Frieden? Wie langweilig!

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 20. Februar 2016. Eine Paraderolle für Astrid Meyerfeldt: die Klytaimnestra. Erschreckend, wie sie im Streit plötzlich auf ihre Tochter Elektra zuschießt wie eine Klapperschlange, scharfe Zischgeräusche durch ihre Zahnlücke presst und daraus eine pudrige Wolke aus feinsten Spucketröpfchen erwächst, die ihr nunmehr vorauseilt. Grandios wie sie – zierlich, in schwarzen Gummistiefeln, das rote Kleid geschürzt, mit blutverschmiertem, schwerem Hackebeil, das sie kaum tragen kann – die Plastik-Leichensäcke ihres Gatten Agamemnon und seiner trojanischen Geisel Kassandra auf die Bühne schleift und triumphierend deklamiert: "Meisterlich gelang das Werk!" Aber hallo. Daran zweifelt niemand in diesem Augenblick.

Es sind die Brüche im Charakter und im Verhalten ihrer Rolle, die Meyerfeldt mit tausenden farblichen Tönungen in der Stimme verständlich zu machen in der Lage ist. Sie kann vom arrogant-pathetischen Deklamieren blitzschnell umswitchen in den Modus der Alltagsprache, sekündlich umschalten von vor Hass schier zerplatzendem Zorn zu nölendem Selbstmitleid, von herablassendem Allesschonwissen zu todesängstlichem Grauen vor den eigenen Träumen. Und jeder Bruch, sei er noch so hart, gelingt ihr wie selbstverständlich, weil sie mit der Seele ihrer Rolle verschmolzen ist. Plastischer, lebendiger kann man die Klytaimnestra in ihrer Machtgeilheit, ihrem Irrsinn, ihrer Einsamkeit und ihren ob echten oder gespielten Muttergefühlen – das lässt Meyerfeldt virtuos in der Schwebe – nicht darstellen.

Zeitlose Verquickung von Macht, Sex und Gewalt

Ein Triumph für sie ist dieser Theaterabend im Stuttgarter Schauspielhaus, wo Stephan Kimmig "Orest. Elektra. Frauen von Troja" – John von Düffels Mix aus antiken Dramen von Euripides, Sophokles und Aischylos – inszeniert hat: eine Synthese der Vorlagen, die das Familiendrama um Klytaimnestra, Agamemnon und ihre vier Kinder in den Mittelpunkt stellt und komplettiert durch seine Vorgeschichte: Den Sieg der Griechen über Troja, aus dem die trojanische Königin Hekabe als Sklavin hervorgeht wie auch ihre Tochter Kassandra, die das kommende Unheil voraussieht.

Orest3 560 Conny Mirbach uTragische Figuren in wüster Landschaft: Astrid Meyerfeldt, Svenja Liesau © Conny Mirbach

Aus der grauenhaften Geschichte der Tantaliden, dieser nicht enden wollenden blutigen Verquickung von Macht, Sexualität und Gewalt, starrt uns die eigene Gegenwart entgegen. Und wie zeitgenössisch klingt Aigisthos' Ausspruch: "Nach Agamemnons kriegerischer Herrschaft folg ich als Friedenskönig nach, und leicht hält man für Schwäche, dass ich Versöhnung kaufe, wo er Krieg geführt. Doch Handel dient dem Wohl des Volkes mehr als die Gewalt der Waffen."

Selber schuld

Gespielt wird in Stuttgart auf leerer, oktagonförmiger Spielfläche, gerahmt von amphitheatralen Rudimenten. In der Mitte ein riesiger Pfahl mit Tau-Gehängen, der funktionslos bleibt. John von Düffels Bearbeitung verzichtet auf den antiken Chor. Die Figuren sind als Individuen Teil eines Psychodramas. Den grausigen Fluch, der auf dem Geschlecht der Tantaliden lastet, kann man hier getrost vergessen. Es sind die Menschen selbst, die für das Unheil sorgen.

Dass die Meyerfeldt alle an die Wand spielt, liegt nicht etwa an Schwächen ihrer vier Kolleginnen (Kimmig hat sämtliche Rollen mit Frauen besetzt). Anja Schneider spielt Elektra befeuert vom unendlichen Hass auf die Mutter, die ihr den Vater nahm. Gequält von den Komplexen eines stets zurückgewiesenen Kindes stachelt sie Orest auf zur Massakrierung der Mutter. Weswegen sie es ist, die nach dem Muttermord mit blutigen Händen dasteht, und nicht Orest. Svenja Liesau als Kassandra elektrisiert als sprachgestörtes, tick-geplagtes Nervenbündel. Und Birgit Unterweger tänzelt in Stilettos virtuos zwischen ihren Figuren der schönen Helena und des Aigisthos hin und her.

Meucheln auf Autopilot

Nein, es ist vielmehr Kimmigs Regie zu verantworten, die Meyerfeldts Grandiosität zu wenig entgegenzusetzen hat. Meist folgt seine Personenführung dem Prinzip des publikumszugewandten Rampen-Stehtheaters: Gut und schön gesprochen, körperlich starr. Da ist es schon richtig befreiend, wenn die Geschwister Elektra und Orest, als sie sich nach Jahren wiedersehen, auf der Bühne herumtollen wie die kleinen Kinder.

Als dann Klytaimnestra gemeuchelt ist, droht der Abend abzusacken in Belanglosigkeit. Wäre nicht Sandra Gerling als Orest: fieber-zitternd, sabbernd, hin und her gerissen zwischen den mordbrennenden Suaden der Schwester und dem eigenen müden Fatalismus. Orest führt seinen Amoklauf weiter, ohne ihn eigentlich wirklich noch zu wollen. Spätestens jetzt wird klar, dass mit dieser Personage Frieden nicht zu machen ist – das Morden geht weiter. Auf Wiedersehen im Jenseits!

Orest. Elektra. Frauen von Troja
nach Euripides, Sophokles und Aischylos in einer Bearbeitung von John von Düffel
Stuttgarter Fassung von Stephan Kimmig
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Michael Verhovec, Dramaturgie: Carmen Wolfram.
Mit: Sandra Gerling, Svenja Liesau, Astrid Meyerfeldt, Anja Schneider, Birgit Unterweger.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Martin Halter sah für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.2.2016) "vier klassische Tragödien zum Preis von einer". Ganz begeistert hat ihn Kimmig dennoch nicht: "aber das ekstatisch wilde Jammern und Schlachten lässt kalt.", weil auf der Bühne der Spagat "zischen der Wut und Wucht der Vorlagen und einer zeitgemäßeren Logik der Leidenschaften" regelmäßig "misslingt".

Roland Müller von der Stuttgarter Zeitung (22.2.2016) hält die "nicht sehr aufregende Botschaft", dass auch Frauen böse sein können noch für das Originellste "in dieser sehr unoriginellen Inszenierung". Die "Supertragödie" verkomme zur "Spartragödie“, "denn dass Gewalt nur Gewalt erzeugt und jeder Gewalttäter seiner eigenen Wahrheit folgt, wusste man auch schon zuvor."

Otto Paul Burkhardt von der Südwestpresse (22.2.2016) wundert sich über die Zurückhaltung der Inszenierung. Nach einem  Videoeinspieler, werde "nur noch" Theater gespielt, kein Video, kein Regie-Gag, nichts. Aber wie!" Kimmigs Regiesprache sei "karg, sparsam, punktgenau und dennoch fesselnd, berührend, beklemmend".

"Eine viele Interpretationen bietende Bühne zum Schwindeligschauen" hat Nicole Golombek im Schauspiel Stuttgart gesehen und schreibt in den Stuttgarter Nachrichten (22.2.2016): "Doch auch wenn die Bühne Bewegung suggeriert, regiert der absolute Stillstand." Hier werde nur noch Leid verhandelt. "Die Bühne wird zum Ort der Klage, der Anklage, der Rache", Stephan Kimmig konzentriere sich, "seit Jahrzehnten psychologische Tiefen auslotend und gerne Frauenschicksale ins Zentrum stellend", auch hier auf den Opferdiskurs. Die Besetzung aller Rollen mit Frauen suggeriere eine vaterlose Gesellschaft: "Troerinnen werden Sklavinnen der Sieger, Klytemnestras Kinder müssen ohne Vater klarkommen." Trotz der Abwesenheit der Männer akzeptierten sie deren Macho-Werte – eine allerdings nicht: "Ihre Frau steht nur sie: Klytemnestra. Überragend an diesem dreistündigen Abend ist Astrid Meyerfeldt." Stets wirke sie "wie eine Frau, die genau die Machtstrukturen erkennt, Distanz und Selbstironie entwickelt – und handelt", so Golombek und zieht das Gesamt-Fazit: "Alles ist möglich. Denn abgründig, unfassbar ist der Mensch, sagt Stephan Kimmig. Neu ist die Erkenntnis nicht, aber in ihrer wütenden Wucht eindrucksvoll präsentiert."

Für Adrienne Braun sorgen die Mehrfachbesetzungen "mitunter für Konfusion, etwa wenn Astrid Meyerfeldt, eben noch Hekabe, die ihr Schicksal nach dem verlorenen Krieg um Troja beklagt, nun plötzlich Klytaimnestra ist". "Während John von Düffel den mythischen Stoff so flüssig wie schlüssig aufbereitet hat, tut die Regie alles, um das Textverständnis zu erschweren und den Fokus weg vom Wort auf das Spiel zu lenken", schreibt Braun in der Süddeutschen Zeitung (24.2.2016). "Als könne man Hass auf dem Theater nur lautstark zum Ausdruck bringen, lässt Kimmig die Figuren brüllen, schreien, geifern, toben bis der Schaum aus dem Mund quillt und die Spucke trieft." Nur Astrid Meyerfeldt widersetze sich weitgehend diesem Regiediktat, artikuliere pointiert und inhaltlich "und ist in den Sätzen hörbar zu Hause". Manche Szene möge gelingen – "etwa, wenn Orest (Sandra Gerling) und Elektra (Anja Schneider) sich erkennen und freudig wie junge Hunde balgen". Aber letztlich könne Stephan Kimmig nicht vermitteln, was ihn an diesem Stoff interessiert.

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