Entwarnung!

von Michael Laages

Hamburg, 25. Februar 2016. Was ist denn hier los? Droht Gefahr für Leben, Leib und geistige Gesundheit? Als gehörten sie zum Sicherheitsdienst der Kampnagelfabrik und als stünden absehbar Klagen ins Haus, zeigt das Programmzettel verteilende Personal jedem und jeder den fettgedruckten Satz auf dem Faltzettel – gleich unter dem Titel steht: "Der Text enthält Beschreibungen psychischer und sexueller Gewalt!" Donnerwetter. Und der Ansager im Haus weist mehrfach auf das drohende Übel hin, und obendrein auf den Stroboskop-Einsatz. Sollte irgendwann mal jemand Shakespeares "Titus Andronicus" auf Kampnagel zeigen wollen oder ein Stück von Sarah Kane, wird wahrscheinlich eine kleine Krankenwagen-Brigade oder ein mobiles Krankenhaus vor dem Theater parken ...

Lächerliche Publikums-Fürsorge

Und all der Aufwand wird um "Endless Hospitality" betrieben – das ist besonders lächerlich. Der Text der mittlerweile aus Iran geflüchteten Autorin Afsane Ehsandar spricht zwar explizit vom Horror, den Geflüchtete durchleiden, und auch von Psycho-Terror und Vergewaltigung ist die Rede; aber bestenfalls in Spuren-Elementen. Und wenn's mal ganz schlimm werden könnte, kommt der Text vom Band, und das Band läuft rückwärts. Wenn nicht die "Performer" eh schon schwer verständlich blieben ... Rundum also sei Entwarnung gegeben. Auch das Stroboskop agiert etwa so bedrohlich wie das Flackern eines Polizei-Blaulichts – nur viel langsamer.

Endless1 560 JonasFischer uWeich gebetteter Schock: Die Performer von "Endless Hospitality" in Kissen-Action
© Jonas Fischer

Doch – Theater kann sich lächerlich machen mit derlei Fürsorge. In London sollen gerade ein paar Besucher einer Voraufführung von Sarah Kanes "Cleansed" ohnmächtig geworden sein ... fast zwanzig Jahre nach der Uraufführung. Nochmal: Donnerwetter.

Gespiegeltes Nicht-Verstehen

Von derlei Schnickschnack darf, ja, muss berichtet werden, weil von Ehsandars Stück selber nicht gar so viel zu berichten ist. Sechs Personen bewegen sich zunächst eher ziellos choreographiert durch die kleine Kampnagel-Halle. Hinten steht ein leerer Käfig; einer der fünf richtet sich dort ein. Die anderen vier bewegen zuweilen Berge riesiger Kissen hin und her, bevor sie sie alle zu Nummer 5 in den Käfig pressen. Sie probieren Körper-Positionen aus, mal allein, mal miteinander, sie treten gelegentlich sogar in spielerische Beziehung zueinander. Pass-Kontrolle spielen sie an der Grenze zur "Festung Europa": hier der beispielhaft böse Kontrolleur, der alle erstmal grob duzt, dort die Eindringlinge, mit falschen oder echten Pässen, und alle verzweifelt, irgendwie. Später läuft links in der Szene eine Text-Schrift durch. Spricht das Quartett diesen Text, der zeitweilig tatsächlich zu erzählen scheint von Terror und Gewalt bei der Flucht? Einzelne Sätze sind wiedererkennbar, ja; aber die Projektion ist so schlecht, dass wir den Text wohl auch gar nicht mitlesen sollen.

Ob überhaupt etwas zu "verstehen" ist? Oder ob die ganze Veranstaltung nur unser aller Nicht-Verstehen spiegeln soll?

Perfide, fahrlässig, aber konsequent

Rechts am Rand schrummeln dazu Flöte und Gitarre. Am Ende steigt der zu Beginn hinter Gittern endgelagerte Performer aus dem Käfig hervor und versucht einen Schirm aufzuspannen. Ein Kollege rollt sich derweil in einen Schlafsack, noch einer lässt zwei Scheinwerfer an Seilen über der Szene pendeln. Dann werden wieder alle Requisiten hinter Gitter gestopft und der Käfig umgekippt.
Alles klar?

Vielleicht hätten wir den zweiten Satz vom Beginn und am Mikrophon etwas ernster nehmen müssen. Da hieß es: In der gegenwärtigen Krise stößt das europäische Theater an seine Grenzen, und das sei gut so. Stimmt. Der Abend ist ein recht drastischer Beweis dieser These. Allerdings sucht sich die Veranstaltung auch exakt dieses allgegenwärtige Thema, um zu zeigen, dass es wenig bis nichts dazu zu sagen hat. Das ist ein bisschen perfide und ziemlich fahrlässig. Aber konsequent, immerhin – das Team stellt sich zum Schluss absichtsvoll nicht dem Applaus. Aber der tröpfelt auch nur.

Das Kampnagel-Team aber sei beruhigt – all das ist vor allem völlig ungefährlich. Vielleicht ja "krass" – der Titel des Kampnagel-Festivals, das "Endless Hospitality" eröffnen half, benennt ja schließlich auch nichts wirklich Konkretes oder gar akute Gefahr. Also gut: krass – aber war da sonst noch was?

 

Endless Hospitality
von Afsane Ehsandar (Text) und Philip Bamgarten (Choreographie & Regie)
Bühne: Hanna Lenz, Kostüme: Clarissa Freiberg, Musik: Kristof Gundelfinger & Mira Kempf, Dramaturgie: Juliane Löffler.
Mit: Pouya Araston, Antoine Effroy, Maike Nöller, Leon Ullrich und Gilles Welinski.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.kampnagel.de



Kritikenrundschau

Das Hamburger Abendblatt (27.2.2016) hat Flüchtlingsreporterin Sahar Raza zum Auftakt des "Krass"-Festivals geschickt, die sehr direkt berichtet: "Der Abend hat mich berührt, er hat mir gut gefallen. Und ich habe zum ersten Mal einen nackten Mann auf der Bühne gesehen." Die Reporterin bescheinigt dem Abend Authentizität: "Was auf der Bühne gespielt wurde, war genauso traurig, wahr und schrecklich wie das, was ich erlebt habe – und was sich in meinem Leben nie wiederholen soll. Das Stück hat meine Geschichte und die aller Menschen aufgegriffen, die sich entschieden haben, ihre Heimat zu verlassen und einen gefährlichen Weg auf sich zu nehmen in ein Land, in dem sie sich Schutz und Respekt erhoffen."

 

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