Gib mir deinen Unterleib!

von Tim Slagman

München, 3. März 2016. Vielleicht werden sich die Menschen eines Tages fragen, so heißt es am Ende aus dem Munde einer 16-Jährigen, warum wir Heutigen versucht haben, die Sexualität dem Dunkel zu entreißen und keine Worte für sie finden konnten. Tatsächlich ist die erste Inszenierung der Performance-Truppe She She Pop an den Münchner Kammerspielen, wie ihr Untertitel sagt, vor allem ein "Bilderbogen nach Wedekinds 'Frühlings Erwachen'" geworden, angereichert mit Motiven aus E.L. James' Sadomaso-Roman "50 Shades of Grey" und mit – im Vergleich zu früheren Arbeiten wie Testament oder Frühlingsopfer allerdings deutlich reduzierten – biographischen Bruchstücken zur Aneignung und Umwandlung dieser literarischen Texte.

Die Worte, die so verzweifelt gesucht werden für das, was der eigene Körper darstellt, was mit ihm anzustellen wäre und was die anderen womöglich vielleicht ganz eventuell davon halten mögen, verflüchtigen sich im Moment ihrer scheinbaren Auffindung schon wieder in einem anarchischen Puzzlespiel, einer wilden Rekombination von Leibern und ihren Verhüllungen, von Frauenköpfen auf Männerkörpern und umgekehrt, von gespreizten Fingern als Beinen oder Vulva, von Torsi, die aus Torsi wachsen. Sebastian Bark vertritt gemeinsam mit Lisa Lucassen und Berit Stumpf das Kollektiv She She Pop, und sie vermischen ihre Glieder und Häupter und Gedanken mit denen von Kammerspiele-Schauspielern und denen des, so wird sie vorgestellt, "echten Teenagers" Lilli Biedermann.

Kombi-Performer lösen Geschlechterrollen auf

Eine Anordnung wiederholt sich dabei regelmäßig: Rechts steht der Prediger oder Lehrer an einem Pult, links die/der Unterwiesene, wobei sich auch diese Rollen bisweilen auflösen in den szenischen Miniaturen, die hier Lektionen genannt werden und die aus Wedekind oder James oder den – wahren oder unwahren – Erinnerungen der Performer gewonnen sind. In der Mitte ragen zwei schwarze Leinwände in die Höhe, auf denen Aufnahmen von mehreren Kameras erscheinen, vor denen die anderen Darsteller posieren. Teile ihrer Körper sind dabei schwarz abgedeckt und somit auf den Leinwänden unsichtbar. Die so erhaltenen Fragmente schichten sich zunächst scheibchenweise übereinander wie bei einem Drehspielzeug: Anna Drexler, die in einer Lektion eine weibliche Variante des dominanten Christian Grey darstellt, liefert da etwa den Kopf für Hemd, Krawatte und Hose von Christian Löber. Bald wirbeln Kleider über Männerbäuche, Herrenköpfe stehen auf nackten Brüsten – ein Durcheinander entsteht, eine Auflösung von Geschlechterrollen und Scheingewissheiten, so simpel wie eindrucksvoll, so witzig wie effektiv.

50GradesOfShame1 560 Judith Buss uMenschen als Projektionsflächen: Christian Löber, Walter Hess, Florian Schäfer © Judith Buss

Und dann kippen die Perspektiven, und die Proportionen und Körperteile projizieren sich in- und aufeinander, mal monströs, wenn Walter Hessens Kopf aus einem Unterleib erwächst, dann wieder bizarr utopisch, wenn die ineinander gesteckten Oberkörper von Berit Stumpf und Sebastian Bark einander liebkosen. Santiago Blaum, am Bühnenrand platziert, lässt ein musikalisches Crescendo anschwellen, das dumpf und schrill zugleich klingt; ein lustvolles Inferno, während Lilli Biedermann aus der Masturbationsszene von Wedekinds Hänschen Rilow liest, der wiederum eifrig den "Othello" zitiert.

Utopie einer selbstbestimmten Sexualität?

War da nicht etwas mit Schuld und Opfer? Und sollte es nicht um Scham gehen und um sexuelle Erfahrung und Erziehung? All dies liegt begraben unter dem Effekt des Bilderbogens, der so gar nichts Schamhaftes hat – alleine tragen kann er die gut eineinhalbstündige Performance aber auch nicht, dafür ist sein ästhetisch-ideologiekritisches Konzept bei aller Turbulenz zu schnell entschlüsselt. Wenn diese Bildermaschine jedoch zur Ruhe kommt und die Performance zu Worten kommen müsste, wenn die Erwachsenen etwa gemeinsam den ungelenken Ablauf eines Geschlechtsaktes beschreiben, dann versinken sie in recht beliebigem Witz, der mit Sprachlosigkeit gerade nicht zu verwechseln ist.

Sicher, es gäbe einiges zu entdecken in den Lektionen: Berit Stumpf schlägt vor, in dem Vertrag, den Christian Grey mit seiner zu unterwerfenden Partner Anastasia Steele aushandelt, die Utopie einer selbstbestimmen und liebesfreien Sexualität zu sehen. Das alles könnte, wenn es denn durchdränge, einen Diskurs stiften oder viele Diskurse, aber natürlich dringt es nicht durch – auch, weil diese frei flottierenden Diskursfetzen kein Zentrum haben. Der Abend zeigt bei allem Humor auf beinahe beklemmende Weise, wie das Bild das Wort auflösen kann und die Körper den Gedanken.

50 Grades of Shame
von She She Pop
Inszenierung: She She Pop, Bühne: Sandra Fox, Kostüme: Lea Sövsö, Musik: Santiago Blaum, Video: Benjamin Krieg, Licht: Andreas Rehfeld, Dramaturgie: Tarun Kade, Künstlerische Assistenz: Ruschka Steininger.
Mit: Sebastian Bark, Lisa Lucassen, Berit Stumpf, Walter Hess, Anna Drexler, Gundars Āboliņš, Christian Löber, Florian Schäfer, Lilli Biedermann.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

 

Kritikenrundschau

Bernd Noack von Spiegel-Online (Aufgerufen am 5.3.2016) ist enttäuscht: "Ein unterhaltsam provozierender Diskurs über den rechten Sinn von Scham und den falschen Stolz auf Schamlosigkeit hätte das wohl werden sollen und stellte sich dann doch als – wie man hier im Süden sagt – eher g'schamiges Allerlei heraus." She She Pop plädiere für einen selbstbewussten, selbstbestimmten und - wenn es sein müsse - selbstbefriedigenden Umgang mit dem eigenen Körper und der Sexualität in jedem Alter. "Nur klingt das von der Bühne herab mal wie eine satirische Donnerpredigt, mal putzig wie in der Sesamstraße". Die Erkenntnis des Abends sei: "Sex wird völlig überbewertet." Noack findet, das sei "keine ganz neue Erkenntnis".

Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (5.3.2016) schreibt: "(W)as die vier weiblichen und vier männlichen Körperforscher da (...) hübsch schulmeisterlich und in Workshop-gruppendynamischer Cross-Gender-Verteilung auf die Bühne bringen, ist derart brav und unsinnlich und so ohne jede Not, dass man ihnen am liebsten ein Blümchen schenken möchte (für den entsprechenden Sex)." Von echter Scham wisse der Abend nichts zu erzählen. Zudem ende er "mit einem derart naiv-utopistischen, weltumarmenden Totentanz-Gehopse, dass man ihm spätestens da die Kammerspiele-Reife absprechen muss".

K. Erik Franzen von der Frankfurter Rundschau (7.3.2016) hat einen "überwältigend(en)" Abend erlebt, "ein flirrendes Spektakel" und ein "ein Fest der Aufklärung: an und in der ewigen Auseinandersetzung zwischen dem eigenen Körper und den Normierungs-Ansprüchen der anderen". Dieses Panoptikum der Körper-Wechselbilder erschüttere, mache Angst, bringe einen zum Staunen und Lachen. "Brüche und Abgründe unserer Schamwelten werden ausgestellt – und verstärkt durch die peinlich-trashigen Kostümanordnungen (Lea Søvsø)." Auf diesem irrsinnigen Laufsteg unserer Gefühle  entstehe ein großartiger, humorvoller Dada-Reigen "gegen den Wahnsinn der rigiden Körperansprüche und der Selbstoptimierung".

 

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