübter und modern gerichteter Zuschauer kann mahr als einem Großteil der Aufführung nicht folgen, sei es aus akkustischen oder absichtlich herbeigeführten Geräuschgründen.
Damals zur Zeit von Gogol war selbstverständlich, verklausuliert zu schreiben, um einer Verfolgung zu entgehen. Heute muss man das Stück bis zur Grenze der Unkenntlichkeit zerfleischen, um als modern zu gelten. Was will dieser Regisseur und noch damit sagen? Das er es besser verstanden hat als Gogo? Wenn es ein zeitgenössische Interpretation sein sollte, ist die Frage gestatte: Weiß der Regisseur überhaupt, was z. B. in der Stadt Frankfurt los ist und was die Revisoren tun, bzw. die Oberrevisoren nicht tun?
Bringt der Zuschauer diese beiden Voraussetzungen mit, entwickelt sich das Stück von anfangs überraschend flachen Witzen („Google“) zu einer Vielschichtigkeit, die mindestens mit den Unterhosenschichten von Max Mayer Schritt hält. Fakt ist: Statt sich zu bemühen, Gogols Revisor chronologisch, klassisch zu erzählen, löst sich der Regisseur von der Handlung, von Personen und stellt sich stattdessen den Kernfragen des Stückes und Gogols nachträglich verfassten „Lösung des Revisor“ - und dies inszeniert er mit einem Feuerwerk an Stilmitteln und Intelligenz. Was Hartmann uns mit seiner Inszenierung präsentiert, ist keine leichte Kost. Aber für den, der sich dem anspruchsvollen Diskurs stellen möchte, wärmstens zu empfehlen. Bravo.
http://www.ardmediathek.de/radio/Andruck-Deutschlandfunk/Der-Revisor-Sebastian-Hartmann-insze/Deutschlandfunk/Audio-Podcast?documentId=33601466&bcastId=21553774
Es stellt sich mir nur die Frage, warum jemand, der im deutschen Stadttheater das von sich selbst enthusiasmierte Kleinstadtspießertum an den Schalthebeln sieht, überhaupt noch hingeht. Sich im kindlich albernen Staatskasperletheater intellektuell beleidigen zu lassen grenzt ja schon fast an Masochismus.
Und genauso staunen wir, wie eben das großen Teilen des Publikums und der Kritik so völlig entgehen kann.
Unsere Meinung zum Abend:
http://reihesiebenmitte.de/nuescht-und-alles-und-alles-und-nuescht-sebi-hartmanns-revisor-am-schauspiel-frankfurt/
Das Frankfurter Schauspiel ist für uns, die relativ neu in Frankfurt sind, mit dieser Inszenierung (zuvor haben wir die 2. allgemeine Verunsicherung gesehen und davor Peter Pan) ungenießbar. Vielleicht sollten die Veranstalter zukünftig einen Hinweis geben, dass die aufgeführten Stücke nur für Zuschauer mit ausgeprägter Hörminderung, Wunsch nach Experimentierstunden und Freude am Exhibitionismus geeignet sind.
ich war nicht zu 100% begeistert, aber mag allemal eine derartige dekonsrtuktion und Auseinandersetzung des stückes, mit dem stück, welches mmm gar nicht allzuviel hergibt, wenn wir es uns auf dem Blatt betrachten…